Worum genau es bei der Regierungskrise in Österreich geht
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Sebastian Kurz (ÖVP), Bundeskanzler von Österreich, spricht bei einem Statement zur Regierungskrise im Bundeskanzleramt.
© Quelle: Georg Hochmuth/APA/dpa
Wien. Korruptionsvorwürfe gegen Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und einige Vertraute haben Österreich die nächste Regierungskrise beschert. Die Koalition mit den Grünen steht vor dem Aus. Worum es genau geht:
Regierungskrise in Österreich: Was ist passiert?
Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Kanzler Kurz und einige seiner engsten Vertrauten wegen des Verdachts der Bestechlichkeit und Untreue. Das Team soll den Aufstieg von Kurz an die Spitze von Partei und Staat seit 2016 durch geschönte Umfragen und gekaufte Medienberichte abgesichert haben. Dafür seien Steuermittel geflossen. Die Beschuldigten bestreiten die Vorwürfe, die am Mittwoch nach einer Razzia im Bundeskanzleramt bekannt geworden waren.
Die Verdachtsmomente stützen sich auf Chatnachrichten aus dem Machtzirkel um Kurz. Am Freitag veröffentlichten Medien weitere Nachrichten, in denen Kurz anscheinend auch aktiv gegen den früheren ÖVP-Chef und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner intrigierte.
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Wie reagierte Kanzler Kurz?
Unbeeindruckt von Korruptionsvorwürfen und Rücktrittsforderungen hält Kurz an seinem Amt fest. Er und seine Partei seien „handlungsfähig und vor allem auch handlungswillig“, sagte Kurz am Freitagabend in einem kurzfristig angekündigten Statement im Kanzleramt. Er wolle alles tun, um politische Stabilität zu gewährleisten. Dazu werde er in einem engen Dialog mit dem Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen bleiben.
Laut der „Kronen-Zeitung“ äußerte Kurz sich auch zu den Chatverläufen, die im Zusammenhang mit den Korruptionsvorwürfen gegen ihn aufgetaucht waren. Kurz erklärte, dass er die Nachrichten heute „so nicht mehr formulieren würde“.
Hat die Koalition zwischen ÖVP und Grüne noch eine Chance?
Die Grünen stellten am Freitag klar, dass eine Fortsetzung ihrer Koalition mit der konservativen ÖVP angesichts der schweren Korruptionsvorwürfe gegen Kanzler Sebastian Kurz nur ohne ihn möglich sei. „Es ist ganz klar, dass so jemand nicht mehr amtsfähig ist“, sagte die grüne Fraktionschefin Sigrid Maurer in Wien. Die ÖVP sei nun aufgefordert, eine „untadelige Person“ zu nominieren, die die Regierung weiterführen könne. Zuvor hatten die Grünen die Handlungsfähigkeit von Kurz nur infrage gestellt.
Es werde immer deutlicher, „dass es im Machtzentrum der ÖVP ein erschütterndes, ein erschreckendes, ja eigentlich ein schauerliches Sittenbild gibt“, sagte Grünen-Parteichef und Vizekanzler Werner Kogler am Freitagabend.
Österreichs Kanzler Kurz tritt nicht zurück: „Handlungsfähig und handlungswillig“
In einem Statement am Freitagabend in Wien betont Sebastian Kurz, dass die Regierung weiter handlungsfähig ist.
© Quelle: Reuters
Wäre eine Regierung ohne Kurz und die ÖVP möglich?
Am Freitag führten die Grünen Gespräche mit allen Parlamentsparteien, um künftige Kooperationsmöglichkeiten auszuloten. Für eine mögliche Mehrparteienregierung ohne ÖVP bräuchten die Grünen allerdings nicht nur die Stimmen der sozialdemokratischen SPÖ und der liberalen Neos, sondern auch jene der FPÖ. Die Rechten vertreten jedoch völlig andere Positionen in Sachen Umwelt, Migration und Pandemiebekämpfung als die drei anderen Parteien. Die FPÖ ist mit 30 von insgesamt 183 Mandaten im Nationalrat vertreten. Ohne die Mitwirkung der Rechtspopulisten ist keine Mehrheit jenseits der ÖVP von Kanzler Kurz möglich.
Will die rechte FPÖ in die Regierung?
