Bislang keine humanitären Visa

Wissler kritisiert mangelnde Hilfe für russische Kriegs­dienst­verweigerer in Deutschland

Janine Wissler, Parteivorsitzende der Linken.

Janine Wissler, Parteivorsitzende der Linken.

Berlin. Die Parteivorsitzende der Linken, Janine Wissler, hat den Umgang Deutschlands mit russischen Kriegs­dienst­verweigerern kritisiert. „Die Aussage, dass Deutschland Personen unterstützt, die sich nicht am Kriegsgeschehen beteiligen wollen, ist schlichtweg falsch, wenn man die derzeitigen praktischen Möglichkeiten betrachtet“, sagte Wissler gegenüber dem Redaktions­Netzwerk Deutschland (RND).

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Die bereits im September von der Bundes­regierung angekündigte europaweite Lösung komme nicht in Gang, monierte Wissler und fragte: „Was macht das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) eigentlich, wenn man trotz der Teil­mobil­machung Russlands noch prüfen muss, ob Kriegs­dienst­verweigerer aufgenommen werden können?“

Bisher gab es drei größere Auswanderungs­wellen

Schon im Herbst vergangenen Jahres hatte der Offenbacher Kriegs­dienst­verweigerer-Verein Connection e. V. kritisiert, dass es keine sicheren Einreise­möglichkeiten für Deserteure aus Russland gibt. „Was von politischer Seite bisher gemacht wurde, ist völlig unzureichend“, sagte Connection-Geschäftsführer Rudi Friedrich dem RND. „Es kommt ja faktisch niemand zu uns herein, es sei denn, er konnte noch ein Touristenvisum ergattern.“

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Thomas Kunze, der bis April 2022 das Moskauer Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung leitete und heute von Deutschland aus das Geschehen in Russland analysiert, hat drei Auswanderungs­wellen beobachtet: Die ersten Flucht­bewegungen von Russen ins Ausland setzten demnach unmittelbar nach dem russischen Angriff in der Ukraine ein und waren vor allem von Intellektuellen, Journalisten und Kultur­schaffenden angeführt, die sich möglichen Repressionen entziehen wollten.

Mit der zweiten Welle im Juli 2022 machten sich viele Angehörige der Mittelschicht auf den Weg, bevor es Ende September nach der Ankündigung der Teil­mobil­machung zu einer dritten und richtig großen Flucht­bewegung kam, mit der sich mehrere Hunderttausend junge Männer dem Kriegsdienst entziehen wollten. Die meisten von ihnen setzten sich in Länder ab, für die Russen keine Einreisevisa benötigen, wie Kasachstan, Armenien oder Georgien, aber auch in die Türkei oder nach Israel.

Der Connection e. V. geht davon aus, dass seit Kriegsbeginn rund 150.000 Männer im wehrpflichtigen Alter aus Russland nach Westeuropa geflohen sind. Allerdings ist es seit September 2022 deutlich schwieriger geworden, da die direkt angrenzenden westlichen Länder faktisch ihre Grenzen für russische Staatsbürger geschlossen haben.

Vergabe von Schengen-Visa erfolgt restriktiver

„Russische Kriegsdienst­verweigerer haben theoretisch die Möglichkeit, auch in Deutschland einen Antrag auf Asyl zu stellen, müssen es aber dazu erst einmal bis hierher schaffen“, erläutert Thomas Kunze. Da die EU‑Staaten seit Kriegsbeginn die Vergabe von Schengen-Visa durch ihre Botschaften restriktiver handhaben, sei das jetzt schwieriger geworden. Zudem gibt es auch in Deutschland große Sorge davor, sich Spione ins Land zu holen.

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„Alle Visaerleichterungen, die es für Bürger der Russischen Föderation im Reiseverkehr einmal gegeben hat, sind von vielen EU‑Staaten, allen voran von den baltischen Ländern und Polen, praktisch komplett zurück­genommen worden“, sagt Kunze und fügt hinzu: „Ich bin aber sehr dafür, dass russische Bürger generell noch in die EU reisen dürfen und Visa erhalten.“

Die Ballonkrise: Wie die USA und China mit dem Abschuss umgehen

Nach dem Abschuss eines mutmaßlichen chinesischen Spionage­ballons durch die USA erhebt Peking schwere Vorwürfe. Die USA hätten völlig überreagiert. Die Verschlechterung der Beziehungen kommt zur Unzeit: Schon durch den Ukraine-Krieg und die Spannungen um Taiwan ist die Anspannung hoch. Annäherungs­suche könnte es demnächst in Deutschland geben.

