Rückblick: #Aufschrei der Frauen
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Die Bewegung #MeToo wehrt sich gegen Sexismus und Machtmissbrauch.
© Quelle: Britta Pedersen/ZB/dpa
Jetzt hat es Tunesien erreicht. Vor einigen Wochen teilte dort eine Schülerin Fotos in sozialen Netzwerken. Darauf zu sehen ist ein Mann, der in seinem Auto vor einer Schule anscheinend masturbiert. Die Bilder sind versehen mit dem Hashtag #EnaZeda – was soviel wie #MeToo in tunesischem Arabisch bedeutet.
Auch und gerade im Nahen Osten und in Nordafrika erleben Mädchen und Frauen alltäglich Sexismus und sexuelle Nötigung. Dass sie es jetzt wagen, solche Erfahrungen in sozialen Medien publik zu machen, liegt auch an der riesigen Welle, die die #MeToo-Kampagne ausgelöst hat.
MeToo – der Begriff ist in Windeseile in unseren Sprachgebrauch eingegangen. Dabei haben ihn viele vor gerade einmal zwei Jahren zum ersten Mal gehört. Bekannt gemacht hat ihn die US-Schauspielerin Alyssa Milano. Nachdem ihre Kollegin Rose McGowan und andere Schauspielerinnen öffentlich darüber gesprochen hatten, von dem Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein sexuell belästigt, genötigt, vergewaltigt worden zu sein, twitterte Milano am 15. Oktober 2017 den heute legendären Satz: „Wenn du sexuell belästigt oder angegriffen wurdest, schreib ,Me Too’ als Antwort auf diesen Satz.“
Unvorstellbar viele Frauen twitterten und redeten über Sexismus.
Die Reaktion darauf war – das lässt sich ohne Übertreibung sagen – überwältigend. Einerseits ist das, zumindest für Frauen, nicht ganz so überraschend. Anderseits jedoch war es, als sei ein Korken aus der Flasche gesprungen: So unvorstellbar viele Frauen twitterten, schrieben und redeten plötzlich über Erfahrungen mit Sexismus.
Je prominenter sie oder die Männer waren, die sie beschuldigten, desto mehr Publikum hatten sie. Hollywood-Stars wie Gwyneth Paltrow und Salma Hayek gehören zu denen, die Weinstein genötigt hatte. Und auch in Deutschland gab es skandalträchtige Enthüllungen: So schilderten zwei Schauspielerinnen, von Regisseur Dieter Wedel bei Dreharbeiten sexuell belästigt und gedemütigt worden zu sein.
Auch Männer gaben sich als Opfer zu erkennen: Ende Oktober 2017, gerade mal zwei Wochen nach Milanos Tweet, erzählte der Schauspieler Anthony Rapp, dass ihn Kevin Spacey drei Jahrzehnte zuvor sexuell belästigt habe. Rapp war damals 14 Jahre alt. Nachdem auch andere Männer von Übergriffen berichtetet hatten, waren die Folgen für den zweifachen Oscar-Preisträger gravierend. Netflix schmiss Spacey alias Frank Underwood aus der Serie „House of Cards“.
Gravierend waren die Folgen aber auch in anderer Hinsicht: Plötzlich diskutierten Menschen zu Hause, auf Partys, in der Kantine darüber, wann charmant in schmierig abgleitet, wo ein Flirt aufhört und sexuelle Belästigung beginnt, ob moderne Frauen womöglich zu empfindlich seien. Nicht wenige Männer beklagten sich, dass sie gar nicht mehr wüssten, wie sie sich verhalten sollten, dass sie verunsichert seien. Manche meinten das ernst, andere vorwurfsvoll.
Von einem „Tugendfuror“ sprach Bundespräsident Joachim Gauck 2013 und davon, dass er „eine besonders gravierende, flächendeckende Fehlhaltung von Männern gegenüber Frauen hierzulande nicht erkennen“ könne. Der Hashtag #aufschrei macht zu der Zeit Furore. Die junge Feministin Anne Wizorek hatte ihn abgesetzt, um Frauen mit Erfahrungen von sexueller Diskriminierung oder Gewalt ein Forum zu geben. Zur selben Zeit berichtete Laura Himmelreich im „Stern“ darüber, dass der FDP-Politiker Rainer Brüderle sich ihr gegenüber verbal übergriffig verhalten habe.
#Aufschrei hatte nicht den internationalen Widerhall wie später #MeToo, doch haben Frauen in Deutschland dadurch ein Medium gefunden, in dem sie sich öffentlichkeitswirksam zu Wort melden können. Etwa auch, als in der Silvesternacht 2015 am Kölner Hauptbahnhof zahlreiche junge Männer – viele von ihnen nordafrikanischer Herkunft – Frauen sexuell belästigten.
Texte junger Feministinnen erhalten viel Aufmerksamkeit
Eindeutig: Frauen halten nicht mehr den Mund, wenn sie diskriminiert werden. Die Neunziger- und die Nullerjahre sind nicht unbedingt als Zeiten in Erinnerung, in denen ausgiebig über Genderfragen diskutiert wurde und darüber, wie wir eigentlich zusammenleben wollen. Das ist jetzt anders.
Wohl auch deshalb erhalten Texte junger Feministinnen wie der Britin Laurie Penny („Bitch Doktrin“) oder der Berlinerin Margarete Stokowski („Die letzten Tage des Patriarchats“) so viel Aufmerksamkeit. Und verdient ist die allemal. Penny hat ihrer „Bitch Doktrin“ einen Satz der 2006 verstorbenen Essayistin Ellen Willis vorangestellt: „Einzelne, die Zeugnis ablegen, verändern die Geschichte nicht; das können nur Bewegungen, die ihre soziale Welt begreifen.“ In den vergangenen Jahren konnte man erleben, wie viel Wahres da dran ist – und dass Frauen nicht nur begreifen, sondern auch etwas fordern, etwas eigentlich Einfaches und Fundamentales: Respekt. Dazu zählt, dass ein Nein als Nein respektiert wird und dass Frauen in ihrem Beruf Anerkennung erfahren.
Unter dem Hashtag #respectnurses schildern Krankenschwestern, Pflegerinnen und Pfleger gerade mangelnde Wertschätzung und sexuelle Übergriffe in ihrem Berufsalltag. Die Tweets machen eine Situation deutlich, die Außenstehende, Vorgesetzte und auch Angehörige von Pflegenden vielfach nicht sehen (wollen). Die Situation ist nicht nur für die Einzelnen fatal: Eine Gesellschaft, die unter eklatantem Fachkräftemangel in der Pflege leidet, kann sich solche Zustände eigentlich nicht leisten.
Am 6. Januar soll der Prozess gegen Weinstein beginnen – zweieinviertel Jahre nach Milanos #MeToo-Tweet, der erst Hollywood durchrüttelte und jetzt sogar Schülerinnen in Tunesien Mut macht.