Sigmar Gabriel wird 60: „Manche Debatte habe ich zu hart geführt”
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Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel: Ich hadere nicht.
© Quelle: Thomas Koehler/photothek.net
Berlin. Sigmar Gabriel blinzelt ein wenig, als die RND-Redakteure ihn am Mittwoch vor einer Woche in einem Biergarten zwischen Kanzleramt und Hauptbahnhof in Berlin-Mitte treffen. Die Sonne scheint hell, es ist warm, der SPD-Politiker hat gerade einen Nachtflug von China nach Berlin hinter sich. Gabriel war in Shenzen, der Zwölf-Millionen-Metropole nach Hongkong, in der Techkonzerne wie Huawei, BYD und Tencent ihren Sitz haben. Die Innovationskraft und der Ehrgeiz der Chinesen haben den früheren Wirtschaftsminister schwer beeindruckt. In Deutschland, sagt er, spüre er diesen Geist schon lange nicht mehr. Gabriel muss noch eine Mail schreiben. Ein internationaler Topdiplomat soll zur Münchner Sicherheitskonferenz gelotst werden, er hat versprochen, dabei zu helfen. Die Finger sausen über die Laptop-Tastatur, dann klappt er den Computer zu. Es kann losgehen.
Herr Gabriel, Sie feiern diese Woche Ihren 60. Geburtstag. Haben Sie Angst vor dem Altwerden?
Angst habe ich nicht. Aber mit zunehmendem Alter wird mir bewusster, dass das Leben endlich ist. Vor Kurzem bin ich in Goslar Fahrrad gefahren und entweder zufällig oder unterbewusst gesteuert auf die Wege meiner Kindheit geraten. Zur Grundschule, zum Sportplatz, zur Arbeitsstelle meiner Mutter. Plötzlich wurde mir klar, dass ich dort in 20 Jahren ziemlich sicher kein Fahrrad mehr fahren werde.
Vor knapp 20 Jahren hatten Sie diese Gedanken vermutlich nicht …
Ganz sicher nicht!
... damals betraten Sie die politische Bildfläche, als Sie Ministerpräsident von Niedersachsen wurden.
Ich persönlich rechne anders. Wenn ich überlege, wie alles angefangen hat, denke ich 30 Jahre zurück. Daran, wie ich mein erstes Landtagsmandat gewonnen habe. Damit hatte bei uns niemand gerechnet, ich selbst am allerwenigsten – der Wahlkreis war stockkonservativ. Eigentlich wollte ich als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei VW in Salzgitter anfangen. Das ging dann nicht mehr. Also habe ich am Montag nach der Wahl beim damaligen Bezirksleiter der IG Metall, dem späteren Bundesvorsitzenden Jürgen Peters, angerufen und gesagt: „Alles Mist, kann nicht kommen – ich habe gewonnen.“ Der Arme ist fast vom Glauben abgefallen, denn er hatte alles schon vorbereitet für meinen ersten Arbeitstag.
Hat Gerhard Schröder Sie gefördert?
Anfangs nicht, denn ich kannte ihn ja kaum. Frühe Förderer für mich waren der Goslarer Oberbürgermeister Dr. Jürgen Paul, der spätere Bundestagsabgeordnete Peter Eckardt und natürlich Gerhard Glogowski aus Braunschweig. Ich erinnere mich noch genau, wie wir Falken damals die SPD kritisiert hatten, und einige angeblich linke Sozis uns daraufhin gleich aus der Partei werfen und sogar die öffentlichen Zuschüsse streichen wollten. Das war das erste Mal, dass ich das in der politischen Linken leider sehr verbreitete Jakobinertum kennenlernen durfte – leider nicht das letzte Mal. Ausgerechnet der rechte Sozialdemokrat Gerd Glogowski hat sich damals vor uns gestellt. Das war eine prägende Erfahrung.
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Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel: „Gerd, weißt du eigentlich, in was für Schwierigkeiten du uns damit bringst?"
© Quelle: Thomas Koehler/photothek.net
Gerhard Glogowski war neun Jahre lang Oberbürgermeister von Braunschweig und Vorsitzender des konservativen Braunschweiger SPD-Bezirks, in dem auch Gabriel sozialisiert worden ist. Als Gerhard Schröder im Herbst 1998 Bundeskanzler wurde, trat Glogowski die Nachfolge als Ministerpräsident an. Gabriel wurde schon bei Gerhard Schröder Chef der SPD-Fraktion im Niedersächsischen Landtag. Nur knapp ein Jahr nach Amtsübernahme musste Glogowski zurücktreten, weil er sich von niedersächsischen Unternehmen private Feiern und Reisen hatte sponsern lassen. Nachfolger wurde der damals 40-jährige Sigmar Gabriel – als jüngster Ministerpräsident in der Geschichte der Bundesrepublik.
Haben Sie gezögert, als Sie die Möglichkeit hatten, Ministerpräsident zu werden?
Wenn Sie mit 40 Jahren gefragt werden, ob Sie so ein Amt übernehmen wollen, müssen Sie schon übermenschliche Größe haben, um da abzusagen. Die hatte ich, zugegeben, nicht. Ich habe damals leichtsinnig gedacht, das Amt des Ministerpräsidenten sei im Grunde nicht viel anders als das des Fraktionschefs im Landtag. Das war ein großer Irrtum. In Wahrheit habe ich damals den Beruf gewechselt, ohne darauf wirklich vorbereitet gewesen zu sein.
Waren die Fußstapfen Schröders zu groß?
Ich trat ja nicht als Nachfolger von Gerhard Schröder an, sondern in einer tiefen Krise der niedersächsischen SPD nach dem Rücktritt meines Freundes Gerhard Glogowski. Es ging erst einmal darum, die SPD wieder aus dem Keller zu holen, was uns eigentlich auch ganz gut gelungen ist. Trotzdem würde ich rückblickend sagen, dass das Amt für mich zu früh kam. Als Ministerpräsident von Niedersachsen war ich ein Getriebener. Die Souveränität und die Gelassenheit, die man für so ein Amt braucht, hatte ich damals nicht. Die gewinnt man nur durch Erfahrung.
Sie sind aus einer absoluten Mehrheit heraus abgewählt worden, haben 14,5 Prozent verloren. Die schlimmste Niederlage in der Geschichte der niedersächsischen SPD.
Das dachten wir damals. Die Geschichte zeigte auch in Niedersachsen, dass danach noch weit schlimmere kamen. Aber es stimmt: Das war eine herbe Niederlage. Noch wenige Monate zuvor lagen wir deutlich vor der CDU, aber die bundespolitischen Verwerfungen führten dann zeitgleich zum Verlust der Landtagswahlen in Niedersachsen und Hessen. In beiden Bundesländern wurden wir wie die Hasen getrieben, weil die SPD auf Bundesebene nach der Bundestagswahl sage und schreibe 80 Steuererhöhungen unter dem schönen Titel „Steuervergünstigungsabbaugesetz“ vorantrieb. Dazu kamen jede Menge eigener Fehler.
War Schröder schuld an Ihrer Wahlniederlage oder waren Sie das selbst?
Gerhard Schröder hat später mal gesagt: „Dem Grunde nach habt ihr wegen mir verloren, der Höhe nach wart ihr selbst schuld.“ Das beschreibt es humorvoll, aber ganz treffend. Ich wollte damals zusammen mit NRW-Ministerpräsident Peer Steinbrück eine Vermögenssteuer zur Sanierung von Schulen und Kindergärten durchsetzen. „Ein Prozent Vermögenssteuer für 100 Prozent Bildung“ war unser Motto. Schröder hatte dazu nur gesagt: „Macht doch, ist ja eure Sache.“ Die Vermögenssteuer ist nämlich eine Ländersteuer. Dann haben wir eine Kampagne konzipiert, Plakate drucken lassen. Auf dem Weg zur Plakatvorstellung ruft mich ein dpa-Journalist an und erzählt mir, Schröder habe in einer Aufzeichnung fürs Fernsehen gesagt, mit ihm werde es keine Vermögenssteuer geben – basta.
Wie haben Sie reagiert?
Ich habe es erst mal nicht geglaubt, ihn im Kanzleramt angerufen und gesagt: „Gerd, weißt du eigentlich, in was für Schwierigkeiten Du uns damit bringst?“ Schröder hat nur ins Telefon gebrüllt: „Weißt du eigentlich, was für Schwierigkeiten ich hier gerade habe?“ Und dann hat er aufgelegt. Später habe ich mal zu der Frage der Vermögenssteuer gesagt: Erst hat Schröder dem Pferd einen Klaps gegeben, und dann hat er es im Sprung erschossen. Es hat unserer Freundschaft übrigens nicht geschadet.
Was waren Schröders Motive?
Er hatte die Wahlen 2002 nur knapp gewonnen und sein Finanzminister Hans Eichel hat danach ein verheerendes Steuererhöhungskonzept vorgelegt. Der „Spiegel“ bildete Schröder mit einer roten Fahne und der Überschrift „Der Kanzler der Gewerkschaften“ ab. Ich glaube, er hat damals nach einem großen Symbol gesucht, um dieses Thema abzuräumen. Denn er wusste damals, was auch heute noch stimmt: Die SPD muss in der Mitte der Gesellschaft Wähler überzeugen. Wenn sie sich nur links positioniert, bleibt sie zu schwach und es gibt keine Mehrheit für Koalitionen mit Grünen. Und da kam ihm der Konflikt mit uns gerade recht, um zu zeigen, dass er nach wie vor in dieser Mitte steht. Und aus heutiger Sicht und nach vielen Debatten über die Vermögenssteuer muss man ja rückblickend sagen: Der Kerl hatte auch noch recht (lacht).
Sie selbst haben keine Fehler gemacht?
Wenn man so viele Stimmen verliert, hat man immer auch selbst Fehler gemacht.
War das der Tiefpunkt Ihrer politischen Karriere?
Ohne Zweifel, ja. Aber die Wahrheit ist natürlich auch: Es gibt weit Schlimmeres als eine verlorene Wahl. Und es ist auch eine Erfahrung, die zum politischen Leben dazugehört. Der jüngst verstorbene damalige VW-Chef Ferdinand Piech hat mich seinerzeit zur Seite genommen und gesagt: „Rückblickend betrachtet wird Ihnen das helfen.“ Ich dachte damals: Was redet der Mann da nur? Aber Piech hat recht behalten.
Warum?
Eine solche Niederlage immunisiert. Und sie macht einen vorsichtiger dabei, Ratschläge anderer zu befolgen. Bei mir hat sie dazu geführt, dass ich stärker meinen eigenen Weg gesucht habe.
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Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel: „Die Fliege, die in der Pfütze wie ein Admiral aussieht.“
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Für Gabriel beginnt nach der Wahl eine harte Zeit. Er wird wieder Fraktionsvorsitzender im niedersächsischen Landtag und heuert gleichzeitig als Lobbyist bei VW an. Für die Bundes-SPD übernimmt er das eigens geschaffene Amt des „Beauftragten für Populärkultur“. Das verschafft ihm den Spitznamen Siggi Pop. Er liebäugelt mit einem Wechsel in die Wirtschaft, aber Schröder ermuntert ihn zu einer Kandidatur für das Europaparlament. Die wiederum will Gabriel nicht, weil sie ihn in Konkurrenz zu seinem Freund Martin Schulz bringen würde. Auf Rat des damaligen SPD-Fraktionsvorsitzenden Franz Müntefering kandidiert er schließlich für den Bundestag. Müntefering ist es auch, der ihn direkt nach der Wahl zum Umweltminister macht.
Warum hat Franz Müntefering Ihnen eine zweite Chance gegeben?
Ein paar Jahre zuvor wäre die Karriere von Wahlverlierern einfach zu Ende gewesen. In meiner Generation aber hatte die SPD einfach zu wenige Leute. Ich war sozusagen die „Fliege, die in der Pfütze wie ein Admiral aussieht“. Und ein bisschen was von mir gehalten hat Müntefering vermutlich auch.
Wie haben Sie Angela Merkel kennengelernt?
Bei der konstituierenden Sitzung des Bundestages 2005. Da ist sie mir über den Weg gelaufen und ich habe gesagt: „Tag, Chefin!“ Merkel hat mich ganz groß angeguckt und gefragt: „Wieso Chefin?“ Ich habe geantwortet: „Na, das wollen Sie doch werden, oder?“ Das war unser erstes Gespräch. Dabei haben wir uns in ihrem Lieblingsrestaurant verabredet, bei Chez Maurice im Berliner Bötzowviertel. Das war ein sehr netter Abend, und Merkel hat unglaublich offen geredet. Ich habe ihr am Ende für ihre Offenheit gedankt – und geraten, das nicht bei jedem so zu handhaben. Es war ein bisschen der Beginn einer sehr respektvollen und fast freundschaftlichen Beziehung zwischen uns. Sie ist als Mensch und als Politikerin schon etwas Besonderes.
