Schabowskis Pressekonferenz am 9. November: Versprochen ist versprochen
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Pressekonferenz am 9. November: Das Mitglied des Politbüros des ZK der SED und Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin, Günter Schabowski, kurz bevor er die Öffnung der Grenze bekannt gibt.
© Quelle: dpa
Seidendünn ist der historische Zettel, liniert und leicht angerissen. Die Notizen, die Günter Schabowski am 9. November 1989 mit schwarzem Kugelschreiber auf ein DIN-A4-Papier gekritzelt hat, sind kaum zu entziffern. Zwei rote Pfeile sind zu erkennen, dazu dick das Wort “ZEIT!” Weit unten steht “Verlesen Text Reiseregelung”. Es sind jene drei Worte, die Schabowski zum tragikomischen Helden der deutschen Einheit machen werden – zu jenem schusseligen DDR-Bürokraten, der mit einem dahingestotterten Nebensatz versehentlich Geschichte schreibt.
An diesem kühlen Donnerstag im Herbst ist der frühere Chefredakteur des “Neuen Deutschlands” erst seit wenigen Wochen DDR-Regierungssprecher. Das Regime will sich offener geben. Man erlaubt neuerdings Journalistenfragen in Pressekonferenzen, eine letzte Transparenzoffensive des sterbenden Staatswesens.
Denn die greisen Bürokraten im Politbüro ahnen: Der Kessel namens DDR steht kurz vor dem Bersten. Also planen sie, den lautesten “Störenfrieden” die direkte Ausreise zu ermöglichen, um den ausblutenden Reststaat zu “stabilisieren”. Volkspolizeioberst Gerhard Lauter – im DDR-Innenministerium zuständig für das Pass- und Meldewesen – erhält den Auftrag, mit Stasi-Offizieren eine “zeitweilige Übergangsregelung” für die “ständige Ausreise” aus der DDR zu formulieren. Ausreisewillige sollen nicht mehr über Drittstaaten wie Tschechien ausreisen müssen, sondern dürfen direkt in die BRD. Im Klartext: Wer raus will, darf raus – aber für immer.
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Dann ergreift Lauter den Mantel der Geschichte: Am Vormittag des 9. November formuliert er die Regelung eigenmächtig um. Plötzlich ist nicht mehr nur von “Ausreise” die Rede, sondern auch von “Reisen beziehungsweise Privatreisen nach dem Ausland” – mit Rückkehr. Lauter versieht das Papier mit einer Sperrfrist: Freitag, vier Uhr morgens. Bis dahin sollen die Staatsorgane erfahren, was zu tun ist. Das wird nie geschehen. Auch das begünstigt später am Abend Spontaneität und Eigeninitiative an den Grenzübergängen.
Mittags erhält SED-Generalsekretär Egon Krenz das Papier. Das Politbüro hat keine Einwände. Um 16 Uhr stellt Krenz die Pläne auch im Zentralkomitee vor. Die Herren winken die Sache müde durch. Drittstaaten? Passkontrolle? So richtig zugehört hat niemand. Schabowski kommt erst um 17.30 Uhr in die Sitzung. Krenz steckt ihm das Papier zu. Dass der Ministerrat noch zustimmen muss und dass es eine Sperrfrist gibt – Schabowski erfährt es nicht. Und hat das Papier nie gelesen.
Im Auto zur Pressekonferenz verfasst er hastig ein paar Regieanweisungen an sich selbst (“nicht länger als 19.00”), bevor er um 18 Uhr das Podium im Pressesaal des Internationalen Pressezentrums der DDR in der Ost-Berliner Mohrenstraße betritt. Er ist unkonzentriert. Seit Tagen hetzt er von Termin zu Termin, hat kaum geschlafen. Und jetzt auch noch die Weltpresse.
Bis 19 Uhr will er durch sein, denn dann beginnen die Hauptnachrichten im DDR-Fernsehen. Der Saal ist dicht gefüllt. Riccardo Ehrman, Journalist der italienischen Nachrichtenagentur Ansa, ist zu spät gekommen, also muss er ganz vorn links Platz nehmen, an der Kante des Podiums. 53 Minuten lang sitzt Ehrman dort, den Notizblock auf den Knien, und hört sich Schabowskis Nebelbombensätze an. Ein Phrasenfeuerwerk. Einlullendes Politchinesisch. “Parteitagsscheiße”, wie der “Bild”-Reporter Peter Brinkmann das nennen wird. Der sitzt in Reihe eins, direkt vor Schabowski.
Ehrman, genervt, meldet sich um 18.53 Uhr zu Wort: “Sie haben von Fehlern gesprochen. Glauben Sie nicht, dass es war ein großer Fehler, diesen Reisegesetzentwurf, das Sie haben jetzt vorgestellt vor wenigen Tagen?” Schabowski antwortet minutenlang monoton und nebulös. Dann erinnert er sich an Krenz’ Zettel. Er wühlt in seinen Unterlagen und sagt: “Allerdings ist heute, soviel ich weiß, eine Entscheidung getroffen worden. Und deshalb, äh, haben wir uns dazu entschlossen, heute, äh, eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, äh, über Grenzübergangspunkte der DDR, äh, auszureisen.”
