Spaniens erstaunliche Rentenreform: Großzügig und (wahrscheinlich) unbezahlbar
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Das spanische Parlament in Madrid.
© Quelle: Jesús Hellín/EUROPA PRESS/dpa
Madrid. Der zuständige Minister wischt alle Bedenken beiseite: „Viele der Kritiker und Analysten irren sich dauerhaft seit 20 Jahren“, sagt José Luis Escrivá im Interview mit der Zeitung El País. Mit dieser Argumentation hat er immerhin die Parlamentsmehrheit überzeugt. Mit 179 gegen 104 Stimmen bei 61 Enthaltungen stimmten die spanischen Abgeordneten an diesem Donnerstag für den Regierungsentwurf einer Reform des öffentlichen Rentensystems, der in seinem Titel eine „Erweiterung der Rechte der Rentenbezieher“ und einen „neuen Rahmen der Nachhaltigkeit“ verspricht. Ersteres ist wahr, Letzteres wahrscheinlich nicht.
Ángel de la Fuente, Direktor der Wirtschaftsdenkfabrik Fedea, findet, dass „angesichts der praktisch einmütigen Kritik der akademischen Fachleute“ an der Reform eine ausführlichere politische Debatte kein Schaden gewesen wäre. Aber die linke Regierung von Ministerpräsident Pedro Sánchez wollte es schnell machen. Es ist Wahljahr.
Spanien hat eine der niedrigsten Geburtenraten der Welt
Spanien steht vor denselben demografischen Herausforderungen wie fast alle hochentwickelten Industriestaaten: einer steigenden Lebenserwartung und einer sinkenden Fertilitätsrate. Die ist in Spanien mit 1,29 Kindern pro Frau eine der niedrigsten der Welt und wird in der EU nur noch von Malta unterboten. Das spanische Rentensystem knirscht jetzt schon. Das Land gibt 12,7 Prozent seines Inlandsprodukts (BIP) für das öffentliche Rentensystem aus, 2,3 Punkte mehr als die EU-Staaten im Durchschnitt (und 0,8 Punkte mehr als Deutschland). Die Einnahmen aus Sozialversicherungsbeiträgen reichen nicht aus, um die Ausgaben zu decken; die Zuschüsse aus dem allgemeinen Staatshaushalt entsprachen 2019, vor der Corona-Pandemie, 1,3 Prozent des BIP. Es gibt also Handlungsbedarf.
Die konservative Vorgängerregierung hatte 2013 einen Mechanismus erdacht, der die Renten mit einem gewissen Automatismus der demografischen Entwicklung anpassen sollte. Mit anderen Worten: Die Renten sollten sinken. Das ist für eine linke Regierung, zurzeit jedenfalls, ganz undenkbar. Mit der nun beschlossenen Reform werden die Renten steigen. Als Berechnungsgrundlage wird wie bisher der Durchschnitt der letzten 25 Arbeitsjahre genommen – oder aber, und das ist neu, der Durchschnitt der letzten 29 Jahre, abzüglich der beiden schlechtesten Jahre.
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Die Sozialversicherung errechnet aus eigener Initiative die vorteilhaftere Option und zahlt entsprechend. Außerdem wird die Mindestrente deutlich angehoben – bis 2027 auf 1200 Euro im Monat plus zwei Extrazahlungen in gleicher Höhe. Das ist mehr als der derzeitige Mindestlohn (1080 Euro). Außerdem gibt es Sonderzahlungen für Rentnerinnen.
Spaniens Renteneintrittsalter steigt bis 2027 auf 67
Um die Wohltaten, vor allem aber die in den beiden kommenden Jahrzehnten deutlich zunehmende Zahl der Renten zu bezahlen, müssen die arbeitenden Jungen ran. Ihr Sozialversicherungsbeitrag steigt vorläufig um 0,6 Prozentpunkte, künftig wahrscheinlich noch mehr. Um die Pille zu versüßen, hat sich die Regierung für die neue Last den Namen „Generationengerechtigkeitsmechanismus“ einfallen lassen, was vielen zynisch klingt.
Gutverdiener (ab etwa 54.000 Euro im Jahr) werden zusätzlich zur Kasse gebeten: Ihre Beiträge steigen stärker als die der anderen, ihre künftigen Renten dagegen kaum. Außerdem wird ein freiwilliger späterer Renteneintritt mit höheren Rentenzahlungen belohnt, was allerdings nur einen minimalen Spareffekt haben wird. Zurzeit gehen die Spanier im Durchschnitt mit 64,8 Jahren in Rente, bei einem gesetzlichen Renteneintrittsalter, das zurzeit schrittweise von früher 65 Jahren bis 2027 auf 67 Jahre steigt.
In der Summe, hat der Ökonom Ángel de la Fuente berechnet, wird die Reform dazu beitragen, dass das Defizit der Sozialversicherung bis 2050 auf knapp 5 Prozent des BIP steigen wird. Minister Escrivá ficht das nicht an. Ökonomen können schließlich irren.