„Liebes deutsches Volk“

Selenskyj im Bundestag: eine wuchtige Rede und ein zorniges Nachspiel

Wolodymyr Selenskyj bei seiner Rede im Bundestag.

Wolodymyr Selenskyj bei seiner Rede im Bundestag.

Berlin. Als das Hin und Her vorüber ist, lässt Norbert Röttgen seinem Zorn freien Lauf. „Das war heute der würdeloseste Moment im Bundestag, den ich je erlebt habe!“, schreibt der CDU-Außenpolitiker bei Twitter. Dabei gehört er dem Parlament seit über 25 Jahren an.

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Mit dem Zorn ist Röttgen nicht allein. Denn soeben hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im Hohen Haus eine Video­ansprache gehalten. Die Ansprache fällt wuchtig aus. Dabei ist die Wucht nur ein schwacher Abglanz jener Wucht, mit der russische Truppen seit dem 24. Februar die Ukraine angreifen. Während der online übertragene Auftritt Selenskyjs aus Kiew als historisch gelten kann, ist das, was ihm im 1200 Kilometer entfernten Berlin folgt, jedoch alles andere als das. Das Parlament tut: nichts. Oder es versucht, nichts zu tun. Beides misslingt.

Selenskyj appelliert an Scholz: „Helfen Sie uns, diesen Krieg zu stoppen“

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat sich am Donnerstag­morgen in einer Video­ansprache an den Bundestag gewandt.

Um kurz vor neun nimmt die grüne Bundes­tags­vize­präsidentin Katrin Göring-Eckardt in Vertretung der coronainfizierten Parlaments­präsidentin Bärbel Bas (SPD) auf ihrem Stuhl Platz und sagt, die Selenskyj-Rede werde sich noch etwas verzögern, weil es in der Nähe seines Aufent­halts­ortes offenbar einen Anschlag gegeben habe. Das steigert die ohnehin bestehende Dramatik weiter.

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„Eine Ehre, dass Sie heute zu uns sprechen“

Um 9.05 Uhr geht es tatsächlich los. Göring-Eckardt, die unter dem dunklen Jackett ein gelbes Shirt in Anspielung auf eine der beiden ukrainischen Nationalfarben trägt, sagt: „Herr Selenskyj, wir begrüßen Sie sehr herzlich. Es ist uns eine Ehre, dass Sie heute zu uns sprechen werden.“ Die Grünen-Politikerin mahnt: „Dieser Krieg muss beendet werden. Russland muss seine Angriffe einstellen und seine Truppen aus der Ukraine abziehen.“

Stattdessen würden zivile Einrichtungen zerstört. Es treffe schutzlose Menschen, Alte und junge Mütter. Zugleich erinnert die Thüringerin an ihre DDR-Geschichte. Sie wisse, „dass Freiheit ein Geschenk ist und doch immer wieder erkämpft werden muss“, sagt Göring-Eckardt, die 1989 in der Opposition aktiv war.

Selenskyj sagt: „Liebes deutsches Volk“

Um 9.11 Uhr ist Selenskyj an der Reihe, diesmal nicht im T-Shirt, sondern in einem olivgrünen Oberhemd – und ansonsten in genau jener Umgebung, die Millionen Menschen mittlerweile aus dem Fernsehen kennen. Der Präsident spricht nicht bloß die fast vollzählig erschienenen Abgeordneten an, sondern sagt: „Liebes deutsches Volk“. Dann fährt er fort: „In diesen drei Wochen des Krieges kämpfen wir um unser Leben und unsere Freiheit.“

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Selenskyj verweist auf das Schicksal der Stadt Mariupol im Süden der Ukraine und sagt: „Alles, was es dort gibt, wird vernichtet.“ Die Menschen lebten 24 Stunden am Tag ohne Essen, ohne Trinkwasser, ohne Strom. Seit fünf Tagen werde ununterbrochen geschossen. Auch Babyn Jar sei attackiert worden – jener Teil von Kiew, an dem im Zweiten Weltkrieg Tausende Juden von Wehr­machts­soldaten ermordet wurden und den Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erst im vorigen Jahr besucht hatte.

Krieg in der Ukraine: Selenskyj verurteilt Angriff nahe Holocaust-Gedenkstätte
KYIV, UKRAINE - MARCH 02: Fire continues to burn in a sports complex across the street from the Kyiv TV Tower on March 02, 2022 in Kyiv, Ukraine. The country's president, Volodymyr Zelensky, said that at least five people were killed when a projectile struck the area yesterday, which is adjacent to the Babyn Yar Holocaust Memorial Center. (Photo by Chris McGrath/Getty Images)

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat die Attacke als Angriff auf die ukrainische Geschichte verurteilt.

Doch das Oberhaupt des von russischen Truppen attackierten Landes belässt es nicht bei tödlichen Beschreibungen. Vielmehr redet es den Deutschen und ihrer Regierung ins Gewissen. So spricht Selenskyj von der „Mauer inmitten Europas zwischen Freiheit und Unfreiheit“ und warnt mit Blick auf den von der Ukraine gewünschten Beitritt zur Europäischen Union, es kämen neue „Steine in die Mauer, wenn uns das versagt wird“.