Sie haben sich gut verstanden?
Ja. Das hat sich auch nie verändert. Natürlich stimme ich nicht mit allem überein, was die Kanzlerin tut, aber ich kann bis heute trotzdem nichts wirklich Negatives über Angela Merkel sagen. Als frühere Umweltministerin war sie für mich eine große Verbündete, gerade zum Anfang. Sie hat mir mal gesagt: „Wissen Sie, Herr Gabriel, solche Ideen wie Sie, die hatte ich als Umweltministerin auch. Aber der Kohl hat das meiste davon verhindert. Wir beide machen das jetzt zusammen.“ Das hat mir natürlich gefallen.
War das der Grund dafür, warum Sie in einem eigentlich fremden Politikfeld so schnell reüssieren konnten?
So fremd war es mir gar nicht. Klar, Müntefering hatte mich nicht ins Kabinett geholt, weil er mich für so einen begnadeten Umweltexperten gehalten hat. Aber: Begonnen hat mein politisches Engagement mit dem Kampf gegen eine Giftmüll-Verbrennungsanlage. Ich war Vorsitzender des Umweltausschusses in Goslar und mein erster Ausschuss im niedersächsischen Landtag war der Umweltausschuss. Die Materie lag mir nahe. Deshalb konnte ich schnell loslegen.
Würden Sie sagen, dass das Ihre größte Stärke ist: sich in neue Themen einzuarbeiten? Wittern, wo es Erfolge zu holen gibt?
Ja, aber es gibt dafür eben die Voraussetzung: Man braucht als Politiker eine innere Beziehung zu dem Thema, für das man Verantwortung übernehmen soll. Das war bei Umwelt so, bei Wirtschaft und bei Außenpolitik auch. Die Anknüpfungspunkte finden Sie in meinem Lebenslauf. In anderen Politikfeldern gibt es die weit weniger oder gar nicht. Anders ausgedrückt: Ich glaube nicht, dass aus mir ein guter Gesundheitsminister geworden wäre.
Wie wird man ein guter Minister?
80 Prozent dessen, was wir in der Politik tun, ist Handwerk, 10 Prozent Intuition, 10 Prozent Glück. Von jemandem, der so lange Politik macht wie ich, darf man erwarten, dass er wenigstens sein Handwerk versteht. Dazu gehört es, einem Ministerium zu vertrauen, sich nicht mit seinen Beratern abzuschotten und nicht auf die Parteibücher der Menschen zu achten, die man vorfindet.
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Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel: „Ich hatte gar keine echten Stellvertreter.“
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Gabriel ist jetzt wach. Er sitzt jetzt aufgerichtet in seinem Stuhl, hat die Brille abgenommen. Er weiß, als Nächstes kommt eine der stärksten Perioden in seinem politischen Leben zur Sprache, jene Phase, in der er den SPD-Vorsitz übernommen und die Partei nach der verheerenden Wahlniederlage 2009 wieder aufgerichtet hat.
Wie sind Sie Parteivorsitzender geworden?
Nach der Niederlage 2009 wollte Frank-Walter Steinmeier Fraktions- und Parteichef werden. Olaf Scholz und ich sind zusammen zu ihm gegangen und haben gesagt: „Frank, wenn du das willst, unterstützen wir dich. Aber die Strecke bis zum Parteitag ist lang, und die Stimmung ist schlecht. Wenn du zu viel willst, wirst du am Ende womöglich gar nichts.“
War das eine unterschwellige Drohung?
Nein, eine präzise Beschreibung der Lage. Steinmeier brauchte keine 24 Stunden, um das einzusehen. Dann kam die berühmte Viererrunde mit Olaf Scholz, Andrea Nahles, Klaus Wowereit und mir. Die anderen wollten alle nicht, und da habe ich gesagt: „Also, ich würde es machen.“ Dann kam der Parteitag in Dresden und dann war ich es.
Beim Parteitag haben Sie eine Rede gehalten, die in die Geschichte der SPD eingegangen ist. Zentral war der Satz „Wir müssen raus ins Leben; da, wo es laut ist; da, wo es brodelt; da, wo es manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt.“ Damit haben Sie der Partei neuen Mut eingehaucht.
Ja, auf dem Parteitag war der Jubel riesengroß. Aber als es mal ernst wurde, war das vielen zu unangenehm. Ich erinnere mich noch gut daran, wie einige Jahre später selbst meine damalige Generalsekretärin hysterisch wurde, als ich der Einladung der Landeszentrale für politische Bildung in Dresden zu einer Diskussion von Pegida-Befürwortern und Gegnern gefolgt bin. Der Aufschrei der Empörung war riesig und es wurde daraus die Behauptung gemacht, ich sei „zu Pegida gegangen“, was völliger Unsinn war.
Wie war es dann?
Ich wollte einfach mal an einem neutralen Ort wie einer Landeszentrale für politische Bildung zuhören und erfahren, was die Menschen damals zu Pegida drängte, denn damals war das noch eine ganz neue Entwicklung. Ich fand es absurd, dass große Teile meiner Partei und auch viele Medien lieber in den Formeln der Political Correctness erstarrten, als sich dafür zu interessieren, was da im Osten Deutschlands begann und heute mit großen Wahlerfolgen der AfD endete. Übrigens ist der damalige Organisator der Diskussion gerade für die SPD bei den Landtagswahlen in Sachsen angetreten. Als ich bei ihm war, gehörte er noch der CDU an.
Zurück zu Ihrer Wahl als Parteichef. Warum hat die Anfangseuphorie nicht gehalten?
Es lief in der Tat durchaus gut an. Wir haben uns in den Umfragen nach oben gearbeitet, neun Landtagswahlen in Folge gewonnen, viele wichtige Vorhaben durchgesetzt – vom Mindestlohn bis zur Rente nach 45 Versicherungsjahren – und immerhin zwei Bundespräsidenten durchgesetzt. Bei der Bundestagswahl 2013 erreichten wir fast 26 Prozent – eine Marke, von der wir heute träumen. Aber ich hatte schnell das Gefühl gehabt, dass viele in mir nur einen Übergangsvorsitzenden gesehen haben, vor allem im Präsidium.