Kunze hält auch nichts von einer kollektiven Verurteilung der Russen und einer von außen artikulierten Aufforderung, gegen das Regime aufzutreten. „Wer in einer Diktatur groß geworden ist, der weiß, wie schwer es ist, gegen bestehende Verhältnisse aufzubegehren, und dass es nicht immer nur um plakativen Protest geht“, sagt Kunze, der gebürtiger Leipziger ist und in Jena und Leipzig Geschichte und Germanistik studiert hat. Anfeindungen gegen russische Künstler, die kein lautes Bekenntnis gegen Putin abgeben, wie etwa im Fall der Sängerin Anna Netrebko, hält der Historiker für verfehlt.

Genaue Zahlen gibt es nicht

Der Verein Connection schätzt, dass bis Ende Juli 2022 etwa 300 bis 400 wehrpflichtige Männer aus Russland in Deutschland einen Asylantrag gestellt haben. Genauere Zahlen gibt es nicht, weil das BAMF in seiner Statistik zu russischen Antragstellern nicht nach Gründen differenziert.

Aus Sicht von Janine Wissler reicht es nicht, dass Menschen hier ihren Asylantrag stellen können. „Es braucht verbindliche Schutz­versprechen in Form von humanitären Visa“, sagt die Linken-Chefin. „Statt weiter leere Versprechen zu machen, muss Bundeskanzler Olaf Scholz jetzt seinen Ankündigungen Taten folgen lassen und den Schutz derer gewährleisten, die sich dem verbrecherischen Krieg Putins widersetzen, sich weigern, Menschen in der Ukraine zu töten, und den Dienst an der Waffe verweigern.“

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Eine weitere Möglichkeit, von Russland aus in den Westen zu gelangen, ist der Weg über hierzulande nachgefragte Fachkräftejobs, wie Pflegekräfte, Ärzte, Ingenieure oder IT‑Spezialisten. Wer eine Zusage von einem deutschen Unternehmen hat, kann auch damit einen sogenannten Aufenthalts­titel beantragen. Nach russischen Angaben haben 2022 rund 100.000 IT‑Spezialisten das Land verlassen. Nach Einschätzung von Kunze hat ein großer Teil dieser Gruppe Russland nicht nur aus wirtschaftlichen Erwägungen den Rücken gekehrt, sondern auch, weil sie dem Regime kritisch gegenüber­stehen.

„Gerade in den großen urbanen Zentren wie Moskau und St. Petersburg mit einem hohen Anteil junger, moderner Akademiker ist die Skepsis gegenüber der Regierung besonders groß, das konnte auch man auch schon bei Wahlen vor dem Krieg beobachten“, erläutert Kunze. Auf dem flachen Land mit einer eher einfachen Bevölkerungs­schicht sei die Zustimmung für Putin entsprechend größer.

Widerständler in kleinen Gruppen verstreut

Mit Blick auf den Widerstand in Russland schätzt Kunze den politischen Einfluss der im Exil lebenden Oppositionellen eher als gering ein. Es gebe verschiedene kleinere Gruppen, die überall in der EU und in anderen Exilländern verstreut sind und kaum institutionalisiert zusammen­arbeiten. Das gelte leider auch für die Gruppe um den in Haft befindlichen Oppositionsführer Alexej Nawalny, die sich mit Leonid Wolkow, Ljubow Sobol und Wladimir Milow in drei im Social-Media-Bereich miteinander konkurrierende Lager gespalten habe.

„Von den aufwendigen, das System entlarvenden Recherchen, die unter Nawalnys Führung erfolgten und dann ins Internet gestellt wurden und Millionen­abrufe erzielten, kann heute keine Rede mehr sein“, sagt Kunze. Dafür fehle es den ins Ausland geflohenen Anhängern sicher auch an Mitteln und Möglichkeiten. Dennoch sei es verwunderlich, dass sich bei geschätzt einer Million Menschen, die Russland seit einem Jahr verlassen haben, im Ausland keine größeren Widerstands­gruppen formierten.

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„Eigentlich könnte man erwarten, dass sich jede Woche vor den russischen Botschaften Demonstranten zusammen­finden“, sagt Kunze. Aber da geschehe nichts, und das sei auch deshalb erstaunlich, weil sich viele junge Leute im Ausland befinden, die das System in Moskau zum großen Teil ablehnten. Auf der anderen Seite würden sich hier wiederum viele auch irgendwie verloren fühlen, was sie am Ende dann doch wieder an die alte Heimat bindet. Kunze: „Das ist eine tragische Melange.“

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