Wie ein Ex-Häftling Foltervideos aus einem russischen Gefängnis leakte

Ein Blick auf Stacheldraht an einem Gefängniskrankenhaus in der Wolga-Metropole Saratow. Aus diesem wurden die Videos geschmuggelt.

Ein Blick auf Stacheldraht an einem Gefängniskrankenhaus in der Wolga-Metropole Saratow. Aus diesem wurden die Videos geschmuggelt.

Moskau. Der Spannungsbogen von Oliver Stones Thriller „Snowden“ über Edward Snowden aus dem Jahr 2016 erreicht seinen Höhepunkt, als sich der weltbekannte Whistleblower der Sicherheitsschleuse seines Arbeitsplatzes auf dem Stützpunkt des US-Geheimdienstes NSA auf Hawaii nährt. Damals, im Mai 2013, trägt er einen Speicherchip voller brisanter Staatsgeheimnisse bei sich, die – wie wir heute wissen – die Welt erschüttern werden.

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Würde das Material bei ihm jetzt gefunden, er wäre auf der Stelle als Landesverräter überführt. Aber Snowden – gespielt von Joseph Gordon-Levitt – hat sich eine geniale Ablenkungsaktion ausgedacht: Der Chip steckt in einem Zauberwürfel, den er dem Wachmann spielerisch beim Rausgehen zuwirft. Und zack ist er mitsamt den Geheimdokumenten durch die Kontrolle – als ihm der Uniformierte den Zauberwürfel hinter der Schleuse amüsiert zurückreicht.

In der Realität hat sich die Situation so nie abgespielt – sie ist eine filmische Dramatisierung. Der echte Snowden hatte die Informationen der Presse über abgeschirmte Accounts elektronisch zugespielt.

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So gesehen ist Sergej Saweljew eine hollywoodreife Adaption Joseph Gordon-Levitts als Edward Snowden, allerdings im echten Leben: Der 31-Jährige hat hochexplosive Unterlagen auf USB-Sticks aus einem Gefängniskrankenhaus in der Wolga-Metropole Saratow geschmuggelt, die nun ganz Russland erschüttern.

Widerwärtige Demütigungen

Nach einer gründlichen Durchsuchung beim Verlassen der Klinik schnappte er sich die Speichersticks, die er auf dem Weg nach draußen deponiert hatte, unbemerkt von den Wachen, als eine Gruppe von Gefangenen das Gebäude verließ: „Die Idee gärte schon seit Ewigkeiten in mir“, sagte er der französischen Nachrichtenagentur AFP über den Coup. „Aber es hat mich sehr viele Nerven gekostet.“

Das ist kein Wunder. Denn es braucht allein schon viel Nervenkraft, sich die Videos nur anzusehen, die dank Saweljew nun an die Öffentlichkeit gelangten. Sie zeigen, mit welch abscheulichen Methoden in russischen Gefängnissen gefoltert wird.

Auf einem Video ist zu sehen, wie ein auf einem Bett festgebundener nackter Mann mit einem Besenstiel vergewaltigt wird, der mit rotem Klebeband umwickelt ist. Eine weitere Aufnahme zeigt, wie vier nackte Häftlinge von Wärtern nach ihren Personalangaben gefragt werden und sich dabei gegenseitig am Geschlechtsteil halten müssen. Auf einem anderen Ausschnitt ist ein knieender Gefangener zu sehen, dem von hinten auf den Kopf uriniert wird. Mehr Demütigung geht nicht.

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Geschlagen, um zu „kooperieren“

Als die unerträglichen Filmaufnahmen von der Nichtregierungsorganisation Gulagu.net (zu Deutsch: „Nein zum Gulag“ in Anspielung auf das Straflagersystem zu Sowjetzeiten) Anfang Oktober ins Netz gestellt worden waren, führten sie in Russland zu einem Aufschrei der Empörung, der immer noch nachhallt. Saweljew hatte den Menschenrechtsaktivisten sein Material zuvor zur Verfügung gestellt: „Psychologisch gesehen ist es sehr schwierig, solche Dinge für sich zu behalten“, sagte er der Nachrichtenagentur AFP zur Begründung. „Was kann man sonst noch tun, wenn man Kenntnis davon hat?“

An das schockierende Wissen war Saweljew zunächst aus eigener Erfahrung gekommen: In einer Untersuchungshaftanstalt in der südrussischen Großstadt Krasnodar sei er circa einmal pro Woche geschlagen worden, um zu „kooperieren“, sagte er der AFP. „Aber nicht so hart, dass Blutergüsse zu sehen gewesen waren.“

Im Jahr 2013 war der damals 23-Jährige im Gefängnis gelandet, nachdem er wegen einer großen Drogenlieferung an seine Person von der Polizei verhaftet worden war.

