Ex-Guerillero und Sozialist: Wer ist Gustavo Petro?
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Gustavo Petro (M.), Präsidentschaftskandidat der Koalition des Historischen Paktes, und Francia Marquez (M., r.), Kandidatin für die Vizepräsidentschaft von der Koalition Historischer Pakt, stehen am Wahlabend vor Anhängern.
© Quelle: Fernando Vergara/AP/dpa
Bogotá. Eigentlich beendet ein solcher Auftritt die politische Karriere: Gerade war Gustavo Petro von einer Auslandsreise aus Europa wieder in Kolumbien angekommen, da stürzte sich der Linkspolitiker schon wieder in den Wahlkampf. Gedränge, Schultergeklopfe und dann die Entscheidung, trotz Jetlags auf die Bühne zu gehen. Dummerweise hatte der ehemalige Guerillero zuvor ein paar Schnäpse getrunken und so geriet die Rede zu einem viralen Hit. Der angetrunkene Petro lallte von gehissten roten Fahnen, die Anhänger jubelten.
Doch Petros angetrunkener Wahlkampfauftritt schadete ihm nicht – im Gegenteil. Der ehemalige Guerillero wirkte damit volksnah, wie ein Nachbar, der in der Stammkneipe beim Frühschoppen seine politischen Ansichten äußerte. So ganz anders als die Anzugträger der politischen Elite aus Bogota.
Gustavo Petro, 62 Jahre, Sozialist und ehemaliges Mitglied der Guerilla-Bewegung M19, greift in Kolumbien nach der politischen Macht. Am Wochenende bekam er bei der Präsidentschaftswahl mehr als 40 Prozent der Stimmen – für die notwendige Mehrheit reichte das aber nicht. Nun steht für den ehemaligen Rebellen eine Stichwahl Ende Juni an.
Kolumbien: Berüchtigter Drogenboss an USA ausgeliefert
Dairo Antonio Usuga alias „Otoniel“ soll laut kolumbianischen Behörden jährlich bis zu 200 Tonnen Kokain geschmuggelt haben.
© Quelle: Reuters
USA-Kritiker und Russland-Freund
Petro führt das Linksbündnis „Pacto Historico“ an, das für einen radikalen Politikwechsel in Kolumbien steht. Das südamerikanische Land ist Nato-Partner und einer der engsten, vielleicht sogar der letzte wirkliche Verbündete der USA in Südamerika. Petro gilt als USA-Kritiker, als Russland-Freund, was ihm mal despektierlich, mal liebevoll den Spitznamen „Petrovsky“ eingebracht hat. Russland und die USA werfen sich nun gegenseitig vor, die Wahlen in Kolumbien beeinflussen zu wollen.
Kein anderer aktueller Politiker polarisiert in Kolumbien so wie Petro. Er ist ein Viel-Twitterer, es gibt unglückliche Videos, die zeigen, wie er mit Plastiktüten voller Bargeld hantiert, aber eben auch volksnahe lustige lebensnahe Auftritte.
Für die einen überwiegend jungen Kolumbianer ist er ein Hoffnungsträger. Jener Generation, die die bisweilen brutal zusammengeschlagenen Sozialproteste ausgehend im Jahr 2019 getragen hat. Die nie etwas anders erlebt hat als ein Land, das von rechts außen oder Mitte-Rechts regiert wird. Petro ist eine Mischung aus einem Linkspopulisten, Kommunisten und Sozialdemokraten – manchmal unberechenbar, manchmal nachdenklich.
Der ehemalige Bürgermeister Bogotas hat die Nöte der einkommensschwachen Bevölkerung erkannt, die unter den Nachwirkungen der Corona-Krise, der Inflation und einer strukturellen Benachteiligung leidet. Zwar hat Kolumbien in den letzten Monaten atemberaubende Wachstumszahlen hingelegt, doch auf dem Land und in den Armenvierteln kommt davon zu wenig an. Das liegt auch daran, dass klassische linke Politik wie das Eintreten für Arbeitsrechte, für Gewerkschaften, für gerechte Löhne in Zeiten des Krieges gegen die FARC-Guerilla bequemerweise von der rechten Regierung in einen Topf geworfen wurde. Das rächt sich nun für die herrschenden Eliten.
