„Rückschritt in den Protektionismus“ – Kritik an EU-Plan zu Exportkontrollen für Corona-Impfstoffe

Wie im Januar (Foto) tagen die Staats- und Regierungschefs der EU auch am Donnerstag wieder per Videoschalte.

Wie im Januar (Foto) tagen die Staats- und Regierungschefs der EU auch am Donnerstag wieder per Videoschalte.

Brüssel/Berlin. Kurz vor dem Corona-Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs hat die EU-Kommission die Exportbestimmungen für Corona-Impfstoffe am Mittwoch erheblich verschärft. Zwar soll es keine generellen Exportverbote geben, doch neue Kriterien könnten zur Folge haben, dass Impfstoffe in Einzelfällen die EU nicht verlassen dürfen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die neuen Richtlinien demnächst den britisch-schwedischen Pharmakonzern Astrazeneca treffen.

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Aufregung um Astrazeneca-Lager in Italien

Das Unternehmen hält in einem Lager in Italien 29 Millionen Dosen seines Impfstoffs vor, obwohl der Konzern seine Lieferverpflichtungen für die EU bei Weitem nicht einhält. Nach einem Bericht der italienischen Zeitung „La Stampa“ ist der Impfstoff für den Export nach Großbritannien bestimmt. Die italienische Regierung dagegen erklärte, der Impfstoff solle nach Belgien gehen.

Die Nachricht sorgte in Brüssel für Aufregung und dürfte auch beim Videogipfel der EU-Staats- und Regierungschefs am Donnerstag eine Rolle spielen. Astrazeneca ist bei seinen Lieferungen an die Europäische Union enorm im Rückstand. Statt bis zu 220 Millionen Dosen will das Unternehmen den EU-Staaten bis zur Jahresmitte nur 100 Millionen liefern.

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„Wir haben uns gefreut, dass da 29 Millionen Dosen sind“, hieß es am Mittwoch mit einem leichten Anflug von Sarkasmus in deutschen Regierungskreisen. Vielleicht werde es mit diesem Impfstoffen ja gelingen, einen Teil des Lieferrückstands aufzuholen.

Es wurde erwartet, dass die Staats- und Regierungschefs am Donnerstag bei ihrem Videogipfel die schärferen Ausfuhrbestimmungen der Kommission billigen werden. In deutschen Regierungskreisen hieß es, die neuen Richtlinien seien „kein Exportverbot, sondern in erster Linie ein Instrument, um einen Überblick zu bekommen, wohin Impfstoffe gehen“.

Impfstoffe sollen künftig zurückgehalten werden, wenn Verhältnismäßigkeit und Gegenseitigkeit nicht gewahrt sind. Die EU-Staaten steckten in der dritten Pandemiewelle, und nicht alle Herstellerfirmen lieferten gemäß ihrem Vertrag an die EU, sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen: „Wir müssen schnelle und ausreichende Lieferungen an die EU-Bürger sicherstellen. Jeder Tag zählt.“

Großbritannien liefert nicht in die EU

Vizekommissionspräsident Valdis Dombrovskis sagte am Mittwoch, dass die EU derzeit „einer der Hotspots der Pandemie“ sei, zugleich aber der größte Exporteur von Impfstoffen. So seien allein mehr als zehn Millionen Dosen aus der EU nach Großbritannien ausgeführt worden. Von dort sei jedoch keine einzige Dose in die EU gegangen.

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Bisher wurden nach Angaben der Kommission 380 Anträge zur Lieferung von insgesamt rund 43 Millionen Dosen Corona-Impfstoff in 33 Länder genehmigt. Nur ein Antrag wurde abgelehnt. Italien stoppte die Ausfuhr von 250.000 Dosen Astrazeneca-Impfstoff an Australien.

Solche Ausfuhrstopps könnten sich in Zukunft wiederholen. Denn das Prinzip der Gegenseitigkeit, auf das die EU-Kommission nun setzt, bedeutet, dass auch das Empfängerland Exporte von Impfstoffen oder Bestandteilen zulässt. Das Kriterium der Verhältnismäßigkeit zielt auf die Frage, ob das Empfängerland bereits eine bessere Pandemielage und eine höhere Impfrate hat. Beides trifft im Moment auf Großbritannien zu.

Deutsche Industrie kritisiert EU

Vertreter der deutschen Industrie übten Kritik an möglichen Ausfuhrbeschränkungen. „Exportverbote für Impfstoffe oder weitere medizinische Güter wären ein gefährlicher und unnützer Rückschritt in den Protektionismus. Es drohen Gegenmaßnahmen unserer Handelspartner“, sagte der Hauptgeschäftsführer des Industrieverbandes BDI, Joachim Lang, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Die EU sollte auch im Kampf gegen das Coronavirus ihrer Rolle als Vorkämpferin für Freihandel und globale Solidarität treu bleiben.“ Die EU müsse „Lieferkettenstörungen wegen krisenbedingter Hürden für den grenzüberschreitenden Warenverkehr mit aller Kraft verhindern“, so Lang.

Der Industrievertreter warnte eindringlich davor, dass die europäische Wirtschaft wegen des schlechten Managements der Pandemie den Anschluss an die Wirtschaftsräume Asiens und Amerikas verlieren könnte. „Die EU droht weltweit abgehängt zu werden. Die dritte Infektionswelle sowie strukturelle Probleme der Test- und Impfstrategien gefährden eine rasche wirtschaftliche Erholung“, sagte Lang dem RND. „Europa braucht ein beherztes, unbürokratisches Coronamanagement, das viel stärker auf Kooperation der EU-Mitgliedsstaaten setzt, und eine Langfriststrategie“, so der BDI-Hauptgeschäftsführer. „Erforderlich ist ein einheitliches EU-Konzept, das Test-, Hygiene-, Impf- und Öffnungsstrategien miteinander verzahnt. Nationale Alleingänge sind kontraproduktiv.“

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Die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Staaten werden am Donnerstagabend auch erstmals Gelegenheit haben, den Kampf gegen die globale Pandemie mit dem neuen US-Präsidenten zu besprechen. Joe Biden wird am Abend per Video aus Washington zugeschaltet. Ob auch der US-Exportstopp für Impfstoffe bei dem Gespräch eine Rolle spielen wird, war noch unklar.

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