„Vielleicht die beste Rede seiner Präsidentschaft“

Entschlossen und energisch: Biden will es noch einmal wissen

Joe Biden, Präsident der USA, kommt zu seiner Rede zur Lage der Nation vor einer Sitzung des Kongresses im US-Kapitol.

Joe Biden, Präsident der USA, kommt zu seiner Rede zur Lage der Nation vor einer Sitzung des Kongresses im US-Kapitol.

Washington. Joe Biden hat ziemlich genau eine halbe Stunde geredet, als es im Plenarsaal des amerikanischen Kapitols plötzlich unruhig wird. Eigentlich ist die jährliche Ansprache des Präsidenten zur „State of the Union“ vor beiden Kammern des Kongresses ein ehrwürdiges Ritual, bei dem der Staatschef eine Regierungserklärung abgibt und sich das Parlament ein wenig selbst feiert. Doch plötzlich ruft jemand laut „Lügner!“, und Kevin McCarthy, der frisch gewählte republikanische Parlamentschef, blickt ziemlich erschrocken drein.

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Der Präsident am Rednerpult aber scheint die Szene zu genießen. „Einige meiner republikanischen Freunde wollen die Wirtschaft als Geisel nehmen, es sei denn, ich stimme ihrer Wirtschaftspolitik zu“, hat er seine Ausführungen zur Haushaltspolitik eingeleitet. Im Sommer droht den USA die Zahlungsunfähigkeit, wenn der Kongress bis dahin nicht die Schuldenobergrenze angehoben hat. Dazu aber seien einige Republikaner nur bereit, wenn drastische Einschnitte bei den Sozialausgaben vorgenommen würden, hatte Biden kritisiert und damit den unziemlichen Aufruhr ausgelöst.

Rede vor US-Kongress: Biden reicht Republikanern die Hand
President Joe Biden delivers his State of the Union address to a joint session of Congress in Washington, DC, on Tuesday, February 7, 2023. Biden is expected to tout his economic achievements over the past two years and outline the national budget that he will send to Congress on March 9. PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxHUNxONLY WAS20230207542 PATxBENIC

Biden sah sich bei seiner Ansprache mit neuen Mehrheitsverhältnissen im Kongress konfrontiert. Gleichzeitig hat er den Republikanern die Hand ausgestreckt.

Biden lockt die Republikaner in eine Falle

„Also sind wir uns einig, dass die Sozial- und Krankenversicherung nicht zur Debatte stehen“, dreht der Redner daraufhin den Spieß um und bringt damit weitere Zwischenrufer vom ultrarechten Flügel der Republikaner erst recht in Rage. Jeden Versuch, dort den Rotstift anzusetzen, werde er mit seinem Veto verhindern. Die Demokraten jubeln. „Lasst uns zusammensetzen und unsere jeweiligen Vorstellungen gemeinsam diskutieren“, bindet Biden das Thema schließlich präsidial ab. Dem Oberrepublikaner McCarthy bleibt nichts anderes übrig, als müde zu klatschen.

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Viel war vor dem Auftritt Bidens spekuliert worden: Wie würde der Mann, der als Versöhner angetreten war, damit klarkommen, dass die Mehrheit des Repräsentantenhauses nun von Republikanern gehalten wird, die keinerlei Interesse an einer überparteilichen Zusammenarbeit haben? Welche Schwerpunkte würde der Präsident für die zweite Hälfte seiner Amtszeit setzen? Vor allem aber: Welchen Eindruck würde der wenig begnadete Redner, der sich öfter verhaspelt, nuschelt und Wörter verwechselt, zur besten Fernsehzeit beim amerikanischen Publikum hinterlassen?

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Am Ende der 75-minütigen Rede sind die meisten professionellen Beobachter positiv überrascht, und das hat nicht zuletzt mit dem Schlagabtausch zur Schuldengrenze und einigen weiteren verbalen Scharmützeln zu tun. „Biden hat vielleicht die beste Rede seiner Präsidentschaft gehalten“, urteilt die renommierte Publizistin Susan Glasser: „Die Zwischenrufe der Republikaner haben ihm geholfen.“

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Tatsächlich präsentiert sich der 80-Jährige so, wie es sich seine Berater wohl erhofft haben: Entschlossen und energisch. Beinahe zu laut und druckvoll trägt er eingangs die Erfolgsbilanz seiner ersten zwei Amtsjahre vor. Darin betont er insbesondere die Re-Industrialisierung des Landes und lässt keinen Zweifel daran, dass er es mit der „Buy-American“-Politik ernst meint: Künftig, so kündigt er kurz nach der Abreise des deutschen Wirtschaftsministers Robert Habeck und seines französischen Kollegen Bruno Le Maire offiziell an, müssten auch sämtliche Baumaterialien in der öffentlichen Infrastruktur aus den USA stammen.