Versprechen von sozialer Gerechtigkeit und mehr Arbeitsplätzen
Petro verspricht den Vergessenen und Unsichtbaren mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Arbeitsplätze, bessere Jobs, Frieden und viele Millionen Touristen. Er verspricht, dass unter seiner Präsidentschaft Sozialaktivisten und Menschenrechtsverteidiger nicht mehr ermordet, sondern vom Staat beschützt werden. Er verspricht einen Umbau hin zu einer sozialgerechten ökologischen Landwirtschaft, den Stopp der Erdölproduktion und des Bergbaus. Das ist eine ganze Menge. „Kolumbien braucht Sozialismus“, sagt Petro.
Eine, die in einer der vergessenen Städte Kolumbiens lebt, fasst die Stimmungslage der jungen Menschen vor Ort so zusammen: „Für sie wäre es enorm wichtig, selbst zu erleben, dass ein Machtwechsel mit friedlichen Mitteln möglich ist – also mit der Abgabe der Stimme an der Wahlurne“, sagt Ulrike Purrer. Sie arbeitet in Zusammenarbeit mit dem Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat im Kulturzentrum „Centro Afro“ in der südkolumbianischen Stadt Tumaco, die besonders unter der Gewalt des Drogenhandels leidet. „Es gibt hier nicht einmal ein Abwassersystem, die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch, die Menschen fühlen sich vom Staat alleingelassen“, sagt Purrer im Gespräch mit dieser Zeitung. Doch sie stellt auch fest: „Die Sozialproteste haben die junge Generation politisiert, sie will jetzt mitgestalten.“
Unterstützt wird Petro von einer prominenten Kandidatin für das Vizepräsidentenamt: Die Afrokolumbianerin Francia Marquez, ausgezeichnet mit dem renommierten Goldmann-Umweltpreis, legte einen starken Start hin, erlaubte sich aber einige schwere Patzer. So machte sie den Import teurer deutscher Hühnereier für die hohen Eierpreise im Land verantwortlich. Der Haken: Kolumbien produziert alle Eier selbst, aus Deutschland kommen bestenfalls Überraschungseier.
Neben dem heutzutage üblichen Spott in den sozialen Netzwerken ist die Äußerung für Marquez noch aus einem anderen Grund ein Problem: Ein zentrales Wahlkampfversprechen ist der Umbau hin zu einer ökologisch sozialgerechten Landwirtschaft. Da sollten die Protagonisten schon wissen, welche Agrarprodukte im Land hergestellt werden und welche nicht. Die Kleinbauern, die „Campesinos“, um deren Stimmen Marquez wirbt, wissen das nämlich.
Vorbote einer linken Diktatur?
Für die andere Hälfte Kolumbiens ist Petro der Vorbote einer linken Diktatur nach dem Vorbild Venezuelas, Kubas oder Nicaraguas. „Wenn Petro gewinnt, dann gibt es in vier Jahren keine Wahlen mehr in Kolumbien“, sagt Ingrid Betancourt, die ehemals berühmteste Geisel der Welt, die mehr als sechs Jahre lang unter erbärmlichen Bedingungen im kolumbianischen Dschungel in den Händen der FARC-Guerilla gefangen war.
Betancourt trat selbst als Präsidentschaftskandidatin für die Umweltpartei Oxigeno an, war die einzige Frau im Rennen. Zwar ist sie gegen die Platzhirsche chancenlos, aber wegen ihrer Prominenz und ihrer Lebensgeschichte hat sie eine starke mediale Präsenz in Kolumbien. Inzwischen hat sie sich der Kandidatur des rustikal-konservativen Ex-Bürgermeisters Rodolfo Hernandez angeschlossen, dem Petro nun in der Stichwahl gegenübertreten muss.
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