Zugriff auf interne Server des Gefängnisses

Ob er mit der Sendung tatsächlich etwas zu tun hatte, zieht Gulagu.net-Chef Wladimir Osetschkin allerdings in Zweifel. Saweljew habe dieses Paket nicht einmal geöffnet, sagte der Aktivist dem russischen Dienst der BBC. Er vermute, dass die Strafverfolgungsbehörden dem jungen Mann eine Falle gestellt hätten, um die Aufklärungsrate von Drogendelikten zu erhöhen.

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Einen offiziellen Beleg für diese Annahme gibt es nicht. Allerdings ist bekannt, dass Polizisten in Russland ihr Gehalt immer wieder dadurch aufbessern, dass sie Fahndungserfolge mittels Unschuldiger fingieren, um die dafür ausgelobten Boni zu kassieren.

Für Saweljew bedeutete die Festnahme, dass er zu siebeneinhalb Jahren Haft in Saratow verurteilt wurde, wo er als EDV-Spezialist nach einiger Zeit der guten Führung beim IT-Support der Justizvollzugsanstalt zum Einsatz kam. In dieser Funktion erhielt er laut AFP Zugriff auf die internen Server des Gefängnisses und anderer Straflager. Mit der Zeit stieß er auf den Rechnern auf immer mehr Foltervideos, die er aufgrund seiner eigenen Misshandlungserfahrungen zu dokumentieren begann. Über die Jahre kam da viel Material zusammen, das nun Gulagu.net zur Verfügung steht.

Insgesamt seien es mehr als tausend Filmaufnahmen mit einem Volumen von 40 Gigabyte, sagte Osetschkin dem Radiosender „Echo Moskvy“: „Damit können wir systematische Folter in russischen Strafkolonien und Untersuchungshaftanstalten in den Regionen Irkutsk, Saratow und Wladimir für den Zeitraum zwischen 2018 und 2020 belegen.“ Er plane, die Videos nun nach und nach zu veröffentlichen.

„Ein System zur Unterdrückung des Willens, des Terrors und der Erpressung“

Warum die Verantwortlichen in den Gefängnissen das verfängliche Bildmaterial überhaupt speichern ließen, erklärt Saweljew mit der Absicht, die Betroffenen unter Druck zu setzen: „Mit der Drohung, die entwürdigenden Aufnahmen innerhalb der Gefängnismauern publik zu machen, sollen entweder Geständnisse herausgepresst werden, oder die Bereitschaft, Zellengenossen oder andere Inhaftierte auszuspionieren.“

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Die Aufnahmen seien ein starkes Druckmittel: „Wenn der Übergriff bekannt wird, rutscht das Opfer in der Hackordnung des Gefängnisses nach unten und wird zum ‚petuch‘ (‚Hahn‘)“, erklärt der Whistleblower. Der Slangausdruck denunziert in Russland Schwule, die beim homosexuellen Geschlechtsverkehr die passive Rolle einnehmen und steht im übergeordneten Sinne für Männer, die benutzt oder missbraucht werden. Die Bezeichnung leitet sich aus der phonetischen Assoziation mit dem russischen Begriff „Pederast“ her, der in der Alltagssprache ein schlimmes Schimpfwort darstellt.

Auf die Frage hin, welche Gründe es für die Folter in russischen Gefängnissen prinzipiell gebe, sagte Saweljew der BBC: „Das ist ein System zur Unterdrückung des Willens, ein System des Terrors und der Erpressung.“

Als der Tag seiner Freilassung im Februar dieses Jahres näher rückte, war der Informatiker immer stärker von dem Willen angetrieben, dieses System aufzudecken. Deswegen versteckte er die USB-Sticks mit den Videos in der Nähe des Gefängnistores, und nachdem es ihm gelungen war, mit dem Material nach außen zu gelangen, wandte er sich an Gulagu.net mit dem Angebot der Veröffentlichung und der Bitte um Fluchthilfe.

