Er geht – aber wann?
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/HPVVB4RHRJC43K6BBIONONTOME.jpg)
Boris Johnson hat am Donnerstag seinen Abschied als Parteivorsitzender verkündet. Als Premierminister will er bis Oktober im Amt bleiben.
© Quelle: IMAGO/ZUMA Wire
Es war eine kurze Rede, mit der Boris Johnson am Donnerstag seinen Rücktritt ankündigte. Vor der schwarzen Tür der Downing Street 10 stehend wirkte er mit seinem zugeknöpften Jackett aufgeräumter als sonst. Ansonsten präsentierte er sich jedoch wie immer: Optimistisch verwies er auf seine Erfolge. Er sei „ungeheuer stolz auf die Errungenschaften dieser Regierung“, dass sie den Brexit durchgezogen, die Pandemie gemeistert und das Impfprogramm vorangetrieben habe. Johnson machte jedoch erneut ganz klar, dass er nicht freiwillig ging. Er habe versucht, seinen Ministern klarzumachen, dass es der falsche Zeitpunkt sei, um einen Nachfolger zu suchen. Er sei traurig, „den besten Job in der Welt“ aufzugeben. Reue zeigte der 58-Jährige nicht.
Johnson kündigte im Rahmen seiner Ansprache außerdem an, dass er geht, aber noch nicht gleich. Er will weiter regieren, bis ein Nachfolger oder eine Nachfolgerin gefunden ist. Ein Vorgehen, das in dieser Situation üblich, in der aktuellen Situation jedoch höchst umstritten ist. Viele Tories waren am Donnerstag der Meinung, dass er besser gleich aus der Downing Street ziehen und stattdessen ein sogenannter „Caretaker“ die Regierung leiten sollte, ein Übergangschef. Der konservative Abgeordnete Simon Hoare schrieb auf Twitter: „Es ist unbegreiflich, dass Herr Johnson im Amt bleiben kann. Er muss gehen und gehen bedeutet gehen.“ Auch der Labour-Oppositionschef Keir Starmer hatte den sofortigen Abzug gefordert. Die Suche nach einem neuen konservativen Parteivorsitzenden oder einer Parteivorsitzenden kann deshalb Monate dauern. Johnson bliebe im Amt, hat aber keinerlei Autorität mehr.
Vor zwei Wochen hat Johnson während einer Reise nach Ruanda noch darüber gescherzt, dass er noch mindestens bis in das Jahr 2030 Premierminister bleiben wolle. Die Realität sieht anders aus. Nachdem seit Dienstag mehr als 50 Minister, Abgeordnete und Mitarbeitende zurückgetreten waren, wuchs der Druck auf Johnson massiv. Damit blieb ihm letztlich nichts anderes übrig, als seinen Rücktritt zu erklären. Gegen seinen Willen. Johnson beschrieb es gestern so: „In Westminster ist der Herdeninstinkt stark und wenn sich die Herde bewegt, bewegt sie sich.“ Es war klassisch Johnson: Alle tragen Schuld an der Krise – außer er.
Boris Johnson tritt als Parteichef zurück
Großbritanniens Premier Johnson tritt als Chef seiner Konservativen Partei zurück. Er wolle aber als Regierungschef weitermachen, bis ein Nachfolger oder eine Nachfolgerin gewählt sei.
© Quelle: Reuters
Boris Johnson: Nach ersten Rücktritten stürzte seine Autorität wie ein Kartenhaus zusammen
In Gang gesetzt hatten den politischen Sturm Schatzkanzler Rishi Sunak und Gesundheitsminister Sajid Javid, als sie am Dienstagabend ihr Amt niederlegten. Sie teilten dem Premier in ihrem Rücktrittsschreiben mit, dass es so nicht weitergehen könne und bezogen sich damit auf den Skandal um den konservativen Abgeordneten Christopher Pincher. Johnson hatte ihm im Februar dieses Jahres den Posten des stellvertretenden parlamentarischen Geschäftsführers verschafft, obwohl er wusste, dass ihm schon in der Vergangenheit sexuelle Übergriffe vorgeworfen worden waren. Johnson leugnete dies jedoch tagelang, gab sich trotz zahlreicher Anschuldigungen ahnungslos, mal wieder.
