Steigende Corona-Zahlen: Wie Europas Länder um die Kontrolle ringen
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Desinfektionsmittel stehen auf den Tischen einer Taverne in Athen.
© Quelle: imago images/ANE Edition
Belgien „vor einem Tsunami“
Berlin/Brüssel. Es waren drastische Worte, die Belgiens Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke jetzt wählte, um die Corona-Lage in seinem Land zu beschreiben: „Wir stehen wirklich kurz vor einem Tsunami.“ Tatsächlich drohen die Behörden in Deutschlands Nachbarland die Kontrolle über die Pandemie zu verlieren.
Am Donnerstag wurden mehr als 13.000 Neuinfektionen binnen 24 Stunden gemeldet. Aus der Regierung heißt es warnend, schon Mitte November könnten alle 2000 Intensivbetten im Land belegt sein. Zu den Intensivpatienten gehört seit Mittwochabend auch Außenministerin Sophie Wilmès. Sie war Regierungschefin in Belgien, als die Corona-Krise im Frühjahr begann.
Etwa 10.000 Menschen sind seit Beginn der Pandemie gestorben. Das sind ungefähr so viele Todesfälle wie in Deutschland. Nur hat Belgien lediglich 11,4 Millionen Einwohner. Das Land, dessen Hauptstadt Brüssel auch so etwas wie die Hauptstadt der EU ist, ist von der zweiten Corona-Welle voll erfasst worden. Nur in Tschechien sieht es noch schlimmer aus.
Den Kontrollverlust will die Regierung jetzt durch harte Einschränkungen des öffentlichen Lebens abwenden. Die Belgier wurden aufgefordert, sich nur noch mit einer Person außerhalb des engen Familienkreises zu treffen. Auf Flämisch wird das „één knuffelkontakt“ (ein Umarmungs- oder Kuschelkontakt) genannt.
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Ausgangssperre in der Nacht in Brüssel. Wo sonst das Nachtleben tobt, herrscht nun Stille.
© Quelle: Getty Images
Am Montag mussten auch alle Cafés, Restaurants und Bars wieder schließen. Zwischen Mitternacht und 5 Uhr morgens gilt eine Ausgangssperre. Das soll vorerst für einen Monat so bleiben.
Doch es mehren sich die Anzeichen, dass es bald noch mehr Einschränkungen geben könnte. Experten wie der Virologe Marc Van Ranst, von der Königlichen Akademie der Wissenschaften gerade mit einem Preis für Wissenschaftskommunikation ausgezeichnet, fordern einen „kurzen, aber strengen Lockdown“ als Antwort auf die zweite Welle. Dann müssten wohl auch wieder Geschäfte, Museen, Theater und Konzertsäle schließen.
Damir Fras
Griechen fehlt Vorsicht
Die erste Welle im Frühjahr hatte Griechenland besser gemeistert als die meisten anderen europäischen Länder – am Mittwoch jedoch wurde mit 865 gemeldeten Fällen auch hier ein neuer Tagesrekord seit Beginn der Pandemie erreicht. Bisher haben sich in dem Land mit seinen 10,7 Millionen Einwohnern etwa 27.300 Menschen infiziert. Zum Vergleich: In Portugal, das fast gleich viele Einwohner hat, gab es seit dem Beginn der Pandemie rund 106.300 festgestellte Infektionen.
Offenbar sind vor allem jüngere Griechen wieder unvorsichtiger geworden. Dass mehr Neuinfektionen gemeldet werden, dürfte aber auch damit zu tun haben, dass viel mehr getestet wird – aktuell sind es rund 20.000 Tests am Tag. Der Anteil der positiven Testergebnisse liegt dabei, ähnlich wie in Deutschland, zwischen 2 und 3 Prozent. Presseberichte, wonach die Zahl der Todesfälle in Griechenland jetzt überproportional ansteige, bestätigen die offiziellen Statistiken der staatlichen Gesundheitsbehörde Eody nicht.
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Eine Mitarbeiterin des Athener Filmfestivals misst bei den Besuchern vor dem Eingang des Freiluftkinos Riviera die Temperatur. Das Filmfestival in der griechischen Hauptstadt behauptet sich trotz Corona.
© Quelle: Vaiva Bauze/dpa
Im Gegenteil: Nach den offiziellen Daten ist die Zahl der Sterbefälle seit Anfang September weniger stark gestiegen als die der Neuinfektionen – was auch mit dem sinkenden Altersdurchschnitt der Infizierten erklärt werden kann. Bislang registriert Griechenland 50 Covid-19-Todesfälle pro eine Million Einwohner gegenüber 119 in Deutschland.
