„Die Menschen in der Ukraine brauchen uns!“: So lief Steinmeiers Besuch in Kiew
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Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wartet nach einem Luftalarm im Luftschutzbunker und spricht mit Bewohnern der Stadt und lässt sich ihre Erfahrungen erzählen.
© Quelle: Michael Kappeler/dpa
Berlin/Kiew. Der Krieg macht keine Pause, auch für einen Staatsbesuch nicht. Allein bis zum Vormittag wird zweimal Luftalarm ausgerufen für die Städte, die der deutsche Bundespräsident bei seinem unangekündigten Besuch in der Ukraine an diesem Dienstag bereist: einmal in Kiew, nur Stunden nach Frank-Walter Steinmeiers frühmorgendlichem Eintreffen per Bahn; später, kurz nachdem er mittags im Städtchen Korjukiwka nordöstlich der Hauptstadt ankommt.
Das Gespräch mit Bewohnern und Lokalpolitikern muss im Luftschutzkeller stattfinden. Nahezu täglich gebe es Fliegeralarm, erzählen sie dem Staatsgast, er versichert die anhaltende Solidarität Deutschlands mit der Ukraine.
Bundespräsident Steinmeier überraschend zu Besuch in der Ukraine
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist am Dienstagmorgen mit dem Zug in der ukrainischen Hauptstadt eingetroffen.
© Quelle: Reuters
Es ist das erste Mal seit dem russischen Überfall, dass der Bundespräsident das Land besucht – aber keineswegs das erste Mal überhaupt. Im Gegenteil: Kein anderes Land hat seine Arbeit nach 2014 so geprägt, hatte Steinmeier schon im Frühjahr gesagt, und tatsächlich verbindet ihn seit seiner Zeit als Außenminister eine lange, wechselvolle Geschichte mit der Ukraine.
Allein dieser Besuch im Kriegsgebiet brauchte drei Anläufe, wobei lediglich einer davon – am vorigen Donnerstag – an Sicherheitsbedenken deutscher Behörden scheiterte. Vorher hatte es auch schon heftige diplomatische Verstimmungen mit der ukrainischen Regierung um Präsident Wolodymyr Selenskyj gegeben, nachdem Kiew Steinmeier im April regelrecht ausgeladen hatte. Die Irritationen sind inzwischen ausgeräumt, auch durch Telefonate zwischen den Präsidenten und eine Versetzung des langjährigen Botschafters Andrij Melnyk. Aber Steinmeiers lange Geschichte mit der Ukraine bleibt, und sie bleibt komplex.
„Gerade jetzt ein Zeichen der Solidarität“
„Mir war es wichtig, gerade jetzt in dieser Phase der Luftangriffe mit Drohnen, Marschflugkörpern und Raketen ein Zeichen der Solidarität zu senden“, sagt Steinmeier den wenigen mitgereisten oder vor Ort arbeitenden Journalisten, als er am frühen Dienstagmorgen aus dem Nachtzug ins finstere Kiew steigt. Die deutschen Vertreter vor Ort waren der Meinung, die Lage auf ausgewählten Routen und mit verkleinerter Delegation sei sicher genug. Inzwischen werden die meisten russischen Raketen und Drohnen, die Kiew angreifen, vom ukrainischen Militär abgeschossen, ehe sie Schaden anrichten.
Im Moment ist nach dem starken Beschuss der vergangenen Wochen etwas Ruhe eingekehrt – laut US-Experten wegen russischen Munitionsmangels –, doch in den Tagen davor hatte Russland aus der Luft immer wieder die Strom- und Wärmeversorgung schwer beschädigt. Vielen Ukrainern droht ein eisiger und dunkler Winter.
„Ich schaue wie viele Deutsche voller Bewunderung auf die Menschen hier in der Ukraine“, sagt der Bundespräsident deshalb, „auf ihren Mut, auf ihre Unbeugsamkeit, die sie zeigen nicht nur an der Front, sondern auch in den Städten, die beschossen werden, und auch im ländlichen Raum.“
Bevor es an diesem Dienstagabend endlich zu dem monatelang erwarteten Treffen Steinmeiers mit Selenskyj kommt, will sich der Bundespräsident ein eigenes Bild vom Kampfgebiet machen, mit der Zivilbevölkerung reden. Bei dem Gespräch im Luftschutzkeller etwa erzählt eine Frau aus Korjukiwka unter Tränen vom Kriegsbeginn am 24. Februar, eine andere von ihrem Mann, der gegen die Russen kämpft: „Mein Mann ist an der Front, an der heißesten Front.“
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Das nordukrainische Städtchen nahe der belarussischen Grenze hat Steinmeier aus vielerlei Gründen für den Besuch gewählt. Der wichtigste: Zu Kriegsbeginn war Korjukiwka von russischen Truppen besetzt, konnte sich befreien, kämpft aber nun mit zerstörter Infrastruktur und Versorgungsengpässen. Steinmeier übergibt deshalb auch Hilfsgüter für den Winter.
Hinzu kommt, dass er den Ort kennt: Im Oktober 2021, knapp fünf Monate vor dem Krieg, hat Steinmeier hier des Massakers gedacht, das die Wehrmacht 1943 an der Zivilbevölkerung verübte. Er hielt Kontakt zum Bürgermeister, das heutige Treffen ist ein Wiedersehen.
