Steinmeier: Deutschlands Krieg gegen die Sowjetunion war „mörderische Barbarei“
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Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eröffnet anlässlich des 80. Jahrestags des Überfalls Deutschlands auf die Sowjetunion die Ausstellung „Dimensionen eines Verbrechens“ im Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst.
© Quelle: Jörg Carstensen/dpa
Berlin. Der 19-jährige Panzergrenadier Boris Popov liegt am 22. Juni 1941, wenige Kilometer von Minsk entfernt, mit seinen Kameraden im Gras und sonnt sich. Es ist ein strahlender Sonntag, der zu einer Fahrt ins Grüne einlädt oder zum Beerensammeln. Doch der Schein trügt. Dieser Tag bringt großes Unheil über Boris Popov und Millionen andere Menschen in der Sowjetunion.
5,7 Millionen Gefangene aus der Roten Armee – über drei Millionen Tote
Popovs Schicksal taugt nicht zum Heldenepos, zieht sich aber dennoch wie ein roter Faden durch Frank-Walter Steinmeiers Rede. Popov ist einer von 5,7 Millionen Angehörigen der Roten Armee, die während des Zweiten Weltkriegs von der Wehrmacht gefangen genommen wurden. Über drei Millionen von ihnen überlebten diese Gefangenschaft nicht.
Ihnen ist die Ausstellung „Dimensionen eines Verbrechens. Sowjetische Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg“ gewidmet, die am Freitag vom Bundespräsidenten eröffnet worden ist. Im ehemaligen Offizierskasino der Wehrmacht in Berlin-Karlshorst, das nach Kriegsende der Roten Armee als Hauptsitz diente und heute Museum ist, hielt Steinmeier die zentrale Gedenkrede zum 80. Jahrestag des Überfalls von Nazi-Deutschland auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941.
Steinmeier: Krieg gegen die Sowjetunion war eine „mörderische Barbarei“
Dort, wo die Generalität der deutschen Wehrmacht am Ende des Zweiten Weltkriegs in der Nacht vom 8. zum 9. Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation unterzeichnete, sprach der Bundespräsident am Freitag Klartext: „Der deutsche Krieg gegen die Sowjetunion war eine mörderische Barbarei.“ Was am 22. Juni 1941 begann, sei die Entfesselung von Hass und Gewalt, die Radikalisierung eines Krieges hin zum Wahn totaler Vernichtung gewesen. Vom ersten Tag an sei dieser Krieg getrieben gewesen von Antisemitismus, Antibolschewismus, von Rassenwahn gegen die slawischen und asiatischen Völker der Sowjetunion.
Die Verbrechen, die von Deutschen in diesem Krieg begangen wurden, lasten auf uns.
Frank-Walter Steinmeier,
Bundespräsident
Steinmeier erinnerte daran, dass die Sowjetunion mit 27 Millionen Toten die Hauptlast des Zweiten Weltkrieges zu tragen hatte. 27 Millionen Menschen, die „das nationalsozialistische Deutschland getötet, ermordet, erschlagen, verhungern lassen, durch Zwangsarbeit zu Tode gebracht“ habe. Mit Blick auf die deutsche Erinnerungskultur mahnte der Bundespräsident, diese Millionen seien nicht so tief in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt, „wie ihr Leid, und unsere Verantwortung“ es erforderten.
„Doch die Verbrechen, die von Deutschen in diesem Krieg begangen wurden, lasten auf uns“, betonte der Bundespräsident. „Es lastet auf uns, dass es unsere Väter, Großväter, Urgroßväter sind, die diesen Krieg geführt, die an diesen Verbrechen beteiligt waren.“ Zu viele Täter, die schwerste Schuld auf sich geladen hätten, seien nicht zur Rechenschaft gezogen worden. Und: „Es lastet auf uns, dass wir den Opfern viel zu lange Anerkennung verwehrten.“
Dokumentation mit Schautafeln und Aufstellern
Die von Steinmeier im Garten des heutigen Deutsch-Russischen Museums Berlin-Karlshorst eröffnete Ausstellung will ein Stück Anerkennung leisten. Sie erzählt in neun Kapiteln auf großen Schautafeln anhand von historischen Fotos und Zitaten den Leidensweg sowjetischer Kriegsgefangener als Mordopfer und billige Arbeitskräfte für die deutsche Besatzungsmacht. Zwölf weitere Aufsteller dokumentieren individuelle Schicksale in zwölf Biografien. Die Auswahl der Frauen und Männer verdeutlicht die Diversität in der Roten Armee hinsichtlich der nationalen und sozialen Herkunft wie auch der Religionszugehörigkeit.
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Zwölf Aufsteller dokumentieren im Deutsch-Russischen Museum individuelle Schicksale in zwölf Biografien. Die Auswahl verdeutlicht die Diversität in der Roten Armee.
© Quelle: Harry Schnitger
Die Beispiele zeigen Soldatinnen und Soldaten, die durch Hunger oder Erschießung ums Leben kamen und auch solche, die überlebten, weil sie mit den Deutschen kooperierten. „Wir wollen möglichst viele Perspektiven berücksichtigen und damit eine differenzierte Betrachtung anregen, die einfache Bewertungen vermeidet“, sagte die Kuratorin der Ausstellung, Babette Quinkert. Eine großformatige digitale Europakarte zeigt, wo es überall Lager gegeben hat und visualisiert die zahlenmäßige und geografische Dimension des Verbrechens.
