Sechs Monate Protest in Belarus – so ist die aktuelle Lage
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Seit sechs Monaten gibt es in Belarus Demonstrationen gegen Machthaber Alexander Lukaschenko. Er gