Schriftsteller Filipenko: „Europa muss aufhören, sich vor Russland zu fürchten“
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Der Schriftsteller Sasha Filipenko (36) hat gerade seinen zweiten Roman „Der ehemalige Sohn“ bei Diogenes veröffentlicht.
© Quelle: Ekatarina Anokhina
Berlin. Sasha Filipenko (36) ist in der belarussischen Hauptstadt Minsk aufgewachsen und hat in St. Petersburg Literatur studiert. In seinem 2018 bei Diogenes erschienenen Roman „Rote Kreuze“ schreibt er über den stalinistischen Terror in der Sowjetunion, in seinem neuen Buch „Der ehemalige Sohn“ geht es um das Leben unter dem Lukaschenko-Regime in Belarus. Filipenko unterstützt die belarussische Oppositionsbewegung und lebt zurzeit in der Schweiz. Das RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) sprach mit ihm.
Herr Filipenko, Ihr Roman „Der ehemalige Sohn“, der jetzt auf Deutsch erschienen ist, liegt schon seit 2014 auf Russisch vor. Sie schreiben über das korrupte System, das seinen Bürgern mit brutaler Gewalt gegenübertritt. Haben Sie alles schon damals gewusst oder waren die Zustände schon immer so, wie sie jetzt sind?
In Belarus ändert sich einfach wenig. Und wenn man die Realität beschreibt, dann machen zehn Jahre nicht so viel Unterschied. Dieser Roman wurde ja gerade deshalb geschrieben, damit er irgendwann nicht mehr aktuell ist. Das Regime war das gleiche, es musste nur nicht so brutal auftreten, weil es nicht so stark in seiner Existenz bedroht war wie heute.
Der Protest, den ich in meinem Buch beschreibe, fand 2010 statt. Damals sind nicht so viele Leute auf die Straße gegangen, das Regime wurde schneller mit ihnen fertig. Und es folgte eine Art Koma, das mehr oder weniger bis 2020 andauerte.
Und im Sommer vergangenen Jahres sind die Menschen dann sozusagen aufgewacht und begehren nun verstärkt auf.
Es ist ein ganz erbitterter Kampf entbrannt. Die Anhänger Lukaschenkos sind jetzt auf dem Rückzug wie die letzten Dinosaurier, und die Brutalität ist ihr letzter Verbündeter. Sie wollen sich retten, sich irgendwie über Wasser halten, weil sie genau wissen, was ihnen bevorsteht, das ist das Gefängnis.
Nach Angaben von Oppositionsführer Pawel Latuschka befinden sich rund 700 Kulturschaffende in Belarus im Gefängnis. Hat das Regime besondere Angst vor der Kultur, vor den Intellektuellen?
Ich denke nicht, dass Lukaschenko eine besondere Aversion gegen die Kultur hat, weil er gar nicht weiß, was Kunst und Kultur ist. Für ihn ist Kultur, was auf dem Slawjanski-Basar passiert, das ist ein Musikfestival, wo Pop- und Schlagersternchen auftreten. Ich glaube, er hat generell einfach Angst vor denkenden Menschen. Er hat über 20 Jahre versucht, ein Volk dahingehend zu erziehen, dass es nicht denkt, sondern lieber Sport macht. Das ist ihm aber nicht gelungen.
Wir haben jetzt denkende Studenten, denkende Ärzte, denkende Sportler.
Sasha Filipenko,
Schriftsteller
Wir haben jetzt denkende Studenten, denkende Ärzte, denkende Sportler. Ich habe den Eindruck, er mag Kulturschaffende nicht – vielleicht wie ein mittelmäßiger Schüler, der Streber nicht mag, weil er sich unterlegen fühlt. Ich bin überzeugt davon, dass Lukaschenko kein einziges literarisches Werk gelesen hat.
Das ist ein hartes Urteil.
Es gibt keine Hinweise darauf, dass es anders wäre. Wahrscheinlich hat er an der Universität irgendwelche technischen Bücher gelesen und die auch nicht bis zum Ende. Aber Literatur traue ich ihm nicht zu.
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Alexander Lukaschenko hat am 9. Mai, dem Tag des Sieges über den Hitlerfaschismus, ein Dekret unterschrieben, wonach die Macht im Falle seines Todes an den nationalen Sicherheitsrat übergeht, in dem auch sein Sohn Viktor sitzt.
© Quelle: imago images/ITAR-TASS
Auch in Russland finden jetzt in größeren Abständen immer wieder Demonstrationen statt, zuletzt am 21. April gegen die Inhaftierung von Alexej Nawalny. Es gab Verhaftungen, aber es war nicht diese brutale Gewalt zu sehen wie in Belarus. Ist Russland liberaler?
In Moskau gehen die Polizisten möglicherweise etwas eleganter vor, aber schon in St. Petersburg sah es ganz anders aus, dort setzten sie beispielsweise Elektroschocker ein. In anderen Städten haben sich Polizisten unter die Demonstranten gemischt, sind mitgelaufen und haben mitgeschrien. Und danach haben sie dann die Leute festgenommen. Das ist sehr perfide.