“Sofort, unverzüglich”
Verwirrung im Saal. Zwischenfragen: “Ab wann tritt das in Kraft?” Jemand ruft: “Mit Pass? Mit Pass?” Auch Brinkmann fragt: “Ab sofort? Ab... ?” Schabowski sichtet seine Zettel und leiert dann herunter: “Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen – Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse – beantragt werden.” Wieder Zwischenrufe. “Wann tritt das in Kraft?” – es folgt Schabowskis berühmter Holpersatz: “Das tritt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich.”
Brinkmann fragt nach: “Gilt das auch für Berlin-West? Sie hatten nur BRD gesagt!” Schabowski stutzt, nickt, liest: “Also ... doch, doch: ‘Die ständige Ausreise kann über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise zu Berlin-West erfolgen.’” Um 19.01 Uhr ist die Pressekonferenz zu Ende. Die Mauer ist gefallen.
Die Weltpresse ist verwirrt. Associated Press (ap) verwendet um 19.05 das Wort “Grenzöffnung”. Ansa meldet um 19.31 den Fall der Mauer, um 19.41 Uhr folgt die Deutsche Presse-Agentur (dpa). In der “Tagesschau” heißt es dann: “DDR öffnet Grenze”. Und Hanns Joachim Friedrich schafft um 22.42 Uhr in den ARD-"Tagesthemen" Fakten: “Die Tore in der Mauer stehen weit offen” – was zu jenem Zeitpunkt schlicht falsch ist. Es besteht kein Zweifel daran, dass auch die forsche Interpretation westlicher Medien die Grenzöffnung beschleunigt hat.
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Und wer war’s nun? In unzähligen Interviews festigte Ehrman den Mythos von sich selbst als Maueröffner (“Ich habe der Weltgeschichte einen Schubs gegeben”). Doch vieles um ihn herum bleibt nebulös. Fragte er, wie er Jahre später behauptete, nur deshalb nach dem Reisegesetz, weil ihn Günter Pötschke, Chef der DDR-Nachrichtenagentur ADN, darum gebeten hatte? Ehrman – ein Gehilfe der Stasi? Mit unermüdlicher Akribie reklamiert auch Brinkmann die Ehre für sich, Schabowski mit seinen Zwischenfragen entscheidend irritiert zu haben. Auf seiner Homepage präsentiert er gar eine signierte Zeugenaussage von Schabowski. Darin heißt es: “Es ist wie beim Fußball. Am 9. November schoss Riccardo Ehrman mit seiner Frage den Ball in den Torraum, Brinkmann aber schoss ihn mit seinen kurzen Fragen ins Tor rein.” Unterschrift: “Günter Schabowski, September 2009.”
War Günter Schabowski ein Wendehals?
Schabowskis berühmter Zettel verrät viel von der gehetzten Ratlosigkeit der letzten DDR-Apparatschiks. Am Ende zeigt die Geschichte des historischen Fauxpas’, dass ein so dilettantisch geführter Staat keine Überlebenschance haben konnte. In seiner Banalität erinnert das Papier auch daran, dass die kleinsten Dinge größte Wirkung haben können. Und dass Geschichte nicht immer von Pergamenten mit dunkelrotem Siegel geschrieben wird. Kurz nach der Pressekonferenz gab Schabowski seinen Zettel einem Bekannten. Der bot ihn 2015 dem Bonner Haus der Geschichte zum Kauf an. 25:000 Euro zahlte das Museum. Ein Schnäppchen. Für die Elfmeterschützenliste, die Nationaltorhüter Jens Lehmann beim WM-Viertelfinale 2006 gegen Argentinien im Stutzen hatte, zahlte ein Sponsor eine Million Euro.
Schabowski wurde 1997 im Prozess um die Schießbefehle an der innerdeutschen Grenze mit Egon Krenz und Günther Kleiber wegen Totschlags zu mehrjähriger Haft verurteilt. 2000 wurde er begnadigt. Er starb 2015 mit 86 Jahren, vom Saulus zum Paulus gewandelt. 2014 sagte er dem Sender N-TV: “Als ich am späten Abend des 9. November den Ausdruck der Freude sah, wurde mir klar, wie instinktlos wir uns an einem elementaren Bedürfnis der Menschen vergangen hatten.” Nach der Wende missfiel ihm die Popularität der Linkspartei: “Wer hätte gedacht, dass die nachgelassene giftige Hefe der SED noch so viel Virulenz im politischen Teig der Bundesrepublik besitzt”, schrieb er 2009 in seiner Autobiografie “Wir haben fast alles falsch gemacht”.
Ein Wendehals? Auf Verratsvorwürfe alter SED-Genossen reagierte er forsch: “Wenn ein System daran zu Bruch geht, dass sich die Menschen frei bewegen können, hat es nichts Besseres verdient.”