Sie reden über Ihre Stellvertreter?
Mein Eindruck war: Ich hatte gar keine echten Stellvertreter. Einer fühlte sich mehr als Vertreter des linken Parteiflügels, der nächste saß dort als Statthalter seines großen Landesverbandes, der dritte verfolgte seine eigenen Kanzlerambitionen und so weiter. Eine Ausnahme allerdings gab es: die damalige SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles. Wir beiden sind sicher nicht das, was man beste Freunde nennt, aber eines ist gewiss: Sie war und ist vermutlich bis heute jemand, dem nichts wichtiger ist als die SPD.
Zu Andrea Nahles kommen wir später noch. Zunächst würden wir gerne verstehen, was genau Sie Ihren Stellvertretern von damals vorwerfen. Sie haben doch auch immer eigene Ambitionen verfolgt.
Klar, das tut jeder in der Politik. Aber ich glaube von mir sagen zu können, dass ich eigene Ambitionen immer hinter das Wohl der SPD zurückgestellt habe. Sonst hätte ich nicht zweimal den aussichtsreicheren Kandidaten für die Bundestagswahlen Platz gemacht, einmal Peer Steinbrück und einmal Martin Schulz. Ich habe den SPD-Vorsitz sogar freiwillig abgegeben, weil mein Eindruck war, dass die SPD nach fast acht Jahren Sehnsucht nach jemand Neuem hatte. Das ist mir damals sehr, sehr schwergefallen. Aber gerade hier aus Niedersachsen kamen ja die Stimmen, die nach Martin Schulz und später nach Andrea Nahles riefen.
Sie meinen, Ihr eigener Landesverband ist Ihnen in den Rücken gefallen?
Die Entwicklung, die mit dem Rücktritt von Andrea Nahles endete, hatte ganz wesentlich hier in Niedersachsen ihren Ausgangspunkt. Es ist fast schon eine Ironie der SPD-Geschichte, dass sich nach dem Rücktritt von Andrea Nahles dann alle in die Büsche geschlagen haben. Öffentliche Verantwortung für die SPD als Ganzes zu übernehmen ist offenbar nicht jedermanns Sache. Ich dachte damals jedenfalls, ich sei es meiner SPD schuldig, freiwillig zu gehen, wenn viele nach einem neuen Hoffnungsträger rufen. In meinen letzten Jahren als Vorsitzender bin ich immer häufiger mit Magendrücken zu den Gremiensitzungen gefahren und war dann doch froh, als es vorbei war.
Sind Sie da nicht ein bisschen larmoyant? Viele in Ihrer Partei sagen, Sie hätten zur Vergiftung des Klimas beigetragen.
Vergiftet ist ein Klima, wenn sich niemand mehr traut, offen zu sagen, was er oder sie denkt. Ich behaupte nicht, dass ich keine Fehler gemacht hätte, und manche Debatte habe ich sicher viel zu hart geführt. Allerdings – und diesen Unterschied fand ich jedenfalls für mich wichtig – immer mit offenem Visier und ohne die leider in Berlin weit verbreitete Heckenschützenmentalität. Ich habe immer gedacht, dass Klarheit wichtig ist, und wollte nicht taktisch nachgeben, nur damit sich niemand vergrault fühlt. Aber das war sicher nicht immer gewinnend, um es mal zurückhaltend auszudrücken.
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Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel: „Großen Respekt vor Steinbrück.“
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Im Jahr 2012 kommt Gabriel zu der Einsicht, dass er nicht genug Rückhalt in der Partei für eine Kanzlerkandidatur hat. Auch in der Bevölkerung sind seine Beliebtheitswerte schlecht. Er erfindet deshalb die Troika mit Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück, aus deren Reihen der Kanzlerkandidat für die Bundestagswahl 2013 hervorgehen soll. Die Wahl fällt am Ende auf Steinbrück, dessen Name aber eher zufällig bekannt wird. Nach dem vermasselten Wahlkampfstart geht schief, was schiefgehen kann.
Wären Sie 2012 nicht besser selbst angetreten?
Man muss als Vorsitzender einer Partei immer klären, wer bei einer so wichtigen Kandidatur als Person die besten Ausgangsvoraussetzungen hat. Den Satz einer früheren SPD-Spitzenpolitikerin „Und was wird aus mir?“ muss man sich verbieten. Und erinnern Sie sich mal: Gerhard Schröder und Helmut Schmidt haben sich damals für Peer Steinbrück ausgesprochen. Da war es für mich gar keine Frage, zurückzustehen. Übrigens waren Steinbrück und ich damals gemeinsam der Überzeugung, dass Frank-Walter Steinmeier noch mal antreten sollte. Aber er hat uns beiden mehrfach gesagt, dass er nicht zur Verfügung stehe. Erst danach haben wir uns alle auf Peer Steinbrück verständigt.
Im Wahlkampf 2013 standen Sie kurz vor dem Rücktritt, weil Kanzlerkandidat Peer Steinbrück Ihnen öffentlich Illoyalität vorgeworfen hatte. Wie haben Sie die Situation damals wahrgenommen?
Wir hatten eine längere Zeit unterschwellig laufende Meinungsverschiedenheiten über sein Auftreten, insbesondere im Zusammenhang mit den Nebenverdiensten. Das ist dann irgendwann aufgebrochen. Aber da Steinbrück auch jemand ist, der mit offenem Visier kämpft, konnten wir das aushalten und beilegen. Ich habe im Nachhinein sehr großen Respekt davor, was er damals alles öffentlich einstecken musste und es für die SPD ausgehalten hat. Denn nötig hatte er es nicht.
War die Wahlniederlage 2013 in Wahrheit die schlimmste der SPD? Immerhin haben Sie die gegen eine extrem unbeliebte schwarz-gelbe Regierung erlitten.
In der Wahl davor hatten wir doch sogar 3 Prozent weniger und lagen 2009 nur bei 23 Prozent. 2013 mit knapp 26 Prozent standen wir auch nicht blendend da, aber doch schon besser. Als ich damals im Parteivorstand gesagt habe, dass wir uns an Ergebnisse um die 25 Prozent vielleicht gewöhnen müssen, gab es wütende Proteste. Heute wären wir froh, wenn wir diese 26 Prozent noch erreichen würden.
