Regelbetrieb an Schulen: Streit um Plan B für die zweite Welle
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Nordrhein-Westfalen, Münster: Eine Schülerin der Klasse 8a der Gesamtschule in Münster, sitzt nach den Sommerferien mit einer Mund- und Nasenmaske an ihrem Tisch und schreibt etwas in ihren Stundenplan.
© Quelle: Guido Kirchner/dpa
Berlin. Es war ein ungewöhnliches Format, in dem an diesem Donnerstagabend im Bundeskanzleramt über die Sorgen und Nöte der deutschen Schulen debattiert wurde: Zu einem “informellen Austausch” kamen da Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die SPD-Co-Vorsitzende Saskia Esken und die Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) zusammen, um über die Probleme der Lehranstalten in Zeiten der Pandemie zu reden.
Konkrete Beschlüsse waren nicht geplant, dafür waren auch noch mehrere Kultusminister der Länder da, die ja die eigentlich Zuständigen für die Schulen sind.
Dass die zahlreichen Probleme der Schulen, die sich in der ersten Lockdown-Phase gezeigt hatten, aus Sicht von Lehrern, Lernenden und Eltern längst nicht gelöst sind, hatte sich im Vorfeld in geballter Form gezeigt.
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Am Evangelischen Gymnasium zum Grauen Kloster müssen die Schüler auch im Klassenzimmer eine Maske tragen und ganz viel lüften.
© Quelle: Reuters
Viele Risiko-Patienten unter den Lehrern
So war die Kritik daran nicht abgerissen, dass die Schulen nach den Sommerferien ohne ausreichende Rück- und Notfallpläne wieder in den Regelbetrieb geschickt wurden. Prompt mussten in den betroffenen Ländern mehrere Schulen wieder geschlossen werden, weil schon nach wenigen Tagen Corona-Fälle aufgetreten waren.
Zudem müssten mit Beginn des neuen Schuljahrs in etlichen Bundesländern viele Lehrer wieder unterrichten, die zur Corona-Risikogruppe zählten und noch vor den Ferien im Homeoffice bleiben durften. Laut “Spiegel” befreite etwa Schleswig-Holstein nur 100 der 2000 Lehrkräfte, die aus Gesundheitsgründen Homeoffice beantragt hatten, von der Präsenzpflicht - etwa 0,4 Prozent aller Lehrer im Bundesland.
In Mecklenburg-Vorpommern durften in der ersten Pandemiephase 34 Prozent der Lehrer zu Hause arbeiten, nun nur noch 1,5 Prozent. In mehreren Ländern wurden auch die Bedingungen für das Homeoffice verschärft: Statt einem ärztlichen Attest ist nun die Gesamtschau eines Arbeitsmediziners nötig.
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Der Nordosten macht den Anfang – in Mecklenburg-Vorpommern hat das neue Schuljahr begonnen. Andere Bundesländer folgen in Kürze.
© Quelle: dpa
Was passiert, wenn Lehrer ausfallen und Schüler wieder daheim unterrichtet werden müssen, ist vielerorts unklar. Für die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) haben deshalb Politik und Verwaltung versagt. “Sie hätten die Zeit in den Sommerfeien besser nutzen müssen”, sagte die GEW-Vorsitzende Marlis Tepe dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Nötig seien Pläne, damit sich Schulen und Lehrkräfte auf unterschiedliche Szenarien einstellen können.
“Es wäre gut gewesen, wenn die Gesundheitsämter vor Ort mit jeder einzelnen Schule ein Konzept vereinbart hätten, wie die Gesundheit der Lehrkräfte, Schüler und deren Eltern bestmöglich geschützt und Infektionen vermieden werden können – einschließlich des Schülertransportes”, so Tepe. Das sei zu selten geschehen und müsse nun nachgeholt werden, so Tepe. Es brauche “tragfähige Konzepte für einen Mix aus Präsenz- und Fernunterricht” und die dafür nötige Ausstattung mit Geräten für digitales Lernen.
Grüne fordern echten Bildungsgipfel
So sieht es auch die Opposition im Bundestag: Zwar spräche die Studienlage inzwischen klar gegen “pauschales Schließen von Kitas und Schulen als Erstmaßnahme”, sagte die bildungspolitische Sprecherin der Grünen, Margit Stumpp, dem RND. Zudem verschärften Schulschließungen und eingeschränkter Präsenzunterricht die Bildungsungerechtigkeit.
Allerdings müsse man damit rechnen, dass “ganze Klassenverbände oder Schulen” nach Infektionen wieder ins Homeschooling müssen – und sie darauf vorbereiten, so die Grüne: “Dazu gehören neben geeigneten Hygienekonzepten oder der zeitnahen Schaffung von Möglichkeiten digitaler Erreichbarkeit auch Überlegungen, wie zusätzliche personelle Kapazitäten und außerschulische Räume zur Verfügung gestellt werden könnten.”
