Regieren ohne Fachwissen: Die acht Fehler der Taliban
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Jetzt sind sie an den Schalthebeln der Macht. Aber wie funktionieren die eigentlich? Taliban nach ihrem Vordringen in den Präsidentenpalast am 15. August 2021.
© Quelle: AP
Niemand hat den Taliban gratuliert zu ihrem seltsamen Sieg in Kabul, keine Regierung weltweit. Woran liegt das bloß?
Wohl nicht zuletzt an der Optik. Im Präsidentenpalast von Kabul haben deplatziert gewirkt wie die teils kostümierten und gehörnten Trump-Fans, die am 6. Januar ins Kapitol vorgestoßen waren: aggressiv und ahnungslos zugleich.
Wie man hört, sind sie inzwischen auf der Suche nach Helfern, die ihnen zeigen sollen, wie man die Hebel der Macht, an denen sie nun sitzen, eigentlich bedient.
Früheren Regierungsmitarbeitern, die sich auskennen, etwa mit Finanzthemen und Informationstechnologie, machen sie hastig Amnestiezusagen.
Den Klügeren unter den Taliban scheint zu dämmern: Eine Nation, auch eine kleine, durchs 21. Jahrhundert zu steuern ist nicht ganz trivial. Allein mit Steinigungen und Enthauptungen jedenfalls sind die Probleme nicht zu lösen.
Fehler Nummer eins: Zu hohes Tempo
Es ging alles viel zu schnell. Die Taliban wollten Mitte August unbedingt eine Show abziehen, vor ihren Landsleuten und vor dem Rest der Welt. In dem Moment, in dem die Nato nach 20 Jahren abzog, wollten sie den Eindruck erwecken, als hätten sie sich gerade erhoben und die westlichen Truppen soeben besiegt und verjagt. Dabei war der Rückzug des Westens längst beschlossen und verkündet, aus innenpolitischen Gründen, die in den Hauptstädten des Westens zu suchen sind.
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In der Pose des Siegers: Talibankämpfer in Kabul, in der Nähe des Flughafens.
© Quelle: imago images/UPI Photo
Die Taliban aber konnten der Versuchung nicht widerstehen, nun schnell vor die Kameras zu treten und breitbeinig die Pose des Siegers einzunehmen. Drohend kurvten sie durch die Dörfer nach Art einer Motorradgang. In Kabul gaben sie Pressekonferenzen, als hätten sie das ganze Land unter Kontrolle. In Wahrheit steigerten die Taliban in diesen wirren Tagen nur die Wahrscheinlichkeit ihres eigenen Kontrollverlustes, ökonomisch und sicherheitspolitisch.
Während nach außen hin die Taliban triumphierten, neigte sich ihr ohnehin bettelarmes Land in Wirklichkeit noch weiter knirschend in Richtung Abgrund. Der Internationale Währungsfonds stellte seine Zahlungen an Afghanistan ein. Afghanistans Zentralbankchef verschwand ins Ausland und ließ wichtige Codes mitgehen. Parallel dazu sammelte sich eine Anti-Taliban-Front im Pandschir-Tal im Norden des Landes. Und über alle Grenzen hinweg, aus dem dem Iran etwa, sickerte zudem eine mittlerweile offenbar vierstellige Zahl radikaler Kämpfer rivalisierender islamistischer Gruppen ins Land ein.
Es hätte für die Taliban die Option gegeben, zunächst die afghanische Regierung von Präsident Ashraf Ghani eine Weile machen zu lassen, mindestens ein paar Monate. „Ihr habt Uhren, wir haben Zeit“, sagten die Taliban vor 20 Jahren den westlichen Kommandanten. Es hätte im Interesse der Taliban gelegen, auch in diesem historischen Moment noch einmal Geduld zu beweisen – und den Machtwechsel sorgfältig vorzubereiten. Genau dies ist nun nicht geschehen.
Fehler Nummer zwei: Haftung für neuen Terror
Weil die Taliban diese Geduld nicht hatten, haften sie politisch schon jetzt für alles, was geschieht.