Nachdem die Regierung im Frühjahr landesweit einheitliche Beschränkungen erließ, setzt sie in der zweiten Welle auf regionale und lokale Maßnahmen und auf die intensive Nachverfolgung der neuen Fälle, um Infektionsherde frühzeitig zu erkennen und zu isolieren. Mit dieser Strategie hofft die Regierung einen neuen generellen Lockdown vermeiden zu können. Er hätte katastrophale Folgen für die ohnehin angeschlagene griechische Wirtschaft.
Gerd Höhler
Schweiz: Fatales Jodelfest
Der Chef der Schweizer Wissenschaftstaskforce zu Covid-19, Martin Ackermann, räumt es offen ein: „Die rapide ansteigenden Corona-Fallzahlen sind ein Schock.” Zuletzt verdoppelte sich Helvetiens Zahl der neuen Infektionen innerhalb einer Woche und erreichte die Rekordmarke von mehr als 5500 an einem Tag – bei lediglich 8,6 Millionen Einwohnern. Die reiche und durchorganisierte Schweiz, so lauten düstere Prognosen, entwickele sich zum „internationalen Corona-Hotspot“.
Der Bundesrat schränkte das Miteinander nun wieder schmerzlich ein. Seit Anfang dieser Woche sind etwa „spontane Menschenansammlungen von mehr als 15 Personen“ im öffentlichen Raum verboten. Menschen ab zwölf Jahren müssen in allen öffentlichen Räumen eine Maske tragen.
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Zugreisende tragen Mund-Nasen-Schutz, während sie im Bahnhof Bern gehen. In öffentlichen Räumen, Geschäften, im öffentlichen Verkehr sowie in Bahnhöfen des Kantons gilt seit dem 12. Oktober Maskenpflicht.
© Quelle: Marcel Bieri/KEYSTONE/dpa
Ein Grund für den starken Anstieg ist offenbar eine ansteckende Sorglosigkeit – Partys und Feiern beschleunigten die Corona-Ausbreitung. So infizierten sich möglicherweise bei einem Jodelfest im Kanton Schwyz viele Menschen. Auch hat die Swiss-Covid-App deutlich weniger Nutzer als erhofft.
Die Regierung muss sich den Vorwurf der Planlosigkeit gefallen lassen – etwa bei der Maskenpflicht. Auch Helvetiens Föderalismus bremst den Kampf gegen die Pandemie aus. So einigten sich die 26 Kantone nicht auf eine einheitliche Verbotspolitik für Veranstaltungen mit mehr als 1000 Teilnehmern.
Jan Dirk Hebermann
Starker Anstieg in Polen
Seit Donnerstag gilt ganz Polen als Corona-Risikogebiet. Innerhalb von 24 Stunden wurden 12.107 neue Fälle gemeldet, wie das Gesundheitsministerium in Warschau am Donnerstag mitteilte. In diesem Zeitraum kamen 168 Todesfälle in Verbindung mit einer Covid-19-Erkrankung hinzu. Seit Beginn der Pandemie starben mehr als 4000 Menschen.
Es wird erwartet, dass das ganze Land demnächst zur Roten Zone erklärt wird, wie die Nachrichtenagentur PAP unter Berufung auf Regierungssprecher Piotr Mueller berichtete. Damit gehen weitere Einschränkungen wie die Begrenzung von Versammlungen auf maximal zehn Personen einher. Pläne für landesweite Ausgangsbeschränkungen gebe es indes nicht, hieß es in Warschau.
Die deutsche Einstufung Polens als Corona-Risikogebiet, die ab Donnerstag wirksam wird, hat auch Auswirkungen auf den kleinen Grenzverkehr an Oder und Neiße. Wer beispielsweise in Polen einkaufen oder tanken möchte, müsse sich nach der geltenden Quarantäneverordnung richten. Danach sind alle Personen, die aus einem ausländischen Corona-Risikogebiet in das Land Brandenburg einreisen, grundsätzlich verpflichtet, sich unverzüglich nach ihrer Einreise für 14 Tage in häusliche Quarantäne zu begeben. Ausnahmen gibt es für alle Berufspendler und Lkw-Fahrer.
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Frauen mit Mund-Nasen-Schutz gehen in Warschau an einem Team von Medizinern in Schutzanzügen vor einem Krankenhaus vorbei.