Sich mit schlechten Wahlergebnissen einfach zufriedenzugeben kann aber doch auch nicht die Lösung sein.
In Wahrheit wollte ich nur darauf hinweisen, dass es doch nicht zu erwarten ist, dass die ganze Gesellschaft sich ausdifferenziert und es nur in der Parteienlandschaft so bleibt wie in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Das mag für die einzelne Partei unschön sein, für die Demokratie ist das aber noch kein Problem. Die SPD allerdings braucht eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Die Welt ändert sich gerade dramatisch. Bei uns aber gibt es noch viel zu viel Sehnsucht nach „der guten alten Zeit“. Die Zukunft wird oft als Zumutung empfunden.
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Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel: „Welche irrsinnigen Debatten wir damals in der SPD geführt haben.“
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Nach dem verkorksten Wahlkampf 2013 beweist Gabriel Führungsqualitäten. Fast im Alleingang führt er die widerwillige SPD in die große Koalition mit der Union. 76 Prozent der SPD-Mitglieder stimmen in einem Basisvotum für den Koalitionsvertrag. Gabriel wird Vizekanzler und Superminister für Wirtschaft und Energie. Er ist jetzt auf dem Höhepunkt seiner Macht.
Die SPD 2013 in die große Koalition zu führen gilt als Ihr politisches Meisterwerk. Danach sehen wir wieder das typische Gabriel-Muster: Am Anfang läuft es super, und dann geht es bergab. Woran liegt das?
Die SPD in Regierungsverantwortung zu führen ist keine leichte Aufgabe. Der größte Unterschied zwischen Konservativen und Sozialdemokraten ist doch: Konservative wollen regieren, Sozialdemokraten wollen recht haben. Solange man nicht Regierungspartei ist, ist der Streit innerhalb der eigenen Partei nicht so dramatisch. Wenn man aber regiert, erwarten die Wählerinnen und Wähler Klarheit, wohin die Reise gehen soll. Die Rechthaberei führt eher dazu, dass die Regierungsfähigkeit infrage gestellt wird. Und so war es auch.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
Mein Gott, welche irrsinnigen Debatten wir damals in der SPD geführt haben. Ich weiß noch, wie die SPD vor allem auf Druck ihres linken Flügels zwei Jahre lang die SPD an den Rand der Regierungsfähigkeit führen wollte, weil das Freihandelsabkommen Europas mit Kanada gestoppt werden sollte. Dass ganz Europa anderer Meinung war als Teile der SPD, hat niemanden irritiert. Das hatte fast schon absurde Züge. Als wir in der SPD mit knapper Mehrheit das Abkommen gebilligt haben, trat der prognostizierte Weltuntergang natürlich nicht ein. Heute gilt das Abkommen als beispielhaft und wir wären froh, wir hätten die Hälfte von dem, was mit Kanada gelang, auch mit den USA.
Schuld an der Misere der SPD ist also die Parteilinke?
Nein, das wäre zu viel der Ehre. Persönlich glaube ich zwar, dass sich diese „Flügelei“ längst überholt hat und auch nur eine folkloristische Erinnerung an die 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts ist. Eine Partei zwischen 12 und 15 Prozent hat mehr damit zu tun, auf die Beine zu kommen, als mit den Flügeln zu schlagen. Aber die Flügel in der SPD sind sicher nicht das eigentliche Problem. Die SPD leidet seit Jahrzehnten weit mehr darunter, dass wir klare Entscheidungen scheuen. Unsere Parteitagsanträge werden immer länger, weil wir jede Menge Absätze und Halbsätze hineinschreiben, damit sich auch ja jeder wiederfindet. Die Antragskommissionen für Parteitage sind die hohe Schule der Formelkompromisse. Kommt es dann zum Regieren, platzen diese Formelkompromisse natürlich, weil man sich im Regierungsalltag entscheiden muss. Oft zwischen dem, was geht, und dem, was vielleicht wünschenswert wäre, für das aber das Geld oder die Mehrheiten fehlen. Dann geht der Ärger los. An diesem Konflikt ist bislang noch jeder Parteivorsitzende aufgerieben worden. Deshalb ist programmatische Klarheit wichtig. Es ist doch ein Unding, dass die SPD-Mitglieder mit Mehrheit für die große Koalition stimmen und dann jahrelang diejenigen, die dabei unterlegen sind, versuchen, den Laden madig zu machen.
Welche Rolle hat die Flüchtlingskrise gespielt?
Das Offenhalten der deutschen Grenzen hat CDU und SPD etwa ein Fünftel ihrer Wählerstimmen gekostet. Wenn man wie die CDU/CSU bei 40 Prozent liegt, ist das weniger dramatisch, als wenn es 26 Prozent sind. Das ist vielleicht der Preis, den man für eine humanitäre Flüchtlingspolitik bezahlen muss.
Das klingt, als wollten Sie sagen, dass in der Flüchtlingspolitik keine Fehler gemacht worden sind.
Wenn es um die Öffnung der Grenze geht, sehe ich bis heute keine menschliche Alternative dazu. Die Fehler begannen danach. Der Hauptfehler war es meines Erachtens, sich den unangenehmen Seiten der Zuwanderung nicht zu stellen. Zu groß war die Sorge, man lande dabei auf der Seite der AfD. In Wahrheit haben die demokratischen Parteien durch ihre Weigerung, über die Probleme der Einwanderung zu reden, es den Rechtspopulisten eher einfacher gemacht. Phänomene wie dauerhafte Desintegration und Parallelgesellschaften existieren. Das kann man nicht bestreiten. Darauf immer nur die Antwort zu geben, man müsse „Haltung zeigen“, ist einfach zu wenig. Vor allem verliert man diejenigen, die – ob berechtigt oder nicht – die große Zahl an Zuwanderern für ein Problem halten. Denen immer nur zu signalisieren, sie hätten „die falsche Haltung“, treibt sie in die Isolation. Die SPD trifft das mehr als andere Parteien, weil unsere Wählergruppe häufiger als andere mit den Flüchtlingen in Konkurrenz treten muss – einfach weil sie verwundbarer ist. Bei der Suche nach preiswertem Wohnraum, Arbeit oder Schulen.