„Im ganzen Land herrscht Ruhe“, verkündete ein Talibansprecher – bevor am Donnerstagabend eine gewaltige Bombe 169 Afghanen und 13 US-Soldaten in den Tod riss. Das dreiste Bekenntnis der Terrorbande ISIS-K zu diesem menschenverachtenden Anschlag wirkte politisch auf Land und Leute wie ein Hammerschlag: Auch die Taliban, so lautete die unmissverständliche Botschaft der Terrorgruppe, können keine Sicherheit garantieren.
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Kabuls Kliniken arbeiten an ihren Kapazitätsgrenzen. "Im ganzen Land herrscht Ruhe", verkündeten die Taliban - bevor ein gegen ihre Herrschaft gerichteter Sprengsatz des "Islamische Staats" eine dreistellige Zahl von Menschen tötete und verletzte.
© Quelle: imago images/Xinhua
Die Taliban hatten den Afghanen stets die Story verkauft, sie seien zwar strenger als die vorige Führung und an schlechten Tagen auch schon mal direkt unmenschlich. Doch sie sorgten immerhin für Recht und Ordnung. Viele Afghanen, vor allem die kriegsmüden älteren, waren bereit, ihnen das abzukaufen. Doch diese Erzählung ist nun schon in den allerersten Tagen nach der Machtübernahme widerlegt. Die Taliban, zeigt sich, können nur für neue Willkür sorgen, nicht für neue Sicherheit.
Fehler Nummer drei: Kein Plan für Geheimdienste
Im Westen weitgehend überhört wurde ein zweiter Knall in Kabul nach dem Bombenterror von ISIS-K: Die US-Truppen sprengten am Ende der Woche „Eagle Base“ in die Luft, die frühere CIA-Zentrale in der afghanischen Hauptstadt. Von hier aus hatten amerikanische Spione 20 Jahre lang tief in die afghanische Gesellschaft hineingeleuchtet. Hier war auch eine ganze Generation afghanischer Sicherheitsexperten ausgebildet worden. Sämtliche Aufzeichnungen und Daten sind nun zerstört.
Für die Taliban wäre es besser gewesen, den Datenschatz in Verhandlungen mit den USA wenigstens teilweise zugänglich zu machen und in aller Ruhe zu durchdringen. Vor allem für die Bekämpfung des Islamischen Staats wäre dies nützlich gewesen. Aber es gab kein Konzept zum Umgang mit den geheimen Diensten.
Stattdessen kommt es nun zu einem Fadenabriss bei der inneren Sicherheit: Wer immer sich im Auftrag der Taliban als Chef der künftigen Inlandsaufklärung ans Werk macht, fängt bei Null an. Auch hier wäre das langsamere Vorgehen, mit dem Umweg über die Regierung Ghani, der intelligentere Weg gewesen.
Fehler Nummer vier: Chaos im Geldsystem
Die Taliban steuern ihr Land in eine Finanzkrise. Die privaten Banken Afghanistans sind bereits ins Taumeln geraten. Einige zahlen gar kein Geld mehr aus. Andere begrenzen die Abhebung an Geldautomaten auf umgerechnet 100 US-Dollar binnen 24 Stunden. Das schafft Misstrauen vor allem bei der Kabuler Mittelschicht, die teilweise erhebliche Ersparnisse auf den Konten geparkt hat.
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Mal zahlen die Banken gar nichts aus, mal nur kleine Beträge: Schlange vor einem Geldinstitut in Kabul.
© Quelle: -/AP/dpa
Betroffen ist aber auch das staatliche Finanzsystem, das schon unter der Vorgängerregierung etwa zur Hälfte von ausländischen Hilfszahlungen lebte. Der Internationale Währungsfonds hat seine Zahlungen gestoppt. Auch auf den Gold- und Devisenschatz der afghanischen Notenbank können die Taliban bislang nicht zugreifen – die Vorgänger haben die Codes mit ins Ausland genommen. Das Gold lagert ohnehin in den USA.
Parallel dazu verfällt der Wert der Währung Afghani. Die Erosion der Kaufkraft könnte viele schon jetzt extrem arme Familien endgültig in den Status von Hungerleidenden treiben. Obendrein könnten auswärtige Stromerzeuger, etwa aus Usbekistan, von denen Afghanistan in hohem Maße abhängt, den Strom abschalten – wegen nicht bezahlter Rechnungen.