Eine verbale Umarmung für Kevin McCarthy

Da können viele Republikaner nicht anders, als zumindest verhalten zu klatschen. Ohnehin lässt es Biden nicht an demonstrativen Aufforderungen zu gemeinsamen Initiativen fehlen. „Ich möchte nicht Ihre Reputation zerstören“, hat er eingangs stichelnd den neuen Sprecher McCarthy begrüßt, „aber ich freue mich darauf, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.“ McCarthy, der beim Trump-Flügel seiner Fraktion ohnehin als nicht radikal genug gilt, scheint mäßig begeistert.

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Tatsächlich tendieren die Chancen für überparteiliche Gesetze mit den neuen Mehrheitsverhältnissen gen Null. Das spiegelt sich auch in den Themen, die Biden auf seiner To-do-Liste anspricht. Von höheren Lehrergehältern über eine stärkere Besteuerung von Firmen und Vermögenden, ein Verbot von halbautomatischen Waffen, einem flächendeckenden Vorschulsystem und einem nationalen Schwangerschaftsrecht bis zum Kampf gegen die Klimakrise stößt jedes Vorhaben auf den entschiedenen Widerstand der Republikaner.

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So hört sich die lange Litanei sozialdemokratischer Projekte denn auch eher wie die Bewerbungsrede für eine erneute Kandidatur als wie ein konkretes Arbeitsprogramm für die nächsten zwei Jahre an. In den nächsten Wochen will Biden verkünden, ob er sich um eine zweite Amtszeit bewirbt. Sein wiederholter Ausruf: „Wir sind noch nicht fertig. Lasst uns den Job zu Ende bringen“, könnte durchaus als Hinweis auf seine Ambitionen verstanden werden. Mit seinem kämpferischen Auftritt dürfte er Bedenken wegen seines Alters vorerst in den Hintergrund gedrängt haben.

Empathie für den getöteten Afroamerikaner Tyre Nichols

Am stärksten aber wirkt der Präsident dann, wenn Empathie und leisere Töne gefragt sind. Auf den Rängen des Plenarsaals begrüßt er die Mutter und den Stiefvater des Afroamerikaners Tyre Nichols, der bei einer Verkehrskontrolle in Memphis von fünf Polizisten zu Tode geprügelt worden war. „Es gibt keine Worte für den Verlust eines Kindes“, sagt der Mann, der selbst eine Tochter und einen Sohn verloren hat, mit brechender Stimme: „Unvorstellbar, es durch die Hand des Gesetzes zu verlieren.“

Die Schwachpunkte seiner Regierung umschifft der Präsident derweil großzügig. Die Flüchtlingskrise an der Südgrenze wird nur gestreift, die Affäre um die verlegten geheimen Regierungsakten gar nicht angesprochen. Auch den chinesischen Spionageballon, den Biden nach Meinung der Opposition zu spät abschießen ließ, erwähnt er nur in einem Nebensatz. Überhaupt kommt die Außenpolitik praktisch nicht vor: Gerade eine Minute nimmt sich der Präsident für die Versicherung, die USA würden der Ukraine „so lange wie nötig“ zur Seite stehen.

Der heutige Auftritt richtet sich an die amerikanischen Wähler, und die sind mit Außenpolitik kaum zu begeistern. „Wir stehen an einer Weggabelung“, ruft Biden den Zuschauern am Ende zu: „Wir müssen die Nation sein, die wir in unseren besten Zeiten waren: optimistisch, hoffnungsvoll, zukunftsgewandt. Eine Nation, die das Licht statt der Dunkelheit wählt, Hoffnung statt Angst, Einheit statt Spaltung und Stabilität statt Chaos.“

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Es ist ein leidenschaftlicher Appell, wie ihn Biden schon einmal bei seiner Amtseinführung ausgesprochen hat. Es fällt schwer, bei diesen Worten nicht an jenen Mann zu denken, der ihm im Weißen Haus voranging und im Wahlkampf 2024 möglicherweise erneut gegenübersteht: Donald Trump.

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