Steinmeier: Wichtig, sich der Geschichte zu stellen
Boris Popov überlebte die deutschen Kriegsgefangenschaft – in vier verschiedenen Lagern, zuletzt in Mühlberg an der Elbe. 1946 kehrte er nach Leningrad zurück, wo seine Mutter 900 Tage Blockade durch die Wehrmacht überlebt hatte. Die Bevölkerung sollte ausgehungert werden, eine Million Leningrader kamen um. Steinmeier sprach von einer ergreifenden Lebensgeschichte, die lange niemand hören wollte.
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In neun Kapiteln erzählen Schautafeln anhand von historischen Fotos und Zitaten den Leidensweg sowjetischer Kriegsgefangener als Mordopfer und billige Arbeitskräfte für die deutsche Besatzungsmacht.
© Quelle: Harry Schnitger
In der Sowjetunion nicht, wo Popov bis 1975 kämpfen musste, um als Kriegsgefangener überhaupt als Kriegsteilnehmer anerkannt zu werden. Und auch in Deutschland nicht, wo wohl „das schwere Schicksal der eigenen, der deutschen Soldaten, die in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten waren“ das Interesse am Schicksal der sowjetischen überlagerte, sagte Steinmeier. Popov konnte selbst noch dazu beitragen, die Erinnerung wach zu halten. Bis kurz vor seinem Tod im März 2020 hielt er Vorträge und trat als Zeitzeuge in Schulen in Belarus und in Deutschland auf.
Steinmeier betonte, es sei wichtig, sich der Geschichte zu stellen, sie anzunehmen. Zu lange hätten „wir Deutschen das mit Blick auf die Verbrechen im Osten unseres Kontinents nicht getan“. Es sei an der Zeit, dies nachzuholen.
Scharfe Kritik kommt von dem Botschafter der Ukraine
Mit Blick auf das Deutsch-Russische Museum als Ort der Gedenkfeier kam im Vorfeld der Ausstellungseröffnung scharfe Kritik vom ukrainische Botschafter Andrij Melnyk, der seine Teilnahme absagte. In einem dreiseitigen Brief an Museumsdirektor Jörg Morré begrüßt Melnyk zwar die Ausstellung als einen „längst überfälligen Schritt“ zur Aufarbeitung eines „verschwiegenen dunklen Kapitels der Nazi-Gewaltherrschaft“, begründet dann aber sein Fernbleiben damit, dass der Bitte der Ukraine, das Deutsch-Russische Museum umzubenennen, bis heute nicht nachgekommen wurde. Die Bezeichnung sei völlig irreführend. „Auf diese Weise wird de facto die UdSSR mit Russland gleichgesetzt, was eine Geschichtsverdrehung darstellt und vehement abzulehnen ist.“
Melnyk schreibt, die Ukraine werde das Monopol auf den Sieg im Zweiten Weltkrieg, das sich Russland angeeignet habe, nie anerkennen und listet Fakten auf: Mindestens acht Millionen Ukrainer verloren durch die deutsche Besatzung ihr Leben, darunter über fünf Millionen Zivilisten, inklusive 1,6 Millionen ukrainischer Juden. Dass die zentrale Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag des deutschen Angriffskriegs auf die UdSSR mit der Festrede des Bundespräsidenten ausgerechnet im Deutsch-Russischen Museum stattfindet, sei aus Sicht der Ukrainer ein Affront und zudem „brandgefährlich“ für die deutsch-ukrainische Aussöhnung.
Nationen wie die Ukraine, Belarus und die baltischen Länder würden „schlicht und einfach ignoriert“. Die deutsche Gedenkpolitik müsse dringend auf den Prüfstand gestellt werden, schreibt Melnyk. Außerdem sei ein gemeinsames Gedenken mit einem Vertreter Russlands wegen des Konflikts in der Ostukraine für ihn ausgeschlossen.
Bundespräsidialamt weist Kritik an Ortswahl zurück
Neben dem russischen Botschafter nahmen weitere Vertreter von Nachfolgestaaten der Sowjetunion teil. Allerdings sagten nach Angaben des Museums sieben von 15 eingeladenen Botschaftern ihre Teilnahme ab, darunter auch die der drei baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland. Auf dem Vorplatz des Museums waren neben der deutschen Fahne die Flaggen von Russland, Belarus und der Ukraine gehisst. Steinmeier ging in seiner Rede auch immer wieder auf diese drei Länder als Hauptkriegsschauplätze ein.
Museumsdirektor Jörg Morré führt den Namen des Museums auf dessen Entstehungsgeschichte zurück. Bereits 1967 hatte die Sowjetunion ein Museum in Karlshorst eingerichtet. Mit Abzug der Westgruppe der ehemaligen Sowjetarmee fiel das Gebäude an die Bundesrepublik Deutschland. Die vertraglichen Verhandlungen zur Übergabe und zur weiteren Nutzung als Museum wurden mit Verantwortlichen von russischer Seite geführt.
Das Bundespräsidialamt bedauerte die Absage Melnyks, wies aber die Kritik an der Ortswahl zurück. Vor allem den Angriff auf die deutsche Erinnerungskultur ließ das Bundespräsidialamt nicht stehen: „Was nicht zu akzeptieren ist, ist der Rundumschlag des Botschafters gegen die deutsche Gedenkpolitik“, hieß es. Auch das Auswärtige Amt reagierte mit „Verwunderung“ auf den Brief Melnyks. Sprecherin Maria Adebahr verwies darauf, dass insgesamt 17 Organisationen – darunter Museen aus der Ukraine und Belarus – Mitglied des Trägervereins des Museums in Karlshorst seien.