Nach dem Abgang von Javid und Sunak stürzte die Autorität Johnsons zusammen wie ein Kartenhaus. Die Zahl der Rücktritte von Ministern und Abgeordneten stieg stündlich. Der Fernsehsender BBC News blendete die aktuelle Anzahl ununterbrochen ein, so rasch änderte sich die Lage. Schließlich besuchte Johnson am Mittwochabend eine Delegation von Ministern, darunter auch Innenministerin Priti Patel, in der Downing Street 10, um ihn zur Aufgabe zu bewegen. Vergeblich. Nach dem Treffen herrschte unter den Tories Frustration, vor allem aber Wut und Fassungslosigkeit darüber, dass der Premierminister keine Einsicht zeigte. Sie beschrieben sein Verhalten als „würdelos und egoistisch“.
Umso größer war gestern die Erleichterung über die Kehrtwende: Johnson wollte noch am selben Tag sein Amt abgeben. Ein Aufatmen ging durch die Reihen der Tories. Keir Starmer begrüßte den Rücktritt als „gute Nachricht für das Land“. Doch wie groß ist das Chaos, das Johnson hinterlässt? Denn bedingt durch die vielen Rücktritte wird die Regierungsarbeit nun deutlich erschwert – oder de facto unmöglich. Zudem zeigte sich die Partei empört über Johnsons Machtbesessenheit. Sein Versäumnis, sich in den letzten Tagen der Realität zu stellen, führte zu Vergleichen mit Donald Trump und Wladimir Putin. Der Schaden für die Partei, er wird bleiben.
Brexit und haushoher Wahlsieg: Boris Johnson galt als Gewinner
Lange Zeit hatte die Partei über die Verfehlungen Johnsons hinweggesehen. Nachdem er den Tories 2019 mit seinem Motto „Get Brexit Done“ zu einem historischen Sieg verholfen hatte, galt er als Gewinner. Auch Britinnen und Briten hatten ihm seine Schwächen und seinen eigenwilligen Umgang mit der Wahrheit oft verziehen. Boris eben. Schließlich gehörten Patzer und Pannen dazu, er war absichtlich unfrisiert und nahm es mit der Wahrheit nicht so genau. Warum die Britinnen und Briten so großzügig waren, erklärte Tim Bale von der Queen Mary Universität in London gegenüber dem RND einst so: Der 58-Jährige sei ein „besonderer“ Premier. „Er war schon berühmt, bevor er Premierminister wurde.“ Deshalb legten viele andere Maßstäbe an ihn an. „Man ist von ihm fasziniert. Er ist die Art Mensch, mit dem man gerne mal ein Bier trinken gehen will.“ Beobachterinnen und Beobachter verglichen ihn deshalb immer mal wieder mit dem auf der Insel bekannten dunkel-klebrigen Brotaufstrich „Marmite“, den man entweder hasst oder liebt.
Ernsthafte Zweifel an Johnsons Integrität kamen dann im Oktober letzten Jahres auf. Damals versuchte er, den Abgeordneten Owen Paterson nach Korruptionsvorwürfen vor einer Suspendierung zu bewahren. Kurz darauf vergaß Johnson im Rahmen einer Wirtschaftskonferenz in London seinen Text. 20 Sekunden dauerte es, bis er wieder wusste, was er sagen wollte. Dann berichtete er ausschweifend von seinem Wochenendausflug in einen Vergnügungspark namens „Peppa Pig World“. Ein Reporter richtete im Anschluss eine Frage an Johnson, die man als Premierminister eigentlich nicht gestellt bekommen möchte: „Ist alles okay mit Ihnen?“ Dieser reagierte gelassen: „Ich denke, die Rede kam ganz gut an.“ Ganz gut an kam die Rede jedoch allenfalls in den sozialen Medien. Denn dort wurde sie massenhaft geteilt und mit spöttischen Kommentaren versehen.