© Quelle: Czarek Sokolowski/AP/dpa
Die Grenze aber bleibt offen. Polen hatte im März einseitig die Grenzen geschlossen, früh und hart reagiert und bis zum Sommer die Infektionszahlen niedrig gehalten. Ähnlich wie im Nachbarland Tschechien fielen in den Sommerferien dann aber fast alle Vorsichtsmaßnahmen – und im Herbst gingen die Zahlen wieder rapide hoch.
Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD), Polen-Koordinator der Bundesregierung, steht in engem Kontakt mit der polnischen Seite. Deutschland hatte bereits im Frühjahr angeboten, polnische Covid-19-Patienten zur Behandlung zu übernehmen. Die polnische Regierung ist bislang nicht auf das Angebot eingegangen.
Jan Sternberg
Estland ohne strenge Kontaktbeschränkungen
In Estland wurden am vergangenen Freitag 37 Neuinfektionen registriert. Dr. Arkadi Popov, leitender Arzt in Estlands oberster Gesundheitsbehörde, führt den bisherigen Erfolg bei der Eindämmung des Virus auf die Bereitschaft der Menschen zurück, sich an die Regeln zu halten. Überdies helfe die geringe Bevölkerungsdichte dabei, die Ausbreitung des Virus zu begrenzen.
In dem Land mit insgesamt 1,3 Millionen Einwohnern kommen 31 Einwohner auf einen Quadratkilometer – deutlich weniger als in Deutschland, wo pro Quadratkilometer im Durchschnitt 240 Menschen leben. Das hat eine umfassende Kontaktnachverfolgung bei den bisher 4247 Corona-Infizierten im Land ermöglicht.
Mitte März, als die Krise in Estland ihren bisherigen Höhepunkt erreichte, veranstalteten die IT-affinen Esten einen Hackathon – einen nationalen Programmierwettbewerb. Dabei wurde eine Landkarte mit den aktuellen Corona-Fallzahlen sowie den soziodemografischen Daten der Betroffenen – sortiert nach Regionen – geschaffen. Und ein virtueller Gesprächspartner, der im Chat über die aktuelle Corona-Lage informiert. Beides hat sich im Alltag der Esten als sehr nützlich erwiesen. Die Ideen der Bewegung Hack the Crisis fanden seither Eingang in 40 weitere Staaten.
Derzeit gibt es keine strengen Kontaktbeschränkungen in Estland. In geschlossenen Räumen sind Veranstaltungen mit bis zu 750 Menschen erlaubt, draußen sogar mit bis zu 2000. Auch das Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen ist nicht verpflichtend; man sieht kaum Maskenträger auf der Straße oder in Gebäuden. Erste Theater und Busunternehmen schwenken jetzt aber um und rufen zum Maskentragen auf.
Als die Schulen im März plötzlich schlossen, gingen fast alle umgehend zum Onlineunterricht über. Inzwischen verfolgen viele Schulen ein hybrides Modell – vier Tage Präsenzunterricht, ein Tag Homeschooling. Derzeit sind noch Herbstferien – die die Esten auf Bitten von Politik und Behörden im Land verbringen sollen, möglichst ohne zu reisen.
Mele Pesti
Schweden ohne Maskenpflicht
Die Corona-Lage in Schweden liegt derzeit irgendwo zwischen relativ gut und durchwachsen. Statt Politikern bestimmt Staatsepidemiologe Anders Tegnell und sein Gesundheitsamt über die Corona-Strategie des Landes. Auf die Frage, ob es in Schweden mit seinem lockeren Sonderweg – ohne Lockdown, ohne Masken, fast ohne Verbote, sondern mit weichen Empfehlungen – eine zweite Corona-Welle gibt, antwortet Tegnell mit einem knappen „Nein“. Doch stimmt das wirklich?
Schweden wurde monatelang von ausländischen Medien und einzelnen Experten scharf für seinen Sonderweg kritisiert, während im Lande selbst die große Mehrheit hinter der Strategie von Tegnells Gesundheitsamt steht. Viele Schweden hielten sich zudem an die weichen Empfehlungen, daheim zu bleiben, soweit es möglich ist, und im Homeoffice zu arbeiten. Die U‑Bahnen, Geschäfte, Bars und zentralen Stadtteile in Stockholm waren zeitweise gespenstig leer. Während Schulen bis einschließlich der neunten Klasse offen blieben, sind Schulen ab zehnten Klasse und Universitäten frühzeitig auf digitalen Fernunterricht umgeschwenkt. Im Grunde hat Schweden somit einen weichen, freiwilligen Lockdown durchgeführt.