Die rechte FPÖ ist bereit zu Gesprächen mit den anderen Parlamentsparteien, um einen Ausweg aus der Regierungskrise zu finden. Dabei müsse die FPÖ jedoch als gleichberechtigter Partner behandelt werden, forderte Parteichef Herbert Kickl am Freitag in Wien. „Ich will Gespräche auf Augenhöhe haben und nicht eine Vorgangsweise, bei der sich mehrere Parteien etwas ausmauscheln und dann kommt man zu den Freiheitlichen und sagt, wir sollen das Ganze unterstützen.“ Während Grüne, SPÖ und Neos derzeit keine Neuwahlen gegen den bislang populären Kurz anstreben, schloss Kickl einen Urnengang als Option nicht aus.
Zur Vorbereitung einer Vier-Parteien-Koalition gegen Österreichs Kanzler Sebastian Kurz sind die Sozialdemokraten nach Medieninformationen bereit, auf die rechte FPÖ zuzugehen. Das bisherige selbstauferlegte Verbot einer Zusammenarbeit auf Bundesebene könne kippen, schreibt die Zeitung „Die Presse“ am Samstag.
„Der gemeinsame Kitt ist, mit dem System Kurz aufzuräumen und wieder Stabilität und Sauberkeit ins Land zu bringen“, zitiert das Blatt SPÖ-Kreise. SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner erklärte im ORF, „außergewöhnliche Situationen brauchen außergewöhnliche Handlungen.“ Ein Vier-Parteien-Bündnis aus SPÖ, Grünen, liberalen Neos und der FPÖ bezeichnete sie als „unwahrscheinlich, aber möglich.“
Was fordert Österreichs Bundespräsident?
Österreichs Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat in der Regierungskrise alle Parteien aufgefordert, zuallererst an das Wohl des Landes und nicht an eigene Interessen zu denken. „Österreich kann sich jetzt keine Egoismen leisten“, sagte das Staatsoberhaupt am Freitagabend in einer kurzen Rede an die Nation.
Ohne Kanzler Sebastian Kurz und dessen ÖVP ausdrücklich zu nennen, ließ er seinen Unmut über deren Verhalten erkennen. Zwar hätten Beschuldigte ein Recht auf die Unschuldsvermutung, „aber auch die Bürgerinnen und Bürger Österreichs haben Rechte, unter anderem jenes auf eine handlungsfähige Regierung“.
Regierungskrise in Österreich: Bundespräsident appelliert an Politiker
Die Lage rund um die Ermittlungen der Justiz gegen Bundeskanzler Kurz spitzt sich zu. Österreichs Präsident hielt eine Rede an die Nation.
© Quelle: Reuters
„Im Raum stehen schwere Anschuldigungen“, sagte der Präsident. Es entstehe ein „Sittenbild, das der Demokratie nicht guttut“. Er habe andere Erwartungen an das Verhalten von politisch Verantwortlichen, fügte er hinzu. Generell betonte das Staatsoberhaupt: „Ich werde mit Argusaugen darüber wachen, dass die Handlungsfähigkeit und Integrität aller Institutionen unserer Republik gewährleistet sind.“
Wie geht es weiter?
Am kommenden Dienstag will die Opposition bei einer Sondersitzung des Parlaments einen Misstrauensantrag gegen Kurz einbringen. Aufgrund der bisherigen Äußerungen gilt es als wahrscheinlich, dass die Grünen dem Sturz von Kurz zustimmen, falls er nicht doch noch zuvor zurücktritt.
Die Grünen wollten unmittelbar vor dem geplanten Misstrauensvotum gegen Kurz das bereits ausverhandelte Budget gemeinsam mit der ÖVP noch offiziell beschließen. „Wenn es allen um die Sache geht, steht einem Budget-Beschluss nichts im Weg“, sagte Vizekanzler und Grünen-Chef Werner Kogler am Samstag. Am Etat hingen wichtige Projekte wie der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, der Ausbau der Kindergartenplätze, die Digitalisierung an Schulen sowie der Ankauf von Corona-Impfstoff. „Wir tragen Verantwortung, also bringen wir das in trockene Tücher“, so Kogler.
Doch der Vorstoß scheiterte. Der Ministerratsbeschluss und das Votum im Nationalrat seien seit langem für den 18. November festgelegt, teilte ein Sprecher des ÖVP-geführten Finanzministeriums der österreichischen Nachrichtenagentur APA mit. „Ob dieser Fahrplan so hält, hängt von den Grünen ab und ob sie in der Sondersitzung am Dienstag staatspolitische Verantwortung übernehmen.“
Kurz wurde schon einmal per Misstrauensvotum aus dem Amt gedrängt: Im Mai 2019 stimmte eine Mehrheit im Parlament gegen den ÖVP-Chef und seine gesamte Regierung. Damals folgten Neuwahlen, die Kurz und seine Partei deutlich gewannen.
RND/af/dpa