Die Schulen bräuchten dafür klare Vorgaben, aber auch zusätzliche Mittel, mehr Personal und Unterstützung bei der Umsetzung, so Stumpp. Zur Festlegung solcher gemeinsamer Linien fordern die Grünen mehr als ein informelles Gespräch, vielmehr einen “Bildungsgipfel unter Beteiligung relevanter Akteure”.
Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD), verteidigte die Entscheidung für den Regelbetrieb: Sie sei in der KMK und mit vielen Experten im Konsens getroffen worden, weil Schulen auch Orte des sozialen Kontaktes seien.
“Wir leben noch immer in einer Pandemie und es wird sicherlich wieder lokal zu Schulschließungen oder Quarantäne-Maßnahmen kommen”, sagte Hubig dem RND. “Deshalb können wir aber nicht eine ganze Generation in Haftung nehmen.” Die Schulen seien aber sehr wohl auf “alle möglichen Szenarien vorbereitet”, auch auf “einen erneuten Wechsel von Fern- und Präsenzunterricht oder temporäre Schulschließungen”.
Giffey: Schulschließungen nur Ultima Ratio
Dass Schulschließungen nur das letzte Mittel sein dürften, betonte Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD): “Das ist für Eltern, Lehrer und Schüler keine leichte Situation, die wir unter allen Umständen verhindern wollen.”
Wenn es Schließungen geben sollte, dann nicht flächendeckend, sondern punktuell oder regional. Darüber sei anhand der Situation und des Infektionsgeschehens zu entscheiden. Wichtig sei auch, dass sowohl Lehrkräfte als auch Erzieherinnen und Erzieher die Möglichkeit hätten, sich auf das Coronavirus testen zu lassen – und dass das auch finanziert werde.
Nun komme es auf verantwortungsvolle Entscheidung der Erwachsenen an: Eltern müssten kränkelnde Kinder daheim behalten, Schulen Sommerfeste absagen und Lehrer auf Hygienemaßnahmen achten, sagte Giffey – und nannte als Beispiel regelmäßiges Lüften.
Probleme mit dem Lüften
Doch selbst das klingt leichter als es ist – sagen die Experten: Es reicht nämlich keineswegs aus, einfach nur die Fenster zu öffnen, betont Günther Mertz, Geschäftsführer des Fachverbandes Gebäude-Klima. “Wir müssen pro Raum eine vernünftige Lüftung erreichen”, sagte der Experte für Lüftungstechnik dem RND. “Ich habe richtig Bauchschmerzen bei dem, was gerade an den Schulen passiert.”
Mertz nennt ein Beispiel aus der Praxis: In vielen Schulen gebe es je Klassenraum nur eine Fensterfront. Lehrer würden sich deshalb mit Keilen behelfen, um eine Durchzug zum Flur herzustellen. Doch das sei höchst problematisch: “Wenn sich in einem Klassenraum auch nur ein Infizierter befindet, übertragen sich die virenbelasteten Aerosole in die Nachbarräume.” Die Türen geschlossen zu halten, schafft allerdings auch keine Abhilfe. Wenn innen und außen ähnliche Temperaturen herrschten und kein Wind wehe, passiere beim Lüften fast gar nichts.
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Um eine zweite Ansteckungswelle in Deutschland zu vermeiden, sind einige Verhaltens- und Hygieneregeln zu beachten.
© Quelle: RND
Experte: “Bauchschmerzen bei dem, was an Schulen passiert”
Seine Einschätzung: “Eine richtige Lüftung erreicht man nur mit einem mechanischen System, dass unabhängig vom Nutzerverhalten für einen geregelten Luftaustausch sorgt.” Also auch unabhängig davon, ob gerade jemand daran denkt zu lüften oder nicht. “Nur mit einem geregelten Luftaustausch erreicht man, dass die Virenlast im Raum verringert wird”, so Mertz.
Konkret seien das Lüftungssysteme die die Luft von außen ansaugen, filtern und reinigen und parallel die verbrauchte Luft aus Räumen absaugen. Klimaanlagen arbeiten in der Regel nach diesem Prinzip. Bürogebäude und Shoppingmall verfügen in der Regel über solche Anlagen.
Anders sei das bei Schulgebäuden: “Wir haben gerade eine Studie in Nordrhein-Westfalen gemacht und mussten feststellen, dass weniger als zehn Prozent der Schulen über eine mechanisches System verfügen.” Über 90 Prozent der Schulen seien also darauf angewiesen, über die Fenster zu lüften.
Die Zahlen, glaubt Mertz, spiegeln die Situation für ganz Deutschland wieder. “Darüber mache ich mir große Sorgen.” Und mit Blick auf den Herbst und Winter ist er überzeugt: “Niemand wird so oft und intensiv lüften, dass wir einen erforderlichen Luftaustausch haben. Das ist ein richtiges Problem.”