In Kabul, einer Stadt mit doppelt so viel Einwohnern wie Berlin, waren die meisten Menschen es eben noch gewohnt, genug zu essen zu haben und ungehindert ins Internet zu gehen. Wie sich Hunger und Stromausfall in einem möglichen Worst-Case-Szenario politisch auf die Stimmung in der Stadt auswirken, wird sich zeigen. Die Verantwortlichen jedenfalls stehen jedem Bewohner der Millionenmetropole vor Augen: Es sind nicht die Amerikaner, es ist auch nicht Ghani. Es sind ihre neuen Herrscher, die Taliban.
Fehler Nummer fünf: Die Talente sind weg
Als sie triumphierend mit ihren Gewehren fuchtelten, ist den Taliban offenbar entgangen, welche ihrer Landsleute daraufhin als erste im Laufschritt das Land verließen. Es waren die Besten und Klügsten. Leute, die fremde Sprachen sprechen. Die sich auskennen mit digitalen Techniken. Die Kontakte haben in alle Welt. Es sind Leute, die sie eigentlich gut hätten gebrauchen könnten.
Nachdem allein die USA schon 100.000 Menschen per Luftbrücke außer Landes gebracht hatten, ging einigen Talibanführern auf, dass soeben der Grundstein gelegt worden war für einen wohl noch auf Jahrzehnte fortwirkenden Fachkräftemangel in Afghanistan. Plötzlich hieß es, IT-Fachleute und Ingenieure sollten im Land bleiben. Da war es schon zu spät.
Die Besten verlassen das Land: Roya Heydari, afghanische Regisseurin und Fotografin, verschickte diese Bild von sich kurz vor der Ausreise.
© Quelle: Roya Heydari
Rund um den Globus fürchten Regierungen heute nichts so sehr wie einen „brain drain“. Allerorten buhlen Politiker und Wirtschaftsführer vor allem um junge Talente. Die Taliban indessen blicken an dieser Stelle schon nach 14 Tagen an der Macht auf eine bittere Bilanz: Sie haben, eine Idiotie, ihre Elite eigenhändig aus dem Land getrieben.
Fehler Nummer sechs: Rückkehr zu Willkür und Grausamkeit
Vielen bewaffneten Bärtigen scheint dieser Tage ihre plötzlich absolute Macht zu Kopf zu steigen. So wächst insbesondere an Orten, wo keine Kameras sind, die Versuchung, Wehrlose zu massakrieren, wie bei den Nazis oder den Kindersoldaten von Pol Pot.
Die religiöse Minderheit der Hazara zum Beispiel wird von den Taliban erneut schlecht behandelt. Dazu trägt offenbar bei, dass sie Schiiten sind, anders als die sunnitische Mehrheit im Land. Man hört erste Berichte von Erschießungen. Amnesty International spricht von einem Massaker, das die Taliban bereits Anfang Juli angerichtet haben sollen, im Dorf Mundarakht im Bezirk Malistan. Sechs wehrlose Männer wurden den Berichten zufolge erschossen und drei weitere zu Tode gefoltert; den Berichten zufolge waren ihnen die Armmuskeln herausgeschnitten worden.
Entsetzt fragen jetzt Menschenrechtler: Was soll das werden? Der Auftakt zu einem neuen Religionskrieg? Entsetzliches Blutvergießen, das weiß man, bekommt diese Weltregion auch ganz ohne Einmischung des Westens hin.
Fehler Nummer sieben: Rückkehr zur Erniedrigung von Frauen
Allen anderslautenden Beteuerung zum Trotz sind die Taliban dabei, für die Frauen in Afghanistan die Uhr zurückzudrehen. Um einige Jahrhunderte.
Mit Zwangsverheiratungen etwa soll in den Provinzen bereits wieder begonnen worden sein. Zugleich wurde in Kabul eine beliebte TV-Moderatorin auf dem Weg ins Studio gestoppt. „Geh nach Hause“, bedeuteten ihr die Bärtigen. Seither sah man sie nicht mehr vor der Kamera.
Wie rechte Trumpisten in den Südstaaten der USA: Taliban demonstrieren ihre vermeintliche Überlegenheit gegenüber Frauen, gegenüber Minderheiten und gegenüber dem gesamten Rest der Welt.
