Putins Irak: Drei Szenarien für einen möglichen Einmarsch Russlands in die Ukraine
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Menschenkette in Kiew: Junge Leute aus der Ukraine forderten am Sonnabend, 22. Januar 2022, einen raschen Beitritt ihres Landes zur Europäischen Union und zur Nato – als gäbe es keine Bedrohung aus Russland.
© Quelle: Getty Images
Wie wird er genau aussehen, der schon seit Monaten befürchtete Einmarsch Russlands in die Ukraine?
In den verschwiegenen Planungsabteilungen der Nato wird die Gefahr im wahrsten Sinne des Wortes an die Wand gemalt: auf großen Bildschirmen, in diversen Szenarien.
Die militärischen und politischen Diskussionen im westlichen Bündnis konzentrieren sich, wie zu hören ist, auf drei Varianten.
Variante 1, 2, oder 3 – oder alle drei?
1. Landverbindung Rostow-Krim: Die im russischen Rostow zusammengezogenen Panzerverbände könnten, wahrscheinlich ohne große Verluste, in die ukrainische Hafenstadt Mariupol vorstoßen und eine Landverbindung zur bereits 2014 annektierten Halbinsel Krim herstellen. Diesen Plan könnte die russische Marine mit Raketenkreuzern und Landungsbooten unterstützen.
Bei dieser Gelegenheit könnte Russland das seit Langem umstrittene Asowsche Meer ein für alle Mal abriegeln, durch eine militärisch unkomplizierte Blockade der Straße von Kertsch. Putin könnte dann das komplette 39.000 Quadratkilometer große Seegebiet für komplett russisch erklären.
2. Griff nach Donezk und Luhansk: Als weitere Variante gilt das endgültige Herauslösen der ohnehin schon von prorussischen Rebellen beherrschten ukrainischen Provinzen Donezk und Luhansk: Russische Truppen könnten hier, nach jahrelangem Versteckspiel, offiziell ihre Fähnchen hissen und, wie 2014 auf der Krim, eine Westerweiterung Russlands verkünden. Hier winkt Putin ein für ihn innenpolitisch gut nutzbarer Geländegewinn, der sich möglicherweise sogar ganz ohne Blutvergießen umsetzen ließe.
3. Vorstoß aus Norden nach Kiew: Die schnellsten Verbindungen nach Kiew böten sich den Russen von Norden her – was ihre inzwischen massiv gewordene Präsenz in Belarus erklären würde. Würden die russischen Panzer gleich westlich des Dnepr starten, könnte sich Russland die komplizierte Querung des großen Flusses ersparen und Kiew gleichsam von hinten einnehmen – ein Vorgehen, das die Ukraine bislang offenbar kaum auf dem Zettel hatte. Ihre Kräfte sind noch immer vor allem im Osten konzentriert. Dort allerdings droht tatsächlich ebenfalls Gefahr – in Gestalt eines Ausbruchs russischer Truppen aus Donezk und Luhansk in Richtung Westen.
Ukraine-Konflikt: Familien von US-Botschaftspersonal in Kiew zur Ausreise aufgefordert
Das US-Außenministerium erneuerte eine Reisewarnung für Russland und verwies dabei auf die Spannungen an der Grenze zur Ukraine.
© Quelle: Reuters
Das überlegene Russland hat die Wahl
Rätselraten herrscht derzeit im Westen darüber, ob Putin
a) nur eine dieser Varianten wählt und es damit erst mal bewenden lässt („Modell Denkpause“),
b) mehrere Varianten nacheinander in Abständen von einigen Monaten umsetzt („Modell Salami“),
c) alle Vorstöße gleichzeitig befiehlt („Modell Blitzkrieg“).
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Ist ein maximaler militärischer Griff nach der Macht geplant? Oder nur ein „geringfügiger Einmarsch“, wie US-Präsident Joe Biden jüngst sogar öffentlich spekulierte? Ein Satellitenbild der Privatfirma Maxar Technologies vom 19. Januar 2022 zeigt zusammengezogene russische Kampfgruppen im nordöstlich der Ukraine gelegenen russischen Woronesch.
© Quelle: Uncredited/Maxar Technologies/dp
Fest steht nur eins: Das militärisch bei Weitem überlegene Russland hat die freie Wahl. Amerikanische Soldaten werden so oder so nicht eingreifen. Diese Option schließt US-Präsident Joe Biden weiterhin aus, sie ist offiziell „off the table“.
