Steinmeier: „Babyn Jar ist eines der schlimmsten Massaker des Zweiten Weltkriegs“
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Ein jüdischer Chor singt an der bronzenen „Menora“, die nach 1991 in Gedenken an die Opfer des Nazi-Massakers von1941 an ukrainischen Juden in der Schlucht von Babyn Jar in Kiew aufgestellt wurde.
Berlin. „Über Babi Jar gibt es keine Denkmäler. Der steile Abgrund gleicht einem rohen Grabstein.“ So beginnt das epische Poem „Babi Jar“, mit dem der russische Dichter Jewgeni Jewtuschenko 1961 das Verbrechen ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rückte, das 1941 in der „Altweiberschlucht“ an ukrainischen Juden verübt wurde. „Ich bilde mir ein, ein Jude zu sein“, schreibt Jewtuschenko und fährt an anderer Stelle fort: „Von einem Stiefel getreten, liege ich hilflos da. Vergeblich flehe ich die Pogrommacher an.“
Erschossen und verscharrt
Am 29. und 30. September 1941 richteten deutsche SS-Leute und Sicherheitspolizisten mit Unterstützung der Wehrmacht ein beispielloses Blutbad an und ermordeten fast 34.000 Juden am Stadtrand von Kiew. Die Opfer, zumeist Frauen, Kinder und Alte, mussten sich nackt ausziehen und wurden dann in der Felsenschlucht, die auf ukrainisch Babyn Jar heißt, erschossen und verscharrt.
Es war das größte Einzelmassaker im Zweiten Weltkrieg und zugleich der Auftakt für weitere Massenvernichtungsaktionen. Im Zuge der Kesselschlacht um die ukrainische Hauptstadt Kiew hatte die Wehrmacht 600.000 sowjetische Kriegsgefangene gemacht, von denen Zehntausende später in Lagern umgebracht wurden oder verhungerten.
Das Morden ging weiter bis 1943
Was 1941 in Babyn Jar geschah, war in der Sowjetunion nicht unbekannt, aber es wurde tunlichst vermieden, das Verbrechen als ein Massaker an Juden herauszustellen. Bis 1943 verübten die deutschen Besatzer in der „Altweiberschlucht“ weitere Morde, etwa an Roma, Kommunisten, Politkommissaren und KZ-Häftlingen. Der Historiker Bert Hoppe, der am Institut für Zeitgeschichte Berlin zu dem Thema forscht, schätzt die Gesamtzahl der in Babyn Jar umgebrachten Menschen auf 65.000, andere Schätzungen gehen von bis zu 100.000 aus.
Sie alle wurden in der Sowjetunion als „Opfer des faschistischen Terrors“ zusammengefasst. In der stalinistischen Geschichtsschreibung war kein Platz für die Herausstellung einer bestimmten Opfergruppe. „In der Sowjetpropaganda ging es um ein einiges Sowjetvolk. Dass die Juden besonders im Fokus der deutschen Besatzer gestanden haben, hätte dieses einheitliche Bild gestört“, sagt Hoppe im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). In der heutigen Ukraine wurden zwischen 1941 und 1944 etwa 1,5 Millionen Juden von den Deutschen und ihren örtlichen Helfern umgebracht.
Kollaboration nicht thematisiert
Auch die Frage von Kollaboration und Denunziation, das Mitwirken ukrainischer Hilfspolizisten bei der Judenverfolgung, wurde in der Sowjetunion kaum thematisiert. Tatsächlich lässt sich nicht exakt quantifizieren, wie viele Einheimische etwa ihre Nachbarn verraten haben, weil ein großer Teil der deutschen Akten, in denen Denunziationen dokumentiert waren, beim Heranrücken der Roten Armee vernichtet wurde.
Allerdings, so Historiker Hoppe, ist anhand von späteren Zeugenaussagen davon auszugehen, dass die Zahl der Kollaborateure nicht gering war. „Die deutsche Propaganda hatte bewusst bei den Ukrainern den Glauben geschürt, dass sich der Kampf der Deutschen nur gegen Juden und Bolschewisten richte“, erläutert Hoppe.
Leichen ausgegraben und verbrannt
Als Jewtuschenko 1961 dichterisch die Anklage gegen deutsche Verbrechen an ukrainischen Juden mit dem Antisemitismus in der Sowjetunion verband, hatte man damit begonnen, Schlamm in die 2,5 Kilometer lange und 30 Meter tiefe Erosionsrinne zu pumpen, in der die Menschen ermordet worden waren. Der Schlamm war ein Abfallprodukt einer nahegelegenen Ziegelei.