Selenskyj beklagt ebenfalls „viele Verbindungen, die Ihre Konzerne noch mit Russland haben“. In dem Zusammenhang darf die umstrittene Ost­see­pipe­line Nord Stream 2 nicht fehlen. „Wir haben immer gesagt: Nord Stream 2 ist eine Waffe“, sagt er. „Was haben wir als Antwort bekommen? Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft.“

„Lieber Herr Bundeskanzler Scholz, zerstören Sie diese Mauer“

Schließlich kritisiert Selenskyj: „Sie wollen nicht hinter die Mauer gucken.“ Und er nimmt Bezug auf den einstigen US-Präsidenten Ronald Reagan, der wie Selenskyj Schauspieler war. „Zerstören Sie diese Mauer“, hatte Reagan 1987 an der Berliner Mauer gesagt. 2022 appelliert Selenskyj mit nahezu identischen Worten: „Lieber Herr Bundes­kanzler Scholz, zerstören Sie diese Mauer. Geben Sie Deutschland die Führungsrolle, die Deutschland verdient.“

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Selenskyj macht es wie sein Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, der auf der Tribüne sitzt. Er tritt selbstbewusst auf – und scheut bei Bedarf nicht davor zurück, unangenehm zu werden.

Die Rede dauert zwölf Minuten – zwölf Minuten, die es in sich haben, quittiert von stehendem Applaus der Abgeordneten, der bei AfD und Linken allerdings eher pflichtschuldigst als überzeugt ausfällt. Danach sieht man Selenskyj eilig aus seinem Sessel aufstehen – er wendet sich anderen Aufgaben zu, die ein Präsident im Krieg zu erledigen hat. Der Eindruck von Wucht entsteht denn auch dadurch, dass man erkennt: Der Mann hat wirklich keine Zeit. Er ist in Not.

In Berlin schließt sich zunächst ein Moment der Ruhe an – und dann Streit.

Zwar versichert der Kanzler zweieinhalb Stunden später bei einer Presse­konferenz mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg: „Wir stehen an der Seite der Ukraine.“ Das zeige sich auch in Waffen­lieferungen. „Deutschland leistet hier seinen Beitrag und wird das weiter tun“, sagt Olaf Scholz, versichert indes: „Die Nato wird nicht militärisch in diesen Krieg eingreifen.“ Stoltenberg hebt seinerseits die Bedeutung Deutschlands für das transatlantische Verteidigungs­bündnis hervor.

Ausgerechnet nach der Selenskyj-Rede soll das Parlament schweigen

Doch die Scholz-Rhetorik ist selbstredend nichts gegen die Selenskyj-Rhetorik. Im Übrigen ist es dem Vernehmen nach der Kanzler persönlich, der im Bundestag eine Debatte unterbunden hat. So kommt es, dass der Krieg gegen die Ukraine im Parlament in dieser Woche mehrfach Thema ist – und das Parlament ausgerechnet nach der Selenskyj-Rede schweigen soll. So hat es die Ampelkoalition aus SPD, Grünen und Liberalen gewollt. Das wiederum möchten CDU und CSU nicht stehen lassen.

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Entsprechend plädiert Unions­fraktions­chef Friedrich Merz dafür, die Tagesordnung kurzfristig zu ändern. Wann, wenn nicht jetzt, sei der richtige Zeitpunkt für eine Erklärung des Regierungschefs zum Stand des Konflikts und zur deutschen Haltung, fragt er. AfD und Linke unterstützten dies. Der Linke Jan Korte möchte auch gern über „das größte Militarisierungs- und Aufrüstungs­programm“ seit 1945 sprechen; er meint nicht die russische Armee, sondern die Bundeswehr.

Katja Mast von der SPD und Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann finden es hingegen besser, die Selenskyj-Rede einfach wirken zu lassen. Der FDP-Fraktions­vorsitzende Christian Dürr wirft Merz seinerseits ein „unwürdiges Schauspiel“ vor. Aus der Ampel verlautet, die Union habe der ursprünglichen Tagesordnung ja zugestimmt. Deren Antrag, nun spontan zu debattieren, lehnt die Koalition ab.

Das überzeugt selbst in den eigenen Reihen nicht alle – zumal plötzlich Geburtstags­wünsche an einzelne Abgeordnete, zweitrangige Personalien und die Einführung einer allgemeinen Corona-Impfpflicht auf der Tagesordnung stehen. Kampf um Leben und Tod hier, parlamentarisches business as usual da – die Kluft könnte kaum größer sein. Die Dimension des Ereignisses wird in einer Geschäfts­ordnungs­debatte zerrieben und banalisiert.

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Haßelmann bekennt im Anschluss, sie sei „sehr unglücklich mit dem heutigen Ablauf im Plenum“. Alle Beteiligten sollten den Tag „selbstkritisch bewerten“ und „dafür Sorge tragen, dass sich ein solcher Vorgang nicht wiederholt“. Ein anderes Mitglied der Grünen-Bundes­tags­fraktion bedauert: „Wir sind für Olaf Scholz in der Haftung. Das ist natürlich blöd.“

Der männliche Abgeordnete will seinen Namen lieber nicht genannt wissen. Nicht alle können an diesem Tag so frei sprechen wie Norbert Röttgen. Und wie Wolodymyr Selenskyj.

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