Seenotretter: „Die grausame Methode der Abschreckung muss aufhören“
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Das Seenotrettungsschiff „Sea-Eye 4“.
© Quelle: Bernd Wüstneck/dpa-Zentralbild/
Berlin. Herr Isler, wie ist die Lage auf dem Mittelmeer zwischen Nordafrika und Europa derzeit?
Die Lage spitzt sich gerade wieder zu. Das liegt vor allem daran, dass wir jetzt in eine Jahreszeit kommen, in der die guten Wetterperioden mit stiller See wieder deutlich länger dauern. Wir konnten in den letzten Jahren sehen, dass in der Zeit zwischen Mai und September viel mehr Menschen versuchen, Europa zu erreichen. Bereits in den vergangen Monaten haben mehr Menschen die Überfahrt versucht als im Vorjahreszeitraum, und auch die Zahl der Toten ist angestiegen.
Spielt die Corona-Pandemie dabei auch eine Rolle?
Ja, die Corona-Krise hat sicher einen maßgeblichen Anteil daran, dass es zu einer Verdreifachung der Abfahrten von Nordafrika und der Ankünfte vor allem in Italien kam. In Tunesien und den anderen Staaten Nordafrikas gibt es kein Kurzarbeitergeld, keine Corona-Rettungspakete, sondern da leiden die Wirtschaft und die Menschen ganz massiv.
Die Nordafrikanischen Staaten leben stark vom Tourismus, und der funktioniert seit einem Jahr nicht mehr und kommt so schnell auch nicht wieder auf die Beine. Die größte Gruppe der Menschen, die aus eigener Kraft in Italien ankommen, sind mittlerweile Tunesierinnen und Tunesier. Und das hat mit großer Sicherheit mit einer durch die Pandemie verursachten und länger andauernden Wirtschaftskrise zu tun.
Hunderte Flüchtlinge auf Lampedusa angekommen
Im Vergleich zum Vorjahr hat sich die Zahl der angekommenen Migranten mehr als verdoppelt.
© Quelle: Reuters
Wie verändert die Pandemie Ihre Arbeit als Seenotretter?
Die Pandemie erschwert uns die Vorbereitung auf den Einsatz und sorgt auch an Bord für zusätzlichen Aufwand. Was uns die Arbeit aber besonders schwer macht, ist das aktuelle Vorgehen der Italiener: Sie verhängen für die gesamte Crew nach einem Einsatz eine 14-tägige Quarantäne vor Anker auf dem Meer. Und das, obwohl alle Geretteten und alle Crewmitglieder negativ getestet wurden.
Das macht Italien nur mit Seenotrettern. Im Prinzip ist das ein expliziter Freiheitsentzug für Seenotretterinnen und Seenotretter. Das zielt natürlich darauf ab, es uns zu erschweren, möglichst schnell wieder in den Einsatz aufzubrechen.
Was unternehmen die Anrainerstaaten und die EU gegen das Sterben auf dem Mittelmeer?
Anstatt selbst etwas zu unternehmen, wollen die EU-Mitgliedsstaaten noch mehr mit Ländern wie Libyen und Tunesien zusammenarbeiten. Es scheint in der EU niemand etwas anderes zu wollen, als die Menschen von der Flucht abzuhalten. Und das gelingt in Libyen auch immer wieder. Allein an den zwei Tagen, an denen wir zuletzt 408 Menschen gerettet haben, hat die libysche Küstenwache über 800 Menschen vom Meer zurückgeholt und von der Flucht abgehalten.
Die EU-Staaten arbeiten dabei mit den Libyern zusammen. Wir nutzen eine Software, die uns nicht nur die Positionen von Schiffen, sondern auch von Flugzeugen anzeigt. Dadurch konnten wir mehrfach beobachten, wie Frontex-Flugzeuge über bestimmten Stellen im Meer kreisten, an denen sich offenbar Menschen in Seenot befanden. Als wir in einem dieser Fälle die Position erreicht hatten, sind wir nur noch auf ein verlassenes Boot mit abgebautem Motor gestoßen.
Sie gehen davon aus, dass die libysche Küstenwache die Menschen aufgenommen hat?
Exakt. Die Europäische Grenzschutzagentur informiert entweder die Rettungsleitstellen in Malta oder Rom – die in der libyschen Such- und-Rettungszone eigentlich gar nicht zuständig sind. Oder sie nimmt auf direktem Weg Kontakt mit der libyschen Küstenwache auf und hilft ihr dadurch, Menschen von der Flucht abzuhalten. Und das wäre völkerrechtswidrig. Für die Abgefangenen bedeutet das in der Regel einen Gefängnisaufenthalt in Libyen.
Schützt die Zusammenarbeit mit Libyen denn zumindest Menschen vor dem Ertrinken?
Nein, dieses völkerrechtswidrige System macht die Flucht sogar noch gefährlicher. Die Menschen rufen teilweise keine Hilfe mehr, wenn sie mit hochseeuntauglichen Schlauch- oder Holzbooten auf dem Meer sind, weil sie Angst haben, von der libyschen Küstenwache abgefangen zu werden. Das ist extrem besorgniserregend.
Die Politik muss jetzt erkennen, dass die grausame Methode der Abschreckung nicht funktioniert. Die Menschen versuchen es trotzdem. Deshalb muss diese unmenschliche Strategie sofort beendet werden. Es müssen unverzüglich staatliche Rettungsschiffe der EU-Staaten in dieses Einsatzgebiet geschickt werden, um die Rettungskapazität vor Ort wieder permanent zu erhöhen und viele Tote im Sommer zu verhindern.