Boris Johnson: Partygate-Affäre war der Anfang vom Ende
Die schlimmste Krise begann jedoch, nachdem Johnson im Herbst vergangenen Jahres behauptet hatte, nichts von Partys während der Lockdowns in der Downing Street 10 gewusst zu haben. Die Beamtin Sue Gray recherchierte, schließlich nahm auch die Metropolitan Police Ermittlungen auf. Anfang des Jahres erhielt Johnson ein Bußgeld, beendet war der Skandal damit aber nicht. Eine Untersuchungskommission sollte nach wie vor herausfinden, ob Johnson das Parlament belogen hatte, als er sich bezüglich der Feiern ahnungslos gab. Die Folge von Partygate waren sinkende Umfragewerte für die Tories und schlechte Ergebnisse für die Partei bei den Regionalwahlen im Mai dieses Jahres.
Wer könnte Boris Johnson ersetzen, sollte er denn wirklich einmal gehen? Als aussichtsreicher Bewerber gilt unter anderem Nadhim Zahawi, der frischgebackene Finanzminister. Zahawi war innerhalb der Regierung für das Covid-Impfprogramm zuständig und hinterließ als Erziehungsminister einen kompetenten Eindruck. Manche vermuten jedoch, dass er seine Chancen auf das Amt gesenkt hat, indem er den Posten unter Johnson übernahm, nur um ihn einen Tag später zum Rücktritt aufzufordern.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/EFVQT3GGJJBEPJDMJ57HWTAWZM.jpeg)
Nadhim Zahawi trifft vor einer Kabinettssitzung in der Downing Street ein. Der erst am Dienstag ins Amt des Finanzministers berufene Zahawi hatte Johnson am Mittwoch öffentlich zum Rücktritt aufgefordert.
© Quelle: Aaron Chown/PA Wire/dpa
Als Favorit gilt außerdem der ehemalige Außen- und Gesundheitsminister Jeremy Hunt. Viele beschreiben ihn als anständig und erfrischend. Brexiteers stehen ihm jedoch skeptisch gegenüber. Gute Chancen soll überdies die Handelsministerin Penny Mordaunt haben, die für eine neue Generation von Konservativen steht. Ihr Problem ist aber, dass sie in den letzten Tagen an ihrem Amt festhielt und deshalb womöglich in Zukunft weniger Unterstützung erfährt.
Wann gibt es einen Nachfolger für Boris Johnson?
Die Wahl eines Nachfolgers erfolgt in zwei Stufen. In der ersten Phase bringen sich die Abgeordneten für das Amt ins Spiel. Danach wird die Anzahl an Kandidaten in einer Reihe von Abstimmungen reduziert, bis sich die Parteimitglieder schließlich zwischen zwei Abgeordneten entscheiden. Dieser muss im Lager der Zentristen, in jenem der Brexit-Hardliner sowie in jenem der Tory-Abgeordneten aus den ehemaligen Industriegebieten in Nordengland ausreichend Unterstützung erhalten. Auf wen die Wahl schließlich fällt, ist zum jetzigen Zeitpunkt völlig offen. Denn rückblickend waren es oft nicht die Topkandidaten, die am Ende das Rennen machten.
Johnson kündigte in seiner gestrigen Rede an, dass er die Partei bei der Suche nach einem Nachfolger unterstützen wolle, bevor er wieder in der Downing Street 10 verschwand. Dass er dort bald ausziehen wird, steht nun fest. Wann das passiert, ist aber offen.
Laden Sie sich jetzt hier kostenfrei unsere neue RND-App für Android und iOS herunter