Dennoch steigen derzeit auch die Neuinfektionszahlen in Schweden wieder an. Allerdings auf geringerem Niveau als in vielen anderen EU-Ländern. „Die Steigerung in Schweden ist weniger dramatisch als in vielen anderen Ländern“, sagt auch Tegnell und fügt hinzu: „In Schweden sind wir zudem von 30.000 bis 40.000 Tests im März bis April auf derzeitig 140.000 hochgefahren. Und das ist natürlich eine Ursache für die Steigerung in Schweden.“
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Menschen vor einem Restaurant am Bürgerplatz in Schweden im April zu Beginn der Pandemie.
© Quelle: Andres Kudacki/AP/dpa
Derzeit sterben in Schweden mit einer Gesamtbevölkerung von 10,2 Millionen Einwohnern pro Tag zwischen drei und sieben Menschen an Corona. In den letzten Tagen wurden täglich zwischen zwei und vier Corona-Patienten in ganz Schweden neu in Intensivstationen aufgenommen. Doch die inzwischen wieder steigenden Neuinfektionszahlen, mittlerweile über 900 am Tag – das sind Werte wie im Juni –, beunruhigen die Bevölkerung. Anscheinend sind es derzeit aber in steigendem Maße jüngere Schweden, die sich anstecken, aber zumeist milde Symptome aufweisen, weshalb die Todesrate und die Anzahl von Corona-Intensivstationspatienten weiterhin relativ niedrig sind.
Anders Tegnell rief denn auch vor allem die jüngeren Schweden im TV auf: „Geht nicht auf Feiern!“ So ist die für ihre Erstsemesterpartys im September und Oktober berüchtigte Studentenstadt Uppsala einer der derzeitigen Hotspots. Zwar wurden keine Verbote ausgesprochen, aber dringliche Empfehlungen, etwa den Nahverkehr in Uppsala nicht zu nutzen und zu Hause zu bleiben, wenn es geht. Doch auch hier gibt es keine Maskenpflicht, keinen verpflichtenden Lockdown. Gleiches gilt für den südschwedischen Hotspot Skane, in dem die Zahlen der Neuinfizierten deutlich steigen. Bislang bleibt aber alles freiwillig.
André Anwar
Landesweiter Lockdown in Tschechien
Der Bürgermeister der tschechischen Hauptstadt Prag geht mit gutem Beispiel voran: Zdenek Hrib, studierter Mediziner, wird ab kommender Woche als Freiwilliger im Krankenhaus mithelfen. „Die Menschen in den Kliniken brauchen unsere ganze Unterstützung“, schrieb er am Donnerstag auf Twitter.
Tschechien ist quasi ohne Vorwarnung in einen zweiten Lockdown gestolpert. Seit Donnerstag sind Geschäfte, Einkaufszentren und Hotels wieder geschlossen, die Bewegungsfreiheit wird eingeschränkt, in der Öffentlichkeit gilt Maskenpflicht. Die Maßnahmen gelten vorerst bis zum 3. November. „Wir haben keine Zeit, um abzuwarten“, hatte Ministerpräsident Andrej Babis am Mittwoch gesagt. „Der Anstieg ist enorm.“ Er sei an seiner eigenen Vorstellungskraft gescheitert, entschuldigt er sich für seine Versprechungen: „Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es passiert.“ Ohne die Maßnahmen würde das Gesundheitssystem Anfang November kollabieren.
Fast 15.000 Neuansteckungen wurden am Mittwoch registriert – weit mehr als in Deutschland, dabei hat Tschechien nur knapp 10,7 Millionen Einwohner. Fast 93 Menschen je 100.000 Einwohner steckten sich in den vergangenen sieben Tagen mit dem Coronavirus an. Dabei hatten die Tschechen geglaubt, das Virus schon besiegt zu haben.
Mit schnellen und harten Einschränkungen schaffte es das Land, die erste Welle der Pandemie in ihren Folgen abzumildern. So wurde etwa eine Maskenpflicht im öffentlichen Raum eingeführt. In die Karten spielte den Behörden auch, dass die Pandemie Deutschlands östlichen Nachbarn etwas später erreichte als Staaten im Westen Europas.
Doch dem Lockdown im Frühjahr folgte ein Sommer der Sorglosigkeit: Masken und Abstand waren wieder vergessen, schließlich blieben die Infektionszahlen niedrig. Im Juni feierten Tausende auf der Prager Karlsbrücke den Sieg über das Coronavirus. Experten warnten da bereits vor der zweiten Welle.
Jan Sternberg