Stehen mit gesenktem Kopf, Sprechverbot: Das erwartet Nawalny im Straflager IK-2
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Seine zweieinhalbjährige Haftstrafe soll Alexej Nawalny im Straflager IK-2 in Pokrow verbüßen, einer Kleinstadt, die nur 90 Kilometer östlich der Hauptstadt im Oblast Wladimir liegt.
© Quelle: imago images/Russian Look/Scanpix/ITAR-TASS/RND Montage Behrens
Moskau. Das Arbeitsfeld von Alexej Nawalny war bislang schon außergewöhnlich umfangreich. Er ist nicht nur Russlands wichtigster Oppositionspolitiker, sondern war vor seiner Verhaftung im Januar auch Demonstrationsführer, Filmemacher, Blogger, Investor, Rechtsanwalt und noch vieles mehr. Nachdem er zu einer Haftstrafe in einer Strafkolonie verurteilt wurde, kann es gut sein, dass er auch mit der Schriftstellerei anfängt.
Würde es nicht so kommen, wäre er geradezu ein Ausnahmefall in der weit zurückreichenden Tradition der russischen Gefangenenliteratur, zu der politische Häftlinge viel beigetragen haben, um den prägenden Charakter des Straflagersystems für die russische Gesellschaft herauszustellen.
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„Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ (1862) nannte Russlands großer Schriftsteller Fjodor Dostojewski sein Prosawerk, in das er seine Erfahrungen aus vier Jahren Verbannung in ein Straflager im sibirischen Omsk einfließen ließ. Sein Buch ist eine Bestandsaufnahme der „Katorga“, wie die Zwangsarbeit an unwirtlichen Orte im zaristischen Russland genannt wurde. Es folgte das stalinistische Zwangsarbeitersystem, das Alexander Solschenizyn in seinem Monumentalwerk „Der Archipel Gulag“ (1973) als mindestens genauso menschenverachtend wie die Katorga beschrieb.
Der russische Strafvollzug von heute ist nicht mehr ganz so erbarmungslos wie die Katorga oder der Gulag, aber noch immer werden Häftlinge in Straflager an weit entfernte Orte in Sibirien oder am Nordpolarkreis verlegt, wo sie nicht mehr sind als eine Ziffer in der Bilanz.
4000 Kilometer von der Tochter entfernt
Der frühere Oligarch und Putin-Kritiker Michail Chodorkowski war von 2003 bis 2014 Russlands berühmtester Häftling – in seinem Buch „Meine Mitgefangenen“ (2014) arbeitete er seinen mehr als zehnjährigen Freiheitsentzug in Sibirien und Karelien auf. Er zeichnet ein Bild vom Gefängnis, das keine Gegenwelt zur russischen Realität bildet. Das Haftregime erscheint ihm eher „wie ein ins Groteske gesteigertes Modell unseres normalen Lebens jenseits der Mauern“.
Der Knast machte auch Nadja Tolokonnikowa zur Autorin. Weil sie mit der Band Pussy Riot ein „Punkgebet“ in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale aufgeführt hatte, wurde sie zu einer vollkommen unverhältnismäßigen Lagerhaft von zwei Jahren verurteilt, die sie bis auf drei Monate absaß, zum Teil in Sibirien – 4000 Kilometer von ihrer Tochter in Moskau entfernt.
In „Anleitung für eine Revolution“ (2016) berichtet die Aktionskünstlerin von schockierenden Erfahrungen: „Hunderte HIV-Kranke arbeiteten 16 Stunden am Tag und richteten die Reste ihres Immunsystems damit zugrunde“, schreibt sie. „Zum Sterben brachte man sie ins Lagerkrankenhaus – damit sie mit ihren Leichen nicht die Koloniestatistik verdarben.“
Seine Autobiografie „Mein Weg“ (2012) schrieb Chodorkowski sogar während seiner Haft und schmuggelte sie kapitelweise aus dem Gefängnis heraus. Sie wurde veröffentlicht, als er noch einsaß. Wenn Nawalny je zu solchen Aktionen in der Lage sein sollte, so ist es dafür zu früh, nachdem er erst Ende Februar aus dem Moskauer Untersuchungsgefängnis „Matrosenruhe“ in das Untersuchungsgefängnis Nummer 3 „Koltschugino“ im Gebiet (Oblast) Wladimir gebracht wurde.