Sie haben deshalb 2016 ein Solidaritätsprogramm für die deutsche Bevölkerung gefordert und dies wörtlich mit der Gefahr eines „Auseinanderfliegens“ der deutschen Gesellschaft begründet.
Das Blöde war nur: Außer Frank-Walter Steinmeier und mir wollte niemand ein solches Programm. Meine eigenen Leute nicht, weil die meinten, allein das Darüberreden brächte uns in die Nähe der AfD. Und der damalige Finanzminister Wolfgang Schäuble wollte es auch nicht, weil er wusste, dass die SPD mit einem Wahlkampf um einen neuen Solidarpakt nicht nur seinen ausgeglichenen Haushalt infrage stellen würde, sondern vor allem ein starkes Wahlkampfthema gehabt hätte.
Horst Seehofer hat das Risiko der Entscheidung sofort verstanden.
Ja, und trotzdem war es falsch, wie er reagiert hat. Das Land hatte ja nun mal offene Grenzen, was hätten wir denn tun sollen? Die Bundeswehr aufmarschieren lassen? Auf Flüchtlinge schießen? Das waren doch keine Optionen. Deshalb war es richtig, die Willkommenskultur zu loben. Die Fehler wurden später gemacht. Als zum Beispiel Andrea Nahles Anfang 2018 den banalen Satz gesagt hat „Wir können nicht alle bei uns aufnehmen“, sind die Berliner Jungsozialisten mit Kevin Kühnert an der Spitze über sie hergefallen. Dafür fehlt mir jedes Verständnis.
Die klare Orientierung, die Sie jetzt geben, haben Sie als SPD-Vorsitzender selten vermittelt. War das Ihr größtes Versäumnis?
Das stimmt, mich hat es auch erstaunt, dass meine Popularitätswerte dramatisch stiegen, als ich nicht mehr SPD-Vorsitzender und „nur“ noch Außenminister war. Ich weiß nicht, ob es „das große Versäumnis“ gab oder vielleicht auch nur eine abnehmende Fähigkeit und Geduld, unseren Laden zusammenzuhalten. Wir haben uns einfach nach und nach aneinander aufgerieben.
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Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel: „Ich fand den Spruch meiner Tochter damals eher lustig.“
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Zum Ende der großen Koalition hin ist Gabriels Rückhalt in der SPD weitgehend aufgebraucht. Die Partei dümpelt in Umfragen bei 20 Prozent vor sich hin, und die Genossen diskutieren die Frage, ob Gabriel Kanzlerkandidat werden kann. Er selbst zögert lange – und schlägt im letzten Moment seinen Freund Martin Schulz vor. Gabriel überlässt Schulz nicht nur die Kandidatur, sondern auch den Parteivorsitz. Er selbst wird Außenminister. Die SPD reagiert wie befreit.
Wie hart war es für Sie, als die Partei nach Ihrem Rückzug so euphorisch reagiert hat?
Ich habe das mit einem lachenden und einem weinenden Auge gesehen. Mit einem lachenden, weil ich gemerkt habe, dass meine Entscheidung in der Situation richtig war. Mit einem weinenden, weil mir das Amt des SPD-Vorsitzenden viel bedeutet hat. Obwohl es schmerzhaft war, als SPD-Vorsitzender zurückzutreten, fühlte ich mich danach wie befreit.
Haben Sie Dankbarkeit vermisst?
Ich habe lange zuvor gelernt, dass es die Kategorie Dankbarkeit in der sogenannten „großen Politik“ nicht gibt. Aber ich habe nach dem Ausscheiden aus dem Amt des SPD-Chefs auch gar nicht so viele unangenehme Erfahrungen gemacht. Im Gegenteil. Die meisten waren sehr angenehm.
Sie waren ja auch noch Außenminister …
Richtig. Und vielleicht war es gerade die Befreiung von den Reibungen im SPD-Parteivorsitz, die es mir so leicht gemacht hat, dieses Amt auszufüllen.
Wären Sie auch gerne nach der Bildung der erneuten GroKo Außenminister geblieben?
Das ist kein Geheimnis. Deshalb habe ich auch sehr emotional reagiert, als Martin Schulz mir entgegen allen zuvor abgegebenen Versprechungen verkündet hat, dass er dieses Amt nun anstrebt.
Sie haben damals öffentlich Ihre Tochter Marie zitiert mit den Worten: „Papa, jetzt hast du doch mehr Zeit mit uns. Das ist doch besser als mit dem Mann mit den Haaren im Gesicht.“ Sind Sie damit nicht zu weit gegangen?
Ich fand den Spruch meiner Tochter damals eher lustig, aber keine Frage: Den hätte ich besser für mich behalten. Deshalb habe ich mich bei Martin Schulz entschuldigt. Aber auch wir Politiker haben Emotionen und sind keine Maschinen.
Wie ist das Verhältnis heute?
Wir verstehen uns sehr gut und reden sehr häufig miteinander. Wir haben ja jetzt beide mehr Zeit.
Würden Sie sich noch als Freunde bezeichnen?
Ja, aber über diese Freundschaft könnten wir mal ein gesondertes Interview führen. Sie entsteht auch gelegentlich in der Politik, aber wo es sie gibt, hat sie dann nichts mehr mit ihr zu tun.
Wie war das, als Andrea Nahles und Olaf Scholz Ihnen mitgeteilt haben, dass es für Sie keinen Platz im Kabinett mehr gibt?
Das war nicht überraschend.
Warum hat das mit Ihnen und Andrea Nahles nicht funktioniert? Was Herkunft und Heimatverbundenheit angeht, sind Sie sich doch gar nicht so unähnlich.
Da ist manches zwischen uns ähnlich, anderes aber grundverschieden. Ich komme zum Beispiel nicht aus dem Strippenzieher-Lager der damaligen Jusos, sondern bin bei Falken und in der Kommunalpolitik sozialisiert. Im Kern haben Andrea Nahles und Olaf Scholz mich wohl einfach für zu unabhängig gehalten. Und rückblickend würde ich sagen: Die hatten recht, denn mit der Art, wie danach die SPD-Führung agiert hat, wäre ich nicht einverstanden gewesen. Die Einschätzung, dass wir drei dabei in Konflikte geraten wären, war schon richtig. Das Ende dieses Modells kam allerdings dann schneller, als selbst ich erwartet hätte. Trotzdem ist Andrea Nahles ein großer Verlust für die SPD. Und obwohl ich nicht mit ihr befreundet bin, fand ich es bitter, mit ansehen zu müssen, wie ein Engagement dieser Größe so enden konnte.