Flucht mit Minibus und Flugzeug

Bis es nun im Oktober so weit war, hatte Saweljew allerdings noch eine Odyssee vor sich, die durchaus dem abenteuerlichen Trip ähnelte, den Edward Snowden unternahm, nachdem er die Sicherheitsschleuse in Hawaii passiert hatte. Während der Amerikaner zunächst nach Hongkong flüchtete und sich von dort aus auf einen Linienflug nach Havanna mit Zwischen- und dann doch Endstopp Moskau begab, überquerte der belarussische Staatsbürger Saweljew zunächst die Grenze zwischen Russland und seinem Heimatland per Minibus auf dem Landweg.

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Von dort ging es mit dem Flugzeug weiter zunächst nach Istanbul, dann nach Tunis – für beide Destinationen brauchte er als Belarusse kein Visum. Schließlich buchte Saweljew einen Rückflug nach Minsk mit Zwischenstopp in Paris. Kaum war er im Transferbereich des Flughafens Charles de Gaulle angekommen, stellte er einen Asylantrag in Frankreich. Denn dort sitzt inzwischen auch Gulagu.net-Chef Wladimir Osetschkin, dem der Boden in Russland 2015 aufgrund seiner Menschenrechtsaktivitäten zu heiß geworden war. Inzwischen bezeichnet er Saweljew als „unseren Edward Snowden“.

Der hatte viel Glück, dass er es überhaupt bis nach Paris schaffte. Denn zwischendurch waren ihm die russischen Behörden auf die Schliche gekommen, die seine Chats mit Gulagu.net bespitzelt hatten. Bei einer Inlandsreise in Russland verhörte die Polizei den 31-Jährigen deswegen am 24. September auf dem Flughafen Pulkowo in Sankt Petersburg stundenlang und ließ ihn nur wieder gehen, weil er versprach, mit der Staatsmacht in der Angelegenheit zu kooperieren.

Offensichtlich betrachtete das Regime den jungen Belarussen bis dahin als möglichen Kronzeugen, um gegen die systematische Folter im russischen Strafvollzug vorzugehen, die sich verselbständigt hat und dem Kreml schon lange ein Dorn im Auge ist: „Es sind Oberste und Generäle des Vollzugs“ sagte Osetschkin der Deutschen Welle, „die das im Aufklärungsfieber geschaffen haben, um Befehle auszuführen.“ Er erwarte, dass es Dutzende Strafverfahren und Schuldsprüche geben werde.

Das Regime reagiert

In seiner Ungeheuerlichkeit biete der aktuelle Fall der Staatsmacht offensichtlich also zumindest die Chance, ein Exempel zu statuieren. Dmitri Peskow, Pressesprecher des russischen Präsidenten, versprach eine „ernsthafte Aufklärung“, sollten sich die Vorwürfe bestätigen.

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Das russische Untersuchungskomitee, das direkt Präsident Wladimir Putin untersteht und für die Aufsicht über die Polizeikräfte zuständig ist, beeilte sich mit der Mitteilung, dass sieben Strafverfahren wegen des Verdachts der Folterung und der Ausübung sexueller Gewalt gegen Verantwortliche für das Gefängniskrankenhaus in Saratow eingeleitet worden seien. Außerdem gab der Föderale Strafvollzugsdienst (FSIN) bekannt, dass der Chef sowie weitere hohe Beamte des Strafvollzugswesens in Saratow von ihren Aufgaben entbunden worden seien.

Tatjana Moskalkowa, die Menschenrechtsbeauftragte der Russischen Föderation, kündigte über die staatliche Nachrichtenagentur Ria Nowosti ein Gesetzesvorhaben an, wonach eine spezielle Aufsichtsbehörde die Folter in Gefängnissen künftig bekämpfen und mit eigenen Sanktionsmöglichkeiten ausgestattet werden soll.

Wenn die angekündigten Maßnahmen in Russland tatsächlich rasch umgesetzt werden sollten, dann hat der Whistleblower Sergej Saweljew schneller etwas erreicht als der Whistleblower Edward Snowden. Der musste sieben Jahre lang warten, bis ein US-Berufungsgericht bestimmte Praktiken der NSA als illegal einstufte.

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