Selenskyj spricht von „historischer Woche“

Warum dauert der Kampf um Sjewjerodonezk so lange?

Die Brücke von Lyssytschansk nach Sjewjerodonezk ist nahezu vollständig zerstört.

Die Brücke von Lyssytschansk nach Sjewjerodonezk ist nahezu vollständig zerstört.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sieht sein Land vor extrem wichtigen Tagen. Die Gespräche in Brüssel über den angestrebten EU‑Kandidatenstatus sei einer der schicksalsträchtigsten Momente für die Ukraine, so Selenskyj in einer Videobotschaft. Es beginne eine „historische“ Woche.

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Der Kölner Politikwissenschaftler Thomas Jäger bestätigt diese Einschätzung. „Das ist ein großes Wort, das in diesem Fall aber wirklich passt“, sagt der Professor für Internationale Politik und Außenpolitik im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).

EU-Kandidatenstatus: Selenskyj sieht „historische Woche“

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sieht sein Land vor der historischen Möglichkeit, EU‑Beitrittskandidat zu werden.

Er verweist auf das 2013 angestrebte Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der EU, das eines der Argumente für den späteren Krieg ist. „Es besteht kein Zweifel, dass Russland gegen einen EU‑Beitritt der Ukraine ist“, macht Jäger klar. Deshalb stelle sich für die Ukraine die Frage, ob Putins Worte, angeblich nichts gegen einen EU‑Beitritt zu haben, wirklich echt gemeint seien. Selenskyj warnte auch vor „stärkerer feind­seligen Aktivität von Russland“ gegen Europa in dieser Woche. Der Politikexperte Jäger interpretiert bereits die Drosselung der Gaslieferungen als Warnung Putins an den Westen „vor der Einmischung in den Krieg und einer Bindung der Ukraine an die EU“.

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Ob es eine realistische Mitgliedschaftsperspektive gibt, hänge vom Ausgang es Kriegs, von Korruptions­bekämpfung und der Einigkeit innerhalb der EU ab. „Es ist aber auch möglich, dass die Ukraine 50 Jahre oder länger beim Beitrittsstatus bleibt, wenn auf diesen Feldern vieles gegen sie läuft.“

Zugleich ist auch militärisch eine wichtige Woche für die Ukraine angebrochen. „Die Kämpfe im Donbass sind derzeit sehr hart, und die ukrainische Führung macht deutlich, wie dringend sie schwere Waffen und Munition aus dem Westen benötigt“, sagt Jäger.

In der Ostukraine gehen die Kämpfe um die strategisch wichtige Stadt Sjewjerodonezk weiter. Die russischen Truppen konnten trotz mehrerer Luftangriffe kaum Gewinne erzielen. Überrascht ist Jäger davon nicht. „Russland schießt jetzt Haus um Haus kaputt und braucht dafür sehr viel Artillerie“, erklärt er. Die russischen Truppen seien aber in vielen Teilen der Stadt nicht in der Lage, die Häuser mittels Infanterie einzunehmen. „Immer wieder gibt es Gegenangriffe, die Kämpfe sind sehr mühsam und die Ukrainer geben Informationen über die Angreifer sehr gut an andere Einheiten weiter.“

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Seit nun mehr als einem Monat versuchen russische Truppen das Verwaltungszentrum Sjewjerodonezk im Osten der Ukraine zu erobern. „Um Sjewjerodonezk schnell einzunehmen, müsste Russland infanteriestark sein, doch die taktischen Bataillonsgruppen haben eine Infanterieschwäche und setzen daher auf Feuerkraft“, erklärt General a. D. Wolfgang Richter von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) die langwierigen Kämpfe. Russland müsse um jeden Straßenzug schwer kämpfen, die Gefechte immer wieder gut vorbereiten und hohe Verluste einstecken. „Trotz der nur langsamen Fortschritte neigt sich die Waage in Sjewjerodonezk jetzt immer mehr zugunsten der Russen.“

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„Die Verteidiger müssen sich fragen, ob sie die Stadt bis zum letzten Quadratmeter verteidigen wollen und am Ende eine dramatische Lage wie in Mariupol entsteht.“

Wolfgang Richter, General a.D. (Stiftung Wissenschaft und Politik)

Nach Auffassung des Institute for the Study of War (ISW) könnten sich die Kämpfe um die Stadt noch über Wochen hinziehen. Russlands Überlegenheit bei der Artilleriebewaffnung reiche zur Zeit nicht aus, um die Stadt vollständig einzunehmen, heißt es im Lagebericht des Thinktanks in Washington. Ob die Ukrainer es darauf ankommen lassen, sei aber fraglich, so Ex-General Richter. Denn die russischen Streitkräfte ziehen einen Kreis um Sjewjerodonezk und schließen die Ukrainer immer weiter ein.

„Die Verteidiger müssen sich fragen, ob sie die Stadt bis zum letzten Quadratmeter verteidigen wollen und am Ende eine dramatische Lage wie in Mariupol entsteht.“ Irgendwann wird den Verteidigern die Munition ausgehen, glaubt Richter, genau wie in Mariupol. Daher müssten die ukrainischen Streitkräfte den geeigneten Zeitpunkt finden, um die Stadt aufzugeben und rückwärtige Verteidigungsstellungen zu beziehen.

Im südlichen Cherson haben ukrainische Gegenangriffe die russische Armee inzwischen gezwungen, sich auf die Verteidigung der eingenommenen Gebiete zu konzentrieren. Dort und in anderen Regionen der Südukraine hat es nach Angaben der ISW-Experten vermehrt russische Raketenangriffe gegeben. Die Fachleute gehen davon aus, dass Russland damit den psychologischen Druck auf die Bevölkerung erhöhen und die lokale Wirtschaft schwächen wolle. Selbst im weitgehend vom Krieg verschonten Odessa wurden am Montagnachmittag in übereinstimmenden Medienberichten Raketenangriffe gemeldet und Bewohnerinnen und Bewohner aufgefordert, Luftschutzbunker aufzusuchen.

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