© Quelle: AP
Was treibt diese Männer in eine so archaische Vorgehensweise? Wie rechte Trumpisten in den Wäldern der US-Südstaaten ergötzen sie sich an ihrer vermeintlichen Überlegenheit, johlend auf dem Pick-up, mit Gewehren auf der Ladefläche. In all dem liegt etwas Gefährliches, aber eben auch etwas Armseliges.
Fortschrittsverlierer ist ein Begriff aus der weltweiten Populismusforschung. Und irgendwie passen in deren Raster am Ende auch die Taliban: zornige Männer, viele unfreiwillig unverheiratet, mit einer Tendenz, die eigene Macht zu überhöhen und die Komplexitäten der Welt kleinzureden. Dass auch sie sich abgehängt fühlen, nimmt man ihnen sofort ab. Auch dass sie sich bedroht sehen durch Globalisierung und Digitalisierung. Denn sie haben davon ja auch keine Ahnung.
Fehler Nummer acht: Naivität gegenüber China
Im Juli waren die Taliban stolz wie nie. Da wurde eine Abordnung von ihnen in Peking von Chinas Außenminister Wang Yi empfangen. China hat sie stolz präsentiert als seine neuen Partner, die Auslandspresse wurde hinzugebeten.
Es war ein kühl kalkuliertes Manöver. Erstens wollten die Chinesen den USA eine Nase drehen. Und zweitens geht es ihnen um Lithium und seltene Erden. Afghanistan hat Bodenschätze, die die Autoindustrie braucht auf ihrem Weg in Richtung Elektrifizierung. Der Wohlstand in Afghanistan ließe sich damit, wenn man es schlau anstellt, schon binnen zehn Jahren spürbar heben. Doch dazu wären Frieden und sozialer Ausgleich notwendig und das, was man gute Regierungsführung nennt.
Die Taliban stehen dummerweise für das Gegenteil. Sie verjagen neben ihrer eigenen Elite auch jeden möglichen Investor aus dem Ausland. Zuletzt wollte Siemens Energy einen Weg einschlagen, der Afghanistan mehr Energieunabhängigkeit vom Ausland gebracht hätte und zugleich mehr Klimaschutz. Jetzt liegen allein auf diesem Feld Milliardenprojekte auf Eis.
Wer soll den Afghanen helfen und einen ökonomischen Neubeginn finanzieren? China? Glauben die Taliban, Peking werde sie nicht über den Tisch ziehen?
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Chinas Geheimgefängnisse für Moslems in der Provinz Xinjiang waren zunächst kein Thema: Taliban-Abordnung im Juli dieses Jahres bei Chinas Außenminister Wang Yi in Peking.
© Quelle: China Ministry of Foreign Affairs
Klar, auch der Westen würde gern über die Rohstoffe reden. Geschäfte machen wollen alle.
EU und USA aber betreiben immerhin keine Geheimgefängnisse zur brutalen Unterdrückung von Moslems wie Peking in der Provinz Xinjiang. Wissen die Taliban nicht, dass in China schon das offene Bekenntnis zum Islam ausreichen kann für eine Inhaftierung? Wie wollen sie ihren Glaubensbrüdern, den Uighuren, die in Umerziehungslagern zu Hunderttausenden in unwürdiger Weise gegängelt werden, erklären, warum sie plötzlich Peking die Hand reichen?
Die Annäherung der Taliban an China ist naiv. Zur tiefen Sehnsucht vieler Afghanen nach Selbstbestimmung passt es ganz und gar nicht, sich mit einem dezidiert antifreiheitlichen Regime zu verbünden, das sich, etwa auch Tibet, wie kein zweites auf der Welt einer religionsfeindlichen staatlichen Gedankenkontrolle verschrieben hat.
Schon bald könnte sich herausstellen, dass die Taliban im Sommer 2021 in Gestalt der Amerikaner und der Europäer ausgerechnet jene Staaten der Welt aus ihrem Land vertrieben haben, die bei allem, was man vielleicht gegen sie sagen kann, schon wegen ihrer grundsätzlichen Liberalität noch am ehesten als faire Partner eines freien Afghanistans infrage gekommen wären.