In Kiew umstrittene „Steinmeier-Formel“
Überhaupt ist Steinmeier seit seiner Zeit als Außenminister eng mit der Ukraine verbunden: Im Februar 2014 wurde ihm zugeschrieben, hier einen Bürgerkrieg abgewendet zu haben, weil er die prorussische Janukowitsch-Regierung und die Maidan-Opposition wieder an einen Tisch brachte; ein Jahr später wirkte er am Minsker Abkommen zwischen Ukraine und Russland mit, das die Kämpfe im Osten des Landes beenden sollte – und als die Umsetzung und die Waffenruhen stockten, ersann er einen Weg zur Deeskalation, indem er auch Russland gegenüber Zugeständnisse vorschlug: die „Steinmeier-Formel“.
Sie scheiterte zunächst, aber als Selenskyj sie nach seinem Wahlsieg erneut ins Spiel brachte, demonstrierten dagegen Tausende ukrainische Nationalisten. Spätestens seitdem ist der Umgang mit Steinmeier in Kiew heikel. So erklärt sich auch die Ausladungsepisode vom Frühjahr. Der Bundespräsident selbst räumte danach frühere Fehleinschätzungen im Umgang mit Russland ein, als Vermittler scheidet er inzwischen aus.
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Seine erste Kiew-Reise in Kriegszeiten nutzt Steinmeier auch für einen Appell an seine Landsleute, die daheim gerade viel über Gaspreisdeckel, kalte Wohnungen und einen heißen Herbst sprechen: „Vergessen wir nicht, was dieser Krieg für die Menschen hier in der Ukraine bedeutet, wie viel Leid, wie viel Zerstörung herrscht“, mahnt er.
„Die Menschen in der Ukraine brauchen uns.“ Er verspricht, die Bundesrepublik werde sie „auch weiterhin unterstützen – wirtschaftlich, politisch und auch militärisch“, so Steinmeier. Schon jetzt ist die Bundesrepublik für die ukrainische Luftabwehr der führende militärische Ausrüster, betont das Bundespräsidialamt anlässlich der Reise.
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Auch Vitali Klitschko (links), den Bürgermeister von Kiew, trifft Steinmeier in Kiew, um sich die Folgen der jüngsten russischen Angriffe in der Hauptstadt anzusehen.
© Quelle: Michael Kappeler/dpa
Doch Steinmeier will noch einen anderen Akzent setzen, auch beim Termin mit Selenskyj: Neben militärischer Hilfe müsse es schon jetzt um den Wiederaufbau gehen – schon allein, damit die Menschen in den zerstörten Städten den Winter überstehen. Zeitgleich zur Reise des Bundespräsidenten findet in Berlin eine Expertenkonferenz dazu statt, zu der auch der ukrainische Ministerpräsident Schmyhal anreist.
Weil aber die zivile Hilfe und die deutsche Unterstützung beim Wiederaufbau nicht zuletzt über Städtepartnerschaften und kommunale Kontakte sowie über Bürgerinitiativen und Vereine umgesetzt werden, wollen die beiden Präsidenten solche Verbindungen verstärken.
Aufruf zu neuen Städtepartnerschaften
Gemeinsam erklären sich Steinmeier und Selenskyj zu Schirmherren über das Deutsch-Ukrainische Städtepartnerschaftsnetzwerk und rufen Städte und Gemeinden in beiden Ländern auf, neue Partnerschaften zu bilden. „Sie sind ein entscheidender Kanal für effektive, konkrete Hilfe und Solidarität vor Ort“, erklärt Steinmeier.
Schon jetzt umfasst das Netzwerk 107 solcher Verbindungen. Eine weitere hat der Bundespräsident persönlich angebahnt: Nachdem ihm der Bürgermeister von Korjukiwka vor einem Jahr vom Wunsch nach einer Städtepartnerschaft mit Deutschland erzählt hatte, hatte Steinmeier den Kontakt mit der Stadt Waldkirch im Breisgau hergestellt. Damit sind seit Kriegsbeginn 35 deutsch-ukrainische Partnerschaften neu hinzugekommen.
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Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (l.) verabschiedet sich von Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine.
© Quelle: Michael Kappeler/dpa
Selenskyj dankt Deutschland bei dem Treffen zudem für die Unterstützung seines von Russland angegriffenen Landes. Damit trage die Bundesrepublik zum Frieden in der Ukraine bei. Dies sei „groß und historisch wichtig“. Selenskyj erwähnt insbesondere die Lieferung des Flugabwehrsystems Iris-T aus Deutschland. Er hoffe, dass davon weitere Systeme kommen werden. Dies habe für sein Land „wirklich Priorität“.
Steinmeier betont, er habe gerade angesichts der „niederträchtigen Angriffe“ Russlands in die Ukraine kommen wollen. Er versicherte den Ukrainerinnen und Ukrainern: „Wir sind auf eurer Seite. Wir unterstützen euch. Wir werden euch weiter unterstützen.“ Dies gelte wirtschaftlich, politisch und auch militärisch, und zwar so lange, wie es notwendig sei. Er bewundere die Menschen in der Ukraine „für den Mut, für die Unbeugsamkeit, für die Tapferkeit“ angesichts des russischen Angriffskrieges.