Seine zweieinhalbjährige Haftstrafe soll er im Straflager IK-2 in Pokrow verbüßen, einer Kleinstadt, die nur 90 Kilometer östlich der Hauptstadt im Oblast Wladimir liegt. Die Nähe zum Wohnort verdankt der Oppositonspolitiker dem Umstand, dass er zu einem Straflager des „obschtschij“, des allgemeinen und nicht des strengen oder besonderen Regimes verurteilt wurde. Das bedeutet, dass er seine Haft innerhalb der russischen Zentralregion absitzen darf, in einem Radius von 500 Kilometern rund um Moskau.
Sinnlosigkeiten wie permanent wiederholtes Bettenmachen
Allerdings gilt das Straflager IK-2 als besonders streng geführt. Der Rechtsanwalt Pjotr Kurjanow von der NGO „Verteidigung der Rechte von Häftlingen“ zeigte sich bestürzt über die Entscheidung, Nawalny nach Pokrow zu verlegen: „Es geht dort vollkommen gesetzlos zu“, sagte er dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Sie brechen Dich. Seit Langem ereignen sich dort furchtbare Dinge.“
Je furchteinflößender der Ruf von IK-2 ist, umso mehr liefert das Lager Nawalnys Team allerdings gute Argumente, den russischen Staat als abstoßende Despotie anzuklagen. Kaum erschien es trotz der noch fehlenden offiziellen Bestätigung wahrscheinlich, dass der Oppositionspolitiker seine Haft in Pokrow absitzen soll, stellten seine Anhänger eine sehr detaillierte Beschreibung der Strafkolonie und ihres absurd anmutenden Haftregimes ins Netz.
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© Quelle: Reuters
Von Sinnlosigkeiten wie permanent wiederholtem Bettenmachen oder An- und Ausziehen und stundenlangem Stehen mit gesenktem Kopf ist die Rede. Jeder Neuankömmling müsse am Anfang in Quarantäne und danach in den Hochsicherheitstrakt, wo besonders strenge Regeln wie zum Beispiel ein Sprechverbot herrschten. Für politische Gefangene wie Nawalny gelte die Schweigepflicht aber auch im anschließenden Normalvollzug.
„Erinnert Ihr Euch“, spricht Nawalnys Team den Leser direkt an, „dass bei Alexej kürzlich Fluchtgefahr festgestellt wurde? Das ist natürlich geradezu lustig, wenn man bedenkt, dass er sich in Russland freiwillig gestellt hat. Aber wisst Ihr, was das bedeutet? Das hat zur Folge, dass er sich alle zwei Stunden vor einer laufenden Videokamera ausweisen muss: Nachname, Vorname, Vatersname, Geburtsdatum. Ihr kennt das. Und in der Nacht wendet ihn ein Wärter im Schlaf alle zwei Stunden auf den Rücken, um ihm mit der Taschenlampe ins Gesicht zu leuchten, oder weckt ihn auf.“
„Flagge und Hymne aller derjenigen, die mit Putin unzufrieden sind“
Der politische Aktivist Konstantin Kotow, der 2019 wegen „wiederholt illegalem Demonstrieren“ für 18 Monate in Pokrow landete, bestätigt die beklemmenden Angaben: „Dieser Artikel ist korrekt“, sagte er dem RND. „Ich hätte es in meinen Worten genauso ausgedrückt.“
Das Schlimmste im Lager IK-2 sei allerdings die Gewalt, die dort zum Alltag gehöre: „Es ist ganz normal, dass Dir dort in die Fersen getreten wird.“ Nawalny werde dies allerdings nicht passieren, glaubt Kotow: „Als politischer Häftling bin auch ich davon verschont geblieben. Es blieben nur der psychische Druck und die harten Lebensbedingungen.“
Mit der möglichst genauen Beschreibung der kafkaesken Lebenssituation, in die Russlands führender Oppositionspolitiker gebracht werden soll, macht sein Team klar, was dessen Stabschef Leonid Wolkow meinte, als er Ende Januar der BBC sagte, dass Nawalny als Häftling nun ein „Symbol“ der Oppositionsbewegung sei: „Wir haben bereits in der Vergangenheit bewiesen, dass wir funktionsfähig sind, wenn Alexej weggesperrt wurde“, erklärte Wolkow. „In diesen Fällen wird er eben zur Flagge und Hymne all derjenigen, die mit Putin unzufrieden sind.“