Hätte Andrea Nahles der Partei einen letzten Dienst erweisen und bis zum Parteitag im Amt bleiben sollen?
Ihr eigener Eindruck war offenbar, dass sie in der Bundestagsfraktion und an der Basis der SPD keinen ausreichenden Rückhalt mehr hatte. Wenn man als Vorsitzender dieses Gefühl hat, dann ist es nur konsequent, zu gehen.
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Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel mit RND-Redakteuren Andreas Niesmann (l.) und Matthias Koch: „Wenn fast alle sozialdemokratischen Parteien in Europa das gleiche Problem haben, dann kann es nicht nur an Personen liegen.“
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Seit dem Rücktritt von Andrea Nahles befindet sich die SPD im Umbruch. Auf insgesamt 23 Regionalkonferenzen wetteifern sieben Kandidatenduos und ein Einzelbewerber um die Gunst der Parteimitglieder. Am Ende sollen die Mitglieder abstimmen. Aller Voraussicht nach bekommt die SPD eine Doppelspitze.
Sie waren acht Jahre lang allein SPD-Vorsitzender. Hätten Sie sich eine Doppelspitze vorstellen können?
Och, ich hatte damals vom ersten Tag an jede Menge Leute im SPD-Vorstand, die sich für die besseren Vorsitzenden hielten (lacht). Aber jetzt mal ganz im Ernst: Wussten Sie, dass die SPD tatsächlich die Erfinderin der Doppelspitze war? Wir waren die erste Partei in der deutschen Geschichte, die zwei gleichberechtigte Vorsitzende hatte. Aber aus anderen Gründen als heute: Im Kaiserreich und in der Weimarer Republik hatten wir zwei Vorsitzende, weil es die permanente Angst gab, dass einer verhaftet würde. Als vor vier Jahren die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen eine Doppelspitze vorschlug, war ich allerdings der Einzige in der SPD-Parteiführung, der das ganz gut fand. Heute kandidieren einige als Doppelspitze, die das damals für absurd erklärt hatten. Man sieht: Es kommt immer auf die Umstände an.
Aus dem Willy-Brandt-Haus heißt es, die Mitglieder hätten sich in Hunderten von Rückmeldungen genau dieses Verfahren gewünscht.
Es haben sich etwas mehr als 20.000 Mitglieder gemeldet, von denen ein Teil die Doppelspitze gut fand. Wie die anderen 420.000 Mitglieder denken, werden wir am Ende des Prozesses sehen. In jedem Fall haben alle, die da jetzt kandidieren, Respekt für ihren Mut verdient.
Hat die SPD ein Personalproblem?
Wenn fast alle sozialdemokratischen Parteien in Europa das gleiche Problem haben, dann kann es nicht nur an Personen liegen. Ich staune deshalb ein bisschen darüber, dass es trotz der wirklichen Existenzkrise der Sozialdemokratie auch bei der aktuellen Kandidatenkür keine wirkliche programmatische Kontroverse und keinen Streit um den richtigen Weg gibt. Eigentlich müsste es nur so rumsen vor spannenden Kontroversen über die Zukunft unseres Landes und der SPD. Aber vielleicht kommt das noch. Zurzeit scheint es so, als komme es nur darauf an, die richtigen Personen zu finden. Ich glaube, dass das nicht unwichtig, aber am Ende zu wenig ist.
Nach unserem Eindruck wird bei den Regionalkonferenzen auch viel über Inhalte diskutiert.
Meinetwegen, aber über welche Inhalte? Da überbieten sich jetzt alle mit immer linkeren Forderungen. Norbert Walter-Borjans will keine Rüstungsexporte mehr, Olaf Scholz ist auf einmal für die Vermögenssteuer – obwohl jeder weiß, er war immer dagegen. Wo soll das hinführen? Der Platz links von der SPD ist besetzt.
Welche Debatte würden Sie führen?
Die Frage ist doch: Was kommt da alles auf Deutschland und Europa zu? Wie wollen wir Sozialdemokraten damit umgehen? Und wie erhalten wir die Idee eines freien und selbstbestimmten Lebens für jedermann unter völlig veränderten Bedingungen aufrecht? Denn der Sozialstaat der Sozialdemokratie war doch ursprünglich ein emanzipatorisches Projekt, bei dem auch für die, die aufgrund ihrer Herkunft weniger Chancen hatten, die Freiheitsspielräume eröffnet werden sollten. Heute ist er mehr zu einem Sozialhilfestaat degeneriert. Wie macht man ihn wieder zu einem Freiheitsprojekt, denn das ist doch die Idee der Sozialdemokratie: Freiheit nicht nur von Not und Unterdrückung, sondern vor allem zu einem selbstbestimmten Leben. Willy Brandts Buch hieß doch „links und frei“ und nicht „links und sozial gerecht“.
Sie plädieren für eine linksliberale SPD?
Wenn es zu einer inhaltlichen Kontroverse kommt über die Richtung, die die SPD für Deutschland einschlagen will, wäre das großartig. Denn diejenigen, die dann die Mehrheit bekommen, hätten nicht nur die personelle Autorität eines Mitgliederentscheids hinter sich, sondern auch die programmatische. Es wäre endlich Klarheit und Schluss mit den Formelkompromissen, die spätestens immer dann aufbrechen, wenn die SPD in die Regierung kommt. Das ist doch der eigentliche Grund, warum immer wieder SPD-Vorsitzende scheitern.
Olaf Scholz, der letzte Überlebende aus Ihrer Politikergeneration und Ihr Dauerrivale, will jetzt selbst Parteichef werden. Wie schätzen Sie seine Chancen ein?
Olaf Scholz ist der prominenteste der Bewerber. Deshalb hat er auch gute Chancen. Es ist aber kein Geheimnis, dass ich die Kandidatur des niedersächsischen Innenministers Boris Pistorius zusammen mit der sächsischen Integrationsministerin Petra Köpping für das spannendste Duo halte. Beide haben feste Wurzeln in der Kommunalpolitik, sind nah am Alltag der Menschen und deshalb gut geerdet. Das braucht die SPD jetzt und es wäre ein echter Neubeginn.