Dennoch kann man sagen, dass man in Belarus derzeit nur davon träumen kann, dass sich die Polizei so verhält wie in Russland. Ich bin beispielsweise vor einiger Zeit zufällig am Bahnhof in St. Petersburg in eine Demonstration geraten. Ein Polizist kam auf mich zu, und ich bin ganz ruhig geblieben. Ich habe ihm erklärt, dass ich ein Zugticket habe, und er ließ mich gehen.
In Belarus hätte ich keine Sekunde gezögert, wegzurennen, weil ich genau weiß, dass ich dem Polizisten gar nichts hätte erklären können. Das Moskauer Regime ist noch nicht so in der Bredouille wie das in Minsk.
Das heißt, die Verhältnisse in Russland sind durchaus stabiler.
Die Regierung hat auf jeden Fall nicht das Gefühl, dass sie jetzt bald abgesägt wird. In Moskau gehen 20.000 bis 30.000 Leute auf die Straße, und das sind natürlich sehr mutige Menschen. Aber eigentlich ist das eine Schande, weil es in der Relation zur Gesamtbevölkerung einfach viel zu wenige sind.
Ich glaube, Russland ist einfach immer noch in diesem Koma, das ich beschreibe und in dem wir vorher auch waren. Russland ist immer hinterher. Mit der Diktatur und mit den Machtwechseln. Die brauchen noch ein wenig Zeit, bis sie aufwachen.
Der einzige Oligarch, den wir haben, ist Lukaschenko.
Sasha Filipenko,
Schriftsteller
In der Ukraine haben auch Oligarchen den Umsturz mit unterstützt, nicht zuletzt finanziell. In Belarus ist davon nichts zu hören. Warum?
Der einzige Oligarch, den wir haben, ist Lukaschenko. Es gibt keine anderen in seinem Umfeld. Es gibt bei uns schon ein paar sehr reiche Geschäftsleute, aber sie sind so stark von ihm abhängig, dass sie nie gegen ihn auftreten würden. Und es gibt sicher ein paar Dollar-Millionäre, die gegen das Regime sind, aber sie besitzen nicht solche Summen, dass sie etwas beeinflussen könnten.
Lukaschenko hat in seinem Umfeld alles zerstört und vernichtet. Und das belorussische Wirtschaftsmodell ist nicht so ausgerichtet,dass sich Oligarchen entwickeln könnten.
Das heißt, der Staat hat auch die Wirtschaft fest im Griff.
Die Belarussen versuchen natürlich, etwas zu entwickeln. Aber im Endeffekt ist unsere Wirtschaftsleistung mit neun Millionen Einwohnern so groß wie die von Litauen mit zwei Millionen. Jeder dritte Belarusse arbeitet bei der Polizei oder in der Armee. Ganz viel von unserem Potenzial geht in diesen Polizeistaat.
Und dann gibt es noch die wirtschaftliche Unterstützung von Russland, damit dieses Regime aufrechterhalten wird. Vor diesem Hintergrund ist es einfach extrem schwer, unternehmerisch tätig zu sein. Im IT-Sektor hatten wird zu einer Zeit sehr fähige Leute, aber Lukaschenko hat das alles abgewürgt, weil er sich so wohler fühlt. Und die Zukunft des Landes ist ihm total egal.
Die Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja hat in einem Interview gesagt: „Wir haben die Straße verloren.“ Ist es so?
So wie ich es verstanden habe, wurde dieser Satz falsch übersetzt beziehungsweise komplett aus dem Kontext gerissen. Natürlich gibt es derzeit nicht mehr diese Massendemonstrationen wie im Sommer 2020, aber das hängt mit dem brutalen Vorgehen des Regimes zusammen. Die Menschen werden jetzt schon vor den Protesten festgenommen, das heißt, wenn um 10 Uhr eine Demo beginnt, dann beginnen um 8 Uhr die Festnahmen.
Das ist völlig absurd, es hat nichts stattgefunden, aber 2000 Leute landen im Gefängnis. Es ist nicht mehr möglich, sich in Gruppen zusammenzufinden. Das heißt aber nicht, dass die Menschen ihre Meinung geändert haben. Sie wollen weiterhin den Machtwechsel und suchen jetzt andere Formen des Protests. Sie riskieren sehr viel, es geht um Leben und Tod. Und Lukaschenko spürt, dass er Rache nehmen kann, und er rächt sich jeden Tag.
Die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch hat die heutige Situation in Belarus mit der stalinistischen Maschine im Terrorjahr 1937 verglichen. Sehen Sie das auch so?
Ich stimme dem voll zu, ich finde den Vergleich sehr treffend. Wir erleben jetzt wie damals Entführungen, Festnahmen und Folter. Das Einzige, was wir nicht haben, sind Massenerschießungen und Lager. Aber wir sind in einer entsetzlichen Situation.
