Kommentar

Einheitsbericht: notwendiger Perspektivenwechsel

Carsten Schneider, Beauftragter der Bundesregierung für Ostdeutschland.

Carsten Schneider, Beauftragter der Bundesregierung für Ostdeutschland.

Der Ostbeauftragte der Bundesregierung versucht in diesem Jahr mal etwas Neues. Das wurde auch höchste Zeit. Statt wie üblich kurz vor dem 3. Oktober einen Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit abzugeben, der auflistet, wo die gar nicht mehr neuen Bundesländer bald 33 Jahre nach dem Fall der Mauer unverändert hinterherhinken, ändert Carsten Schneider die Perspektive. Der Sozialdemokrat wehrt sich dagegen, dass der Westen als nicht hinterfragbarer „Vergleichsmaßstab“ dient. Er schreibt: „Das vereinte Deutschland ist heute kein ‚Westdeutschland plus‘, sondern ein vollständig neues Land.“ Das ist, um in Schneiders Vokabular zu bleiben, „auch gut so“. Zugleich hat der Ostbeauftragte Gastautoren eingeladen, ihrerseits einen Blick auf die Verhältnisse zu werfen. Da geht es zum Beispiel um Fußball. Das wirkt erfrischend und weckt Neugier.

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Nur, ganz so einfach ist es dann doch nicht.

Im Osten tut sich ökonomisch etwas

Richtig ist, dass die Jahresberichte zuletzt wenig Nutzen und viel Schaden anrichteten. Im besten Fall waren sie langweilig und wurden übersehen. Eben weil der Westen stets Vergleichsmaßstab war, konnte er sich bequem zurücklehnen, während der Osten unter dieser Sichtweise litt, die Minderwertigkeitsgefühle und damit Zorn produziert. Dabei sind die Jahre seit der Wiedervereinigung eine gesamtdeutsche Geschichte. Das gilt zum Beispiel für die Besitzverhältnisse – oder die Elitenbildung. Dass zahlreiche Immobilien in Leipzig oder Erfurt Westdeutschen gehören und selbst ostdeutsche Spitzenposten oft nicht von Ostdeutschen besetzt werden, geht beide Landesteile etwas an. Westdeutsche müssen begreifen, dass ihre Dominanz auch ein Problem ist.

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Richtig ist ferner, dass sich in Teilen Ostdeutschlands ökonomisch etwas tut. Ein gravierendes Defizit der Einheit besteht ja darin, dass die meisten Konzernzentralen im Westen stehen. Mit den Ansiedlungen von Tesla in Brandenburg und Intel in Sachsen-Anhalt ändert sich das jetzt womöglich grundlegend.

26.09.2022, Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin: Vor dem Schweriner Schloss treffen sich Teilnehmer einer Demonstration, die gegen die Energiepolitik mit stark gestiegenen Preisen und deren Folgen protestieren. Foto: Danny Gohlke/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Druck auf dem Kessel

Wie bereits im vergangenen Jahr gehen besonders im Osten jeden Montag die Menschen auf die Straße. Der Protest gegen Energiepreisschocks und Russland-Sanktionen umfasst auch die Mitte der Gesellschaft. Rechtsextreme wittern ihre Chance.

Aber der Extremismus ist alarmierend

Allerdings muss man auch darüber sprechen, dass der rechte Extremismus in anderen Teilen Ostdeutschlands wie Sachsen oder Thüringen alarmierend voranschreitet. Hier wie da liegt die AfD in Umfragen vorn. Die Linke möchte vom süßen Gift des Populismus ebenfalls nicht lassen. Und über die Russland-Politik des sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer hat sein CDU-Parteifreund Marco Wanderwitz den erschütternd zutreffenden Satz gesagt: „Er agiert wie ein Geisterfahrer, der glaubt, nicht er, sondern alle anderen würden in die falsche Richtung fahren.“

„Er agiert wie ein Geisterfahrer, der glaubt, nicht er, sondern alle anderen würden in die falsche Richtung fahren.“

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Marco Wanderwitz über den sächsischen CDU-Ministerpräsidenten Michael Kretschmer

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Schneider weist auf die vielerorts positive Entwicklung der Zivilgesellschaft in Ostdeutschland hin. Es führt aber kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass in einzelnen Regionen die Demokratie in Gefahr ist – und das akut. Und selbst wenn stimmt, dass die Energiekrise Ostdeutschland nicht zuletzt deshalb härter trifft, weil Menschen dort weniger finanzielle Polster haben: Viele Ostdeutsche müssen sich fragen, warum sie in der Flüchtlingskrise, der Coronakrise und der Ukrainekrise von Solidarität wenig wissen wollten und wollen, obwohl sie sich auf die Solidarität in der DDR einiges zugutehalten.

Nicht Fremd-, sondern Selbstkritik diesseits und jenseits der ehemaligen Mauer – das brauchen wir. Dabei ist Carsten Schneiders Perspektivwechsel von Nutzen. Dass die Westdeutschen wie Nachhilfelehrer erscheinen, die sich zu den ostdeutschen Nachhilfeschülern hinunterbeugen, hilft niemandem.

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