Die Supermacht USA lässt also, wie ein kleiner Junge beim Spiel mit Märklin-Bahnen, Russland und die Ukraine einfach mal aufeinander fahren.
Kiew ist an Land stärker denn je
Wie wird das Ergebnis aussehen? Vergleicht man die russischen mit den ukrainischen Streitkräften, sticht schon zahlenmäßig eine massive Überlegenheit der Russen in der Luft und auf See ins Auge.
- Die ukrainische Luftwaffe hat mit ihren 67 zu 1531 Kampfflugzeugen nicht viel zu bieten.
- Auch kann die ukrainische Marine nicht viel ausrichten mit ihren 13 zu 214 Kriegsschiffen.
- Deutlich komplizierter ist die Lage für die Russen beim Vergleich der Landstreitkräfte.
Die Ukraine hat seit 2014 sowohl die Qualität als auch die Quantität ihrer Bodentruppen massiv gesteigert. Würden die derzeit an den Grenzen zusammengezogenen rund 100.000 russischen Soldaten in die Ukraine einmarschieren, würden sie auf 255.000 ukrainische Soldaten treffen – die so gut ausgebildet und so gut motiviert sind wie nie.
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Kiew, 22. Januar 2022: Zahllose bisherige Zivillisten wie die Tiermedizinstudentin Tatiana (links), melden sich jetzt in der Ukraine zum freiwilligen Militärdienst.
© Quelle: Getty Images
Zudem müssten die Russen damit rechnen, dass Kiew die Truppenzahl durch Reservisten und Freiwillige, Frauen und Männer noch weiter hochfährt. Die theoretischen Kalkulationen führen zu Summen von mehr als einer Million ukrainischer Kämpferinnen und Kämpfer.
Zwei neue Waffen helfen den Ukrainern
Auch technisch haben die Ukrainer mittlerweile einiges zu bieten, was auch den Russen Sorgen macht. Zwei Beispiele:
– Seit 2018 trainiert die Ukraine ihre Truppen mit dem aus den USA gelieferten Panzerabwehrsystem Javelin. Der Schütze muss nur beim Abfeuern den Panzer anvisieren, danach findet die „Fire and forget“-Technik selbst ihr Ziel und durchschlägt jede derzeit weltweit bekannte Panzerung.
– Nervosität auf russischer Seite schafft auch die Drohne Bayraktar TB2. Das Hightechgerät aus türkischer Fertigung spielte im Jahr 2020 im Krieg zwischen Armenien und Berg-Karabach erstmals eine Schlüsselrolle im einem zwischenstaatlichen Konflikt – und stärkte das von der Türkei unterstützte Aserbaidschan.
Schon im vorigen Herbst zeigte die ukrainische Armee in einem Video, wie eine Bayraktar-Drohne im Donbass eine russische Haubitze zerstörte – die russische Führung war außer sich vor Zorn.
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Ein System mit „Fire and forget“-Technik: Ukrainische Soldaten trainieren mit dem Panzerabwehrsystem Javelin.
© Quelle: Uncredited/Ukrainian Defense Min
Derzeit läuft eine Nachrüstung der Ukraine sowohl mit Panzerabwehr- als auch mit Drohnensystemen auf Hochtouren. Javelin-Geschosse werden aus den baltischen Staaten geliefert, die Drohnen fertigt Kiew in türkischer Lizenz neuerdings selbst.
Die Übermacht Russlands kann mit diesen Systemen nach Meinung westlicher Experten nicht gebrochen werden. Jedoch sind damit punktuelle Gegenschläge möglich, die den Preis einer Intervention hochtreiben würden, militärisch, politisch und psychologisch.
Wenn die Ukrainer „aus jedem Fenster schießen“
Russland, das gehört zu einer ungeschminkten Bestandsaufnahme, würde schon bald den Luftraum kontrollieren. Moskau könnte dann ungehindert jedes beliebige Ziel durch Bombenangriffe zerstören. In Syrien schuf Putin auf diese Weise Hoffnungslosigkeit bei Millionen von Menschen und setzte die größte Flüchtlingswanderung in Gang, die Europa je erlebt hat –mit destabilisierenden Folgen für die EU-Staaten.
