Schade um das schöne Papier
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Gescheitert: SPD-Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hatte sich für die Impfpflicht starkgemacht.
© Quelle: dpa
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
selten hat eine Bundesregierung einen komplizierteren Start in eine Legislatur gehabt als die Ampelkoalition. Doch die Zeiten sind ernst. Deshalb ist es umso bitterer, dass sich das Kabinett von Kanzler Olaf Scholz in wichtigen Fragen immer wieder verstolpert. Leuchtendes Beispiel ist die Abstimmung über die allgemeine Impfpflicht, die nach Monaten erhitzter und leidenschaftlicher Debatten gestern wie ein zerstochener Luftballon in sich zusammensank.
Am Ende erhielt der fraktionsübergreifende Antrag der SPD für die allgemeine Impfpflicht ab 60 Jahren gerade einmal 296 Jastimmen, aber 378 dagegen bei neun Enthaltungen. Beifall bei der AfD, betretenes Schweigen im Regierungslager.
Es wäre mehr als wünschenswert gewesen, wenn die Corona-Politik der Bundesregierung einmal in zwei Jahren wirklich vor die Lage getreten wäre. Es wäre sinnvoll gewesen, wenn das Land dem kommenden Corona-Herbst mit sehr wahrscheinlich noch einmal anschwellenden Infektionszahlen etwas entgegengesetzt hätte. Eine allgemeine Impfpflicht immerhin ab 60 Jahren hätte die ältere Bevölkerung vor schweren Verläufen und zunehmenden Todesfällen geschützt (RND+). Sie hätte möglicherweise verhindert, dass das Virus einmal mehr mutiert – und sich die Pandemie und alle durch sie notwendigen Maßnahmen noch einmal verlängern.
Das Scheitern der allgemeinen Impfpflicht ist nach dem sogenannten „Freedom Day“ die nächste Niederlage der Ampelkoalition in der Bekämpfung der Corona-Krise. Im Zweifel wird dieses Scheitern den Staat einmal mehr viel Geld kosten: an Hilfen, zusätzlichen Krankentagen, aufgrund einer Überlastung der ohnehin schon oftmals am Limit arbeitenden Kliniken und Pflegeheime.
Triumphgefühle und Enttäuschung im Bundestag
Der Bundestag hat sich am Donnerstag gegen die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht in Deutschland entschieden.
© Quelle: RND
Zwei Jahre Pandemie haben gezeigt, dass die Wissenschaft zwar das eine sagen kann, die Politik dann aber mit Verweis auf das Wesen der Demokratie das andere machen wird. Grundsätzlich ist dieser Einwand nachvollziehbar und unbedingt richtig. In der Frage der Impfpflicht hatte dies andere Gründe: Von Anfang an ging es in der Debatte um Machtkämpfe und parteipolitische Taktiererei. Es hätte vielleicht geholfen, an diesem Punkt der schwierigen und äußerst umstrittenen Debatte einen Bundesgesundheitsminister zu haben, der nicht nur mit Mut, Überzeugung und einer klaren Strategie vorangeht.
Karl Lauterbach verwies gestern zu Recht auf den kommenden Corona-Herbst. Und dass man nicht aufgeben werde. Man darf also gespannt sein, sollte vielleicht aber lieber nichts hoffen.
Und so konstatiert RND-Hauptstadt-Korrespondent Tim Szent-Ivanyi in seinem Leitartikel: „Debatten und Abstimmungen im Bundestag, bei denen es um ethische Themen geht, gelten gemeinhin als Sternstunden des Parlamentes. Politiker aus verschiedenen Parteien finden sich zusammen, um jenseits der Trennlinie zwischen Regierung und Opposition gemeinsam Gesetzentwürfe zu erarbeiten. Das wird von vielen Abgeordneten als extrem bereichernd empfunden und ist daher letztlich ein Gewinn für die Demokratie. So war es zum Beispiel bei den Entscheidungen über die Sterbehilfe 2015 oder die Organspende 2020. Die Auseinandersetzung über eine Impfpflicht reiht sich hier nicht ein. Sie ist ein Tiefpunkt für die Demokratie“ – und damit das Papier nicht wert, auf dem Anträge, Erläuterungen und Beschlussvorlagen gedruckt wurden.
