Putins Angst vor der Revolution
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Putin und die Oktoberrevolution – ein spannungsreiches Verhältnis.
© Quelle: Shutterstock
Berlin. Lenin drängt zur Eile – und twittert. Auf dem sozialen Netzwerk schreibt er an seine 17 000 Follower, es gehe um die Übernahme der Macht – jetzt und nicht irgendwann.
„Jede Partei, die sich weigert, Macht zu übernehmen, ist wertlos“, schreibt Lenin. Und weiter: „Wir haben schon zu viel Zeit verschwendet!“
Der Anführer der russischen Bolschewiki weigert sich, noch länger über irgendwelche theoretischen Fragen zu diskutieren. Laut Karl Marx wäre es besser, mit der Revolution in den höher entwickelten Ländern zu beginnen, nicht ausgerechnet im rückständigen Russland. Doch der Bolschewik ist ungeduldig: „Russia first!“ schreibt er.
Natürlich hatte Wladimir Iljitsch Uljanow, der sich Lenin nannte, vor 100 Jahren kein Twitterprofil. Stalin, Trotzki, der abgesetzte Zar und der deutsche Kaiser ebenso wenig. Aber das russische Staatsfernsehen hat unter der Kennung „#1917live“ eine Parallelwelt auf Twitter geschaffen mit dem Ziel, das Geschehen vor 100 Jahren auf moderne Art nachzuzeichnen.
Tatsächlich wurde damals nicht nur Russland, sondern die ganze Welt verändert. Im März 1917 stürzte die Zarenmonarchie, im November ergriff Lenin die Macht. Der 7. November gilt als Tag der Oktoberrevolution, als Geburtsstunde des ersten sozialistischen Staates.
Ist dies nun ein Grund zum Stolz für Russland? Ein Grund zum Feiern?
Putin hält nicht viel von Lenin
Russlands mächtigster Mann geht auffallend distanziert mit dem gesamten Thema um. Präsident Wladimir Putin hält nicht viel von Lenin. Entsprechend sparsam wird das Gedenken ausfallen. Die heute sehr kleine und einflussarme Kommunistische Partei Russlands plant einige Feierlichkeiten – an denen aber der Staatspräsident nicht teilnehmen wird.
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Schwieriges Erbe: Wladimir Lenin.
© Quelle: Tass
Zwar haben viele Russen Lenin, den Revolutionär, ins Herz geschlossen. Manche verehren ihn, dessen Leichnam bis heute im Moskauer Mausoleum am Roten Platz in einem gläsernen Sarg zu sehen ist, gar wie einen Heiligen.
Putin aber ging schon früh auf Distanz. Er wirft Lenin gleich zwei historische Fehler auf einmal vor. Erstens sei der Umsturz allzu hektisch und allzu blutig vonstattengegangen: „Hätte man die Dinge nicht auf evolutionärem Weg weiterentwickeln können?“, fragte er in einer Diskussionsrunde. Zweitens aber sei dem Übereifer am Anfang eine allzu große Lockerheit im späteren Umgang mit den diversen ethnischen und regionalen Gruppierungen im damaligen Riesenreich gefolgt. Durch die Aufteilung der Sowjetunion in Republiken wie die Ukraine oder Weißrussland habe Lenin „eine Atombombe unter das Gebäude gelegt, und die ist dann später explodiert“.
Putin hat den Zerfall der Sowjetunion, den er in der Ära des Mauerfalls als damaliger KBG-Agent in Dresden ohnmächtig mitverfolgen musste, nie recht verwunden. Für ihn sind eher jene historischen Figuren Vorbilder, die Russland einten und seine Macht mehrten – egal ob sie Peter der Große hießen oder Josef Stalin.
Ein neuer Form des Umgangs mit dem Unrecht
Mit Blick auf Stalin allerdings beginnt Putin, seinen Kurs zu ändern. Noch 2009 hob er vor allem dessen Sieg über Nazi-Deutschland hervor: „Was man auch immer sagen mag – der Sieg wurde erreicht. Niemand kann heute einen Stein auf jene werfen, die das Land zu diesem Sieg führten.“
Inzwischen aber ist auch im Kreml das Bewusstsein gewachsen, dass es eine neue Form des Umgangs mit dem damaligen Unrecht geben müsse – denn die russische Revolution mündete nun mal, besonders in Stalins Zeiten, in millionenfache Unmenschlichkeit.
Am Montag dieser Woche weihte Putin in Moskau die „Mauer der Trauer“ ein, ein Werk des Bildhauers Georgi Franguljan. Er hoffe, dass „dieses Datum von unserer Gesellschaft dazu genutzt wird, einen Schlussstrich unter die dramatischen Ereignisse zu ziehen, die unser Land und unser Volk gespalten haben“, sagte Putin.
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Revolutionäre Truppen sperren die Straßen am 7. November in Petrograd, dem heutigen St. Petersburg.
© Quelle: akg-images
Die Einweihung sei „in jenem Moment besonders wichtig, in dem wir uns an den hundertsten Geburtstag der Revolution erinnern“, sagte Putin.
Die Errichtung der „Mauer der Trauer“ wurde unter anderem von der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial und der Solschenizyn-Stiftung mitgetragen. Der Schriftsteller Alexander Solschenizyn hatte mit seinem Werk „Archipel Gulag“ wesentlich dazu beigetragen, dass die Verbrechen unter dem Sowjetherrscher Stalin weltweit bekannt und aufgearbeitet wurden.