Haben Sie denn kein Verständnis für junge Leute in der SPD, die sagen: Wir brauchen jetzt endlich mal einen Neuanfang, und zwar deutlich weiter links als bisher?
Doch, na klar. Als ich 16 war, fand ich das, was die SPD machte, auch bei Weitem nicht ausreichend. Das wäre ja entsetzlich, wenn sich die junge Generation mit dem zufriedengeben würde, was die Generation der 50- bis 70-Jährigen so hinbekommt. Das heißt aber nicht, dass wir einfach mal alles machen, was uns die engagierte junge Generation so auf den Weg gibt. Denn auch bei denen kommt nur ein Teil der Gesellschaft vor, Fridays for Future ist zumindest mehrheitlich eine Bewegung von Gymnasiasten. Viele Berufsschüler, Haupt- und Realschüler treiben auch andere Fragen um. Ich weiß, dass es unpopulär ist, für Konsens und Kompromisse zu werben. Aber genau das ist die Aufgabe der Politik, wenn man ein Land zusammenhalten will. Radikale Lösungen klingen super, aber sie neigen dazu, andere auszugrenzen.
Wie sähe Ihre Antwort auf die Klimabewegung aus?
Fridays for Future und Greta Thunberg haben eine wunderbare Bewegung in Gang gesetzt. Aber eine solche Bewegung kann nicht Politik ersetzen, und vor allem ist so eine Bewegung nicht verantwortlich für den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Das sind wir. Wir müssen den Mut haben, dafür zu sorgen, dass für notwendigen Wandel genug Zeit da ist. Sonst verlieren wir die Menschen. Die Erfolge der AfD in den Braunkohlerevieren der Lausitz haben doch gerade gezeigt, dass wir das nicht in ausreichendem Maße schaffen.
Thunberg und ihre Anhänger argumentieren, Zeit wurde beim Klimaschutz schon genug verloren – jetzt müsse Politik endlich handeln. Arbeitsplatzverluste sehen sie als notwendiges Übel an.
Das lässt sich leicht sagen, wenn man selbst nicht betroffen ist. Das Motto „Wo gehobelt wird, fallen Späne“ darf es in der Demokratie nicht geben. Einfach weil es bei uns keine überflüssigen Menschen gibt. Es ist ganz einfach, für Klimaschutz zu sein, wenn einem der Erfolg des Industrielandes Deutschland und seine Arbeitsplätze egal sind. Und es ist genauso einfach, für wirtschaftlichen Erfolg zu sein, wenn der Klimaschutz egal ist. Die wirklich schwierige Aufgabe ist es, beides zusammenzubringen. Nur wenn wir das schaffen, werden uns übrigens ärmere Länder folgen. Die SPD muss die Partei bleiben, die auch dann, wenn es Gegenwind gibt, den mühsamen Weg geht, Arbeit und Umwelt zusammenzubringen. Eine SPD aber, die grüner als die Grünen ist oder linker als die Linkspartei, braucht niemand.
Die dänischen Sozialdemokraten verbinden neuerdings eine linke Steuer- und Sozialpolitik mit einem konservativen Kurs beim Thema Asyl. Was halten Sie davon?
Ich glaube, dass es bei den dänischen Sozialdemokraten um viel mehr geht als um die Asylpolitik. Eigentlich geht es um die Globalisierung, Die hat in den letzten Jahren das Motto ausgegeben: Alle Grenzen müssen fallen. Nicht nur für Menschen, sondern auch für Daten, Kapital, Finanzprodukte und so weiter. Nach dem jahrzehntelangen Globalisierungsmotto „Öffnung aller Grenzen“ hat in unseren Gesellschaften das Nachdenken darüber begonnen, wo eigentlich die Grenzen der Öffnung liegen. Das Bedürfnis nach Sicherheit und Überschaubarkeit ist gestiegen. Das haben die dänischen Sozialdemokraten gespürt und keine Angst davor gehabt, sich dieser Debatte zu stellen.
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Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel: „Ich käme ohnehin nicht auf den Gedanken, etwas anderes sein zu wollen als Sozialdemokrat.“
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Gabriel hat sich ein bisschen in Rage geredet. Man merkt, dass ihm das alles noch sehr nahegeht und ihm die Entwicklung seiner Partei nicht egal ist. Zwischendurch ist er aufgestanden, um zu telefonieren. Ein Unternehmer aus Sachsen-Anhalt hat ihn um Hilfe gebeten. Er bekommt häufiger Anrufe aus der Wirtschaft. Dort ist er nach wie vor ein gefragter Ansprechpartner.
Sie haben im Sommer angedeutet, dass Sie im Herbst Ihr Bundestagsmandat niederlegen könnten. Haben Sie sich schon entschieden?
Wenn ich es hätte, würde ich es Ihnen heute nicht verraten. Aber sagen wir mal so: Um meinen 60. Geburtstag herum werde ich ja genügend Zeit haben, um über all diese Sachen einmal nachzudenken.
Streben Sie einen Wechsel in die Wirtschaft an?
Nein. Ich schreibe Beiträge für ein großes Medienhaus in Deutschland, ich habe zwei Lehraufträge. Es ist nicht so, als ob ich nichts zu tun hätte.
Sie sind in diesem Gespräch stellenweise sehr hart mit Ihrer Partei ins Gericht gegangen. Bleiben Sie der SPD treu?
Ja, sicher. Wer die SPD liebt, muss sich für und mit ihr streiten.
In Frankreich hat Emmanuel Macron seine ganz eigene Reformpartei gegründet, La Republique en marche. Wäre das ein Modell für Sie?
Die Verhältnisse in Frankreich sind völlig andere als in Deutschland. Wir haben kein Präsidialsystem, vor allem aber sind trotz aller Probleme unsere Parteien nicht annähernd so kaputt wie die französischen. Ich käme ohnehin nicht auf den Gedanken, etwas anderes sein zu wollen als Sozialdemokrat. Helmut Schmidt ist mal gefragt worden, ob er eigentlich in der falschen Partei sei. Da hat er gesagt, er sei in der richtigen Partei, nur die wisse das nicht immer. Ich will mich nicht mit Helmut Schmidt vergleichen. Aber diese Antwort fand ich schon gut.
Herr Gabriel, vielen Dank für dieses Gespräch.
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