Später entstand auf Teilen des zugeschütteten Areals ein Park, in dem heute Menschen spazieren gehen, joggen oder picknicken. Als die Nazis 1943 zum Rückzug gezwungen waren, wurden Häftlinge des nahegelegenen KZ Syrez abkommandiert, um mit Schaufeln die Leichen auszugraben und zu verbrennen. Alle Spuren des Verbrechens sollten beseitigt werden.
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Die Gedenkstätte für die Opfer des Faschismus in Babyn Jar in Kiew (Archivfoto).
Erst 1976 wurde ein Denkmal, eine monumentale Figurengruppe aus Bronze, in dem Park eingeweiht. Die Inschrift ist allgemein Kiewer Bürgern und Kriegsgefangenen gewidmet, die von deutschen Faschisten erschossen wurden. Die jüdischen Opfer werden nicht extra erwähnt.
Bronzene „Menora“ aufgestellt
Und erst nach der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 durfte explizit des Massakers an den Kiewer Juden gedacht werden; damals wurde von jüdischen Organisationen und Angehörigen in der Nähe der Mordstätte eine bronzene „Menora“ aufgestellt. Es entstanden weitere kleinere und größere Mahnmale. So für die in Babyn Jar 1942 ermordete ukrainische Schriftstellerin Olena Teliha oder für die ermordeten Roma; ein Planwagen aus Metall. Eine Freiluftausstellung erzählt die Geschichte des Ortes.
Inzwischen gibt es auch Spannungen wegen der Frage, wie heute ein Erinnern aussehen soll, das dem schrecklichen Ereignis gerecht wird. Neben dem staatlichen Nationalen Historischen Memorial-Komplex Babyn Jar gibt es ein 2016 gegründetes privates Holocaust Memorial Center Babyn Yar, das über eine Stiftung von den ukrainischen Oligarchen Pawel Fuchs, German Chan und Michail Fridman finanziert wird, die ihr Vermögen hauptsächlich in Russland erworben haben. Vorwurf der Kritiker: das Ganze ist ein Werkzeug Russlands beziehungsweise Putins. Wer als Oligarch in Russland existiere, der müsse sich mit dem System gutstellen.
Große Pläne für Memorial Center
Nach ukrainischen Medienberichten haben die Oligarchen 100 Millionen Dollar für die Entwicklung des Projekts bereitgestellt, und Friedmann hat in Interviews zu verstehen gegeben, dass er ein Memorial Center anstrebt, das internationale Ausstrahlung hat und sich mit Institutionen wie der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem messen kann. Auf israelischer Seite gibt es dafür prominente Befürworter, wie etwa den 73-jährigen Natan Sharansky, einen ehemaligenjüdisch-ukrainischen Dissidenten, der später in Israel Regierungsmitglied in verschiedenen Funktionen war.
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Ein inzwischen zugewachsener Teil des Parks, aufgenommen in Babyn Jar („Weiberschlucht“).
© Quelle: picture alliance / dpa
Mit Gebeten und Gedenkminuten hat die Ukraine bereits am 29. September an die Opfer des Massakers erinnert. Präsident Wolodymyr Selenskyj legte Blumen nieder und entzündete Kerzen. „Zwei Worte, hinter denen 80 Jahre gemeinsamer Schmerz des jüdischen und des ukrainischen Volkes stehen - Babyn Jar“, sagte Selenskyj, der selbst jüdische Wurzeln hat, während der Zeremonie.
Steinmeier: Ein schwerer Weg
Eine offizielle Gedenkveranstaltung ist für Mittwoch geplant. Dazu werden der israelische Präsident Izchak Herzog und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erwartet. Steinmeier sagte vor seiner Abreise, es sei ein schwerer Weg, als Bundespräsident nach Babyn Jar zu kommen.
Es sei schwer, Worte zu finden für die bestialischen Verbrechen und Gräueltaten, die hier als Teil des deutschen Vernichtungskrieges im Osten Europas verübt wurden. „Babyn Jar ist eines der schlimmsten Massaker des Zweiten Weltkriegs und steht für den ‚Holocaust durch Kugeln‘, der viel zu lange in seinem unfassbaren Ausmaß nicht angemessen wahrgenommen wurde“, sagte Steinmeier.