Im Westen wird die emotionale Zerrissenheit unterschätzt
Im Westen wird bis heute die emotionale Zerrissenheit, die die Revolution vor 100 Jahren in Russland hinterließ, unterschätzt. Der frühere „Zeit“-Chefredakteur Theo Sommer berichtete dieser Tage von einer Begegnung mit jungen russischen Historikern, Beamten und Journalisten: „Beim abendlichen Wein brach es aus ihnen heraus. Wie der Gegensatz zwischen Rot und Weiß vor hundert Jahren die Familien zerriss, Geschwister gegeneinander hetzte, die einen in den Tod trieb, die anderen ins Ausland.“ Auch einige westliche Akademiker, Nachfahren der damals Geflüchteten oder Vertriebenen, hätten mit am Tisch gesessen und über lange verschwiegenes, unterdrücktes Leid berichtet: „Die traumatische Erfahrung der Großväter liegt noch der dritten und vierten Generation auf der Seele.“
Doch sind die heute in Russland lebenden Menschen wirklich frei darin, alles zu sagen, was sie denken und fühlen? Eine Gruppe von 40 früheren politischen Häftlingen kritisierte es dieser Tage als „Scheinheiligkeit“ von Putin, ein Mahnmal zu errichten, solange die „politische Repression in Russland nicht nur weitergeht, sondern zunimmt“.
Im Kern, sagen Kreml-Kenner, werde Putin von der gleichen Furcht getrieben wie einst die Zaren. „Putin fürchtet, dass sich der Volkszorn irgendwann auch gegen ihn richten könnte“, sagt der Sankt Petersburger Historiker Ilja Kalinin. Jede Debatte über Umstürze sei aus Sicht des Kreml verdächtig. „Schon die Idee einer Revolution wird als Verrat an der Nation gebrandmarkt.“
Wie misstrauisch Putin sei, zeigten sein hartes Vorgehen gegen die Opposition in Russland und sein Kampf gegen „bunte Revolutionen“ in der Ukraine und anderen Ländern. Dabei sei es auch eine wichtige Botschaft der russischen Revolution gewesen, dass Menschen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen könnten. Die urrevolutionäre Losung „Alle Macht den Räten!“ beispielsweise behält, wenn man sie modern und basisdemokratisch interpretiert, aus Sicht von Kalinin bis heute eine gewisse Anziehungskraft, zumindest in der Theorie und unter rätekommunistischen Träumern.
Herr Bartsch, wie tot ist der Kommunismus?
Unter Putin allerdings ist davon nichts geblieben. Regiert und gewirtschaftet wird von oben nach unten, immer mit festem Blick auf Weltmärkte und Rohstoffnotierungen. Auch in China herrscht ein restlos unromantischer Staatskapitalismus. Vietnam und die USA zelebrieren eine neue Nähe. Sogar Kuba öffnet sich für die Gesetze des Marktes.
Wäre der 7. November 2017 nicht auch ein geeignetes Datum, um die Idee des Kommunismus 100 Jahre nach der Revolution endgültig für tot zu erklären?
Im Berliner Reichstagsgebäude steuert Dietmar Bartsch auf den Sitzungssaal „Clara Zetkin“ zu, zwei Sektgläser in der Hand. Gerade ist die konstituierende Sitzung des neuen Bundestags zu Ende gegangen, auf der Fraktionsebene ist ein Empfang angesetzt. Aber der Fraktionsvorsitzende der Linken nimmt sich Zeit, über Lenin zu reden. 1986 wurde Bartsch durch das Lenin-Mausoleum auf dem Roten Platz geführt, es war sein erster Tag in der Hauptstadt der Sowjetunion als junger DDR-Wirtschaftswissenschaftler bei der Akademie des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion.
Herr Bartsch, wie tot ist der Kommunismus? „Das kommt auf die Definition von Kommunismus an“, sagt Bartsch. „Wenn er mit Pol Pot, Stalin und Ähnlichem in Zusammenhang gesetzt wird, dann ist er mausetot. Aber das Marx‘sche Ziel der Schaffung einer Assoziation, in der die freie Entwicklung des Einzelnen die Voraussetzung für die freie Entwicklung aller ist, ist nicht tot.“ Im wahren Kommunismus stehe der Freiheitsbegriff im Mittelpunkt.
„Wir stecken bis zum Hals im Kapitalismus“
Bartsch spricht vom chilenischen sozialistischen Präsidenten Salvador Allende, von der Leitfigur des Prager Frühlings, Alexander Dubcek, von Rudolf Herrnstadt in der DDR vor 1953, um zu zeigen, dass es immer wieder Versuche einer Demokratisierung des Sozialismus gab.
Im Saal „Clara Zetkin“ tagt die Linksfraktion. Große Plakate hängen an der Rückwand, auf einem ein Satz des Dramatikers Heiner Müller: „Wir stecken bis zum Hals im Kapitalismus.“
Der beharrliche Bartsch deutet mit dem Sektglas darauf und sagt: „Der Kapitalismus in seiner jetzigen Form ist nicht das Ende der Geschichte.“
Von Jan Sternberg