Was, wenn im Fall der Ukraine das Vorgehen Putins die Betroffenen nur noch festigt in ihrem Willen, dem Angreifer Widerstand zu leisten, bei welcher Gelegenheit auch immer? Viele Ukrainer sagen, man werde auf die Russen gegebenenfalls noch nach Monaten „aus jedem Fenster schießen“. Nach einem schnellen Sieg könnte Putin in den Morast eines langen, unentschiedenen Kampfes geraten, mit immer neuen Aufständen und Chaos in der Ukraine.
In diesem zweiten Teil der Geschichte liege „die wahre Herausforderung“ für Putin, glaubt der Militärexperte Fred Kagan von der Denkfabrik American Enterprise Institute.
In einer Studie für das Washingtoner Institut für Kriegsforschung beschrieb Kagan schon im Dezember „Putins wahrscheinliche Vorgehensweise in der Ukraine“. Kagan hat unter Militärexperten weltweit einen Ruf wie Donnerhall, seit er den von Barack Obama eingesetzten General David Petraeus im Irak beraten hat.
Schneller militärischer Sieg – und dann?
Russland, meint Kagan, könne die Ukraine zwar anfangs rasch besiegen. Dazu müsse Moskau rund 175.000 Soldaten einmarschieren lassen. Diese Zahl werde wohl erst Ende Januar oder Anfang Februar erreicht. Sie entspricht fast genau der Streitmacht, die 2003 im Irak antrat.
Baerbock: Ukraine muss stabilisiert werden
Bei dem EU-Außenministertreffen in Brüssel betonte Annalena Baerbock, dass eine wirtschaftliche Stabilisierung der Ukraine jetzt wichtig sei.
© Quelle: Reuters
Der Bedarf an russischen Soldaten für den Ukraine-Einsatz könnte danach aber wachsen. Wenn es zu Aufständen komme, etwa in Kiew und in weiteren größeren Städten, brauche man sehr genaue Kontrollen von Straßen und Häusern, verbunden mit einem für die Militärs ungewohnten Eindringen in den Alltag der Bürger. So hat es einst auch Petraeus versucht, mit einigem anfänglichen Erfolg, aber auch mit hohem Aufwand. Am Ende stand eine gewachsene Kriegsmüdigkeit der Amerikaner.
Kagan jedenfalls hat mit Blick auf die Ukraine schon mal den Taschenrechner gezückt. „Eine entschlossene Operation der russischen Besatzungstruppen würde einen Aufstandsbekämpfer (counter-insurgent) pro 20 Einwohner erfordern“, kalkuliert Kagan. „Das würde auf einen Bedarf in der Größenordnung von 325.000 Mann hindeuten.“
Neue Variante: schnell rein, schnell raus
Putin hätte dann mehr als ein Drittel seiner derzeit aktiven Soldaten dauerhaft in der Ukraine gebunden – was die globale Supermachtstellung Russlands nicht etwa stützen, sondern eher infrage stellen würde. Hinzu kommt das tägliche Risiko eines Entgleitens der Aufstandsbekämpfung in Richtung Kriegsverbrechen oder Menschenrechtsverletzungen.
Kiew hat drei Millionen Einwohner. Würde eine solche Stadt Schauplatz von Aufständen gegen Besatzungstruppen, geriete nach Ansicht westlicher Militärexperten auch Russland rasch an Grenzen.
© Quelle: Wikipedia / Andriy155
Russland, dessen Ansehen schon in Syrien stark gelitten hat, könnte sich auf diese Art in Europa endgültig unmöglich machen und zum Beispiel bislang neutrale Staaten wie Schweden und Finnland in die Nato treiben.
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Westliche Militärexperten halten angesichts dieser auch für Russland problematischen Perspektiven eine trickreiche weitere Variante in Putins Vorgehen für möglich: einen zwar massiven Einmarsch – begleitet von Kampfbombern und Marschflugkörpern und mit großer Zerstörungswirkung für ukrainische militärische Anlagen –, der aber schnell wieder beendet wird: durch einen kompletten Rückzug der Russen, insbesondere aus städtischen, dicht besiedelten Zonen. Nur so könne die russische Armee vermeiden, dass die Ukraine zu Putins Irak wird.