Was ich bedauerlich finde, ist, dass Swetlana Alexijewitsch so wenig Stellung bezieht, dass sie so selten öffentlich auftritt. Sie hätte als Nobelpreisträgerin eine starke Stimme, aber sie gibt wenig Interviews, sagt wenig zu den Vorgängen in unserem Land. Es steht mir natürlich überhaupt nicht zu, ihr Ratschläge zu geben, aber ich frage mich, warum das so ist.
Sie sagt, sie schreibt gerade an einem neuen Buch.
Ja, das kann sein. Aber man sieht ja auch, dass Bücher nicht wirklich die Welt verändern. Es gab Alexander Solschenizyn, es gab Warlam Scharlamow. Große Namen, und es hat sich nicht viel geändert. Ich hielte es für angebracht und würde es sehr wichtig finden, dass Swetlana Alexijewitsch jeden Tag erzählt, was für ein Terror in Belarus herrscht. Ich glaube, sie nutzt ihre Stimme nicht vollumfänglich. Das ist bedauerlich.
Dabei hätte Europa eigentlich Hebel, um gegen Russland anzusetzen.
Sasha Filipenko,
Schriftsteller
Wenn es zu einem revolutionären Umschwung in Ihrem Land käme, würde Moskau das akzeptieren beziehungsweise tolerieren?
Im Prinzip lässt Europa es zu, dass Belarus als ein Bestandteil der Interessensphäre von Russland betrachtet wird. Frankreichs Präsident Macron oder Österreichs Präsident Kurz sprechen nicht mit Lukaschenko über Belarus, sondern mit Putin. Und das ist eines unserer Hauptprobleme, dass Putin hinter Lukaschenko steht.
Europa sollte ein sehr eindeutiges Signal senden, dass Belarus ein eigenständiges Land und nicht Bestandteil von Russland ist. Wenn es um Verhandlungen geht, sollten diese auch mit der Regierung dieses Landes stattfinden und nicht mit Putin. Man kann natürlich Putin um eine Vermittlerrolle bitten, aber in diesem Fall hat das niemand getan.
Wie könnte denn so ein Signal aus Europa aussehen?
Ich weiß es nicht, ich bin kein Diplomat. Aber ich habe den Eindruck, dass Russland immer ein großer Faktor ist, auf den jeder Rücksicht nimmt. Wie in einer Schulklasse, wo es einen großen bösen Jungen gibt, der lauter Blödsinn macht, sich an keine Regeln hält, und jeder arrangiert sich irgendwie, damit er selbst in Ruhe gelassen wird. Dabei hätte Europa eigentlich Hebel, um gegen Russland anzusetzen.
Aber man will keinen Streit, streitet sich dennoch ständig irgendwie, und das bringt alles nichts. Das Wchtigste wäre, dass Europa aufhört, Russland zu fürchten.
Belarus: zahlreiche Festnahmen bei Protesten
Erneut gab es zahlreiche Kundgebungen, in denen der Rücktritt von Präsident Lukaschenko gefordert wurde.
© Quelle: Reuters
Wer wäre aus Ihrer Sicht die geeignete Persönlichkeit, die auf Lukaschenko folgen könnte, falls er doch abtreten würde?
Jeder andere Mensch wäre besser an der Spitze als Lukaschenko, außer jemand von seinen Gefolgsleuten. Ich habe Swetlana Tichanowskaja nicht gewählt, weil ich sie als Politikerin so toll finde, sondern weil ich gegen Lukaschenko votieren wollte.
Mir ist es eigentlich auch egal, wer Präsident ist, ich bin nicht für einzelne Personen, ich bin für ein anderes System. Ein System, in dem der Präsident eine Funktion ist. So wie in der Schweiz, wo sich das jedes Jahr ändert und eigentlich niemand weiß, wer der Präsident ist, weil es eigentlich auch egal ist.
Sie halten sich derzeit noch in der Schweiz auf, Ihr eigentlicher Lebensort ist St. Petersburg. Haben Sie vor, dorthin zurückzukehren?
Es ist derzeit für mich nicht möglich, nach Russland oder Belarus zurückzukehren. Wenn ich das tue, dann lande ich im Gefängnis wie meine Freunde, die ich von hier aus dabei unterstütze, aus der Haft herauszukommen. Das heißt, ich werde noch eine gewisse Zeit hier in der Schweiz bleiben, aber andererseits läuft mein Aufenthaltstitel ab.
Ich weiß noch nicht wirklich, wie es weitergeht. Aber ich sehe es als meine Pflicht an, darüber zu berichten, was für eine humanitäre Katastrophe in Belarus geschieht. Ich finde, man muss das jeden Tag publik machen, damit Europa das begreift.
Woran arbeiten Sie zurzeit?
Ich schreibe an einem Buch über den Direktor eines Moskauer Krematoriums. Anhand des Schicksals einer einzelnen Person erzähle ich, was im Russland und im Europa des 20. Jahrhunderts geschehen ist. Ähnlich wie in meinem Buch „Rote Kreuze“ arbeite ich auch hier wieder viel mit Dokumenten, und es geht wieder um die Repressionen in der Stalin-Zeit. Ich möchte aufzeigen, wie viel Gemeinsamkeiten es zwischen den Regimen Hitlers und Stalins gegeben hat.