Ist Christine Lambrecht noch die Richtige?
Im Schatten der zweiten Megakrise dieser Tage steht Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht. Erst vor wenigen Tagen hatte CSU-Chef Markus Söder die Entlassung der Ministerin gefordert. Ein Mitglied des SPD-Vorstandes zeigte sich dieser Tage „ein bisschen erstaunt“ darüber, dass Lambrecht „nicht die beste Figur“ mache. Der Grünen-Vorsitzende Omid Nouripour nannte die bisherigen deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine „sehr unzufriedenstellend“. Auch im Ministerium selbst sind nicht alle begeistert über die neue Hausherrin.
Vorgeworfen wird der ehemaligen Bundesjustizministerin vor allem mangelnde Erfahrung. Und „plötzlich“, so schreibt es RND-Korrespondent Markus Decker in seinem Hintergrundbericht, „fand sich die 56-Jährige noch dazu in einem Kriegsszenario wieder“ (RND+).
Als Politikerin ohne weitreichende Erfahrung im Verteidigungsministerium ist Lambrecht zwar nicht die einzige. Doch seit die Sozialdemokratin 5000 Helme an die Ukraine lieferte, liegt der Spott auf ihrer Seite. Noch dazu liegt der Fokus wegen des 100 Milliarden Euro schweren Sondervermögens für die Bundeswehr bei Lambrecht, die sich wiederum den ständigen Forderungen nach Waffenlieferungen in die Ukraine stellen muss. Gestern nun stellte das Verteidigungsministerium noch einmal in einem Tweet klar, dass über Waffenlieferungen an andere Staaten schon aus strategischen Gründen nicht gesprochen werden könne. „Der Feind hört mit“, sagte auch Lambrecht unlängst.
Überzeugend wirke das alles trotzdem nicht, schreibt Decker. Schließlich machen etwa die USA aus ihren Lieferungen keinen Hehl. Europäische Verbündete tun es der Administration von Präsident Joe Biden gleich, schreibt Decker.
RND vor Ort mit NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst
Debattiert wurde gestern indes nicht nur im Bundestag. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat am Donnerstag mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten Beratungen zu den Folgen des Krieges in der Ukraine aufgenommen. Im Mittelpunkt stand die Frage, wie die Kosten für die Versorgung ukrainischer Kriegsgeflüchteter aufgeteilt werden sollen. Die Länder fühlen sich vom Bund im Stich gelassen, weil Fragen zu Registrierung und Verteilung der ankommenden Menschen noch nicht geklärt seien.
Die Länderchefinnen und ‑chefs einigten sich mit Scholz darauf, dass Kriegsgeflüchtete aus der Ukraine ab dem 1. Juni staatliche Grundsicherung erhalten sollen, also die gleichen Leistungen wie etwa Hartz-IV-Empfängerinnen und ‑Empfänger. Der Bund zahlt den Ländern zudem pauschal 2 Milliarden Euro für das Jahr 2022. Damit sollen die Integration sowie Unterkünfte für die Geflüchteten finanziert werden. Davon erhalten die Kommunen 500 Millionen Euro für die Beherbergung.
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Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst ist zu Gast bei „RND vor Ort“.
© Quelle: RND
Wo die roten Linien in den Debatten zwischen Bund und Ländern derzeit verlaufen, darüber sprechen Eva Quadbeck, stellvertretende Chefredakteurin des RedaktionsNetzwerkes Deutschland, und Carsten Fiedler, Chefredakteur des „Kölner Stadt-Anzeigers“, heute beim Talkformat „RND vor Ort“ mit Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidenten Hendrik Wüst. Das Talkformat können Sie heute ab 17.30 Uhr auf RND.de im Livestream verfolgen. Neben der Verteilung der Geflüchteten auf die Bundesländer, der Kritik der Landeschefinnen und ‑chefs am Bund wird auch eine Personalie Thema der Talkrunde sein: Nordrhein-Westfalens Umweltministerin Ursula Heinen-Esser kündigte gestern ihren Rücktritt an.
Der Grund dafür ist eine Mallorca-Reise während der Flutkatastrophe im Sommer 2021, deren Folgen bis heute in den betroffenen Regionen deutlich spürbar sind. Der Skandal „Mallorca-Gate“ um ihren trotz der Umweltkatastrophe fortgesetzten Urlaub kommt für Wüst ungelegen – er steckt mitten im Wahlkampf für die Landtagswahl am 15. Mai.
Zitat des Tages
Es ist eine sehr wichtige Entscheidung, denn jetzt wird die Bekämpfung von Corona im Herbst viel schwerer werden. Es helfen keine politischen Schuldzuweisungen. Wir machen weiter.
Karl Lauterbach,
Bundesgesundheitsminister (SPD), zum Scheitern der allgemeinen Impfpflicht am Donnerstag im Bundestag
Leseempfehlungen
Wann wird das Töten im Krieg zum Verbrechen? Der ehemaligen Bundesminister Gerhart Baum und die ehemalige Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger haben Strafanzeige erstattet. Sie wollen erreichen, dass der Generalbundesanwalt wegen russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine ermittelt. Doch was sind Kriegsverbrechen? Und wann wird das Töten von Zivilistinnen und Zivilisten im Krieg vom Völkerrecht geduldet? RND-Redakteur Fabian Wenck über eine Frage, auf die es in der Wirklichkeit nur selten rechtssichere Antworten gibt.
Autonome Drohnen gegen Putin: Im Kampf gegen den russischen Goliath bekommt der ukrainische David eine neuartige Hightechwaffe in die Hand, frisch aus kalifornischer Fertigung. Switchblade-Drohnen können lauernd in der Luft hängen – und dann vernichtend zuschlagen, mit autonomer Zielerkennung und panzerbrechender Wirkung.
Aus unserem Netzwerk: 96 ohne Schröder
Lange war die niedersächsische Hauptstadt ohne den „Altkanzler“ schwer vorstellbar – vor allem, was die Spiele von Bundeszweitligist Hannover 96 betraf. Mittlerweile gehen viele auf Abstand zu Gerhard Schröder. Der Grund dafür ist Schröders mangelnde Distanzierung von seinem Geschäftsfreund Wladimir Putin. Schröder legte bereits seine Ehrenbürgerschaft in Hannover nieder. Nun tritt er auch aus seinem Lieblingsverein. Abschied von einem speziellen Fan.
Termine des Tages
10 Uhr: Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, Lothar H. Wieler, Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), und Gernot Marx, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi), geben eine gemeinsame Pressekonferenz zur Corona-Lage.
11.30 Uhr: Pressekonferenz der Bundesregierung – auf der Agenda stehen unter anderem Gesetzesbeschlüsse aus dem Bundestag zum Heizkostenzuschuss für Geringverdienerinnen und Geringverdiener und zu Vorgaben für den Füllstand von Gasspeichern.
Wer heute wichtig wird
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Einzelne Weltraumtouristen hat es auf der ISS schon mehrfach gegeben, bei der sogenannten Ax-1-Mission, die heute starten soll, handelt es sich jedoch um die erste komplett private Crew. Organisiert wird der Flug ins All vom privaten Raumfahrtunternehmen Axiom in Zusammenarbeit mit der US-Raumfahrtbehörde Nasa, geflogen wird in einem „Crew Dragon“ von Elon Musks Firma SpaceX vom Weltraumbahnhof Cape Canaveral in Florida aus. Für den Flug sollen die Crewmitglieder – der US-Unternehmer Larry Connor, der israelische Unternehmer und Pilot Eytan Stibbe und der kanadische Investor Mark Pathy – Medienberichten zufolge jeweils rund 55 Millionen Dollar (etwa 50 Millionen Euro) bezahlt haben.
Der Podcast des Tages: Eine Halbzeit mit …
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Wir wünschen Ihnen einen guten Start in den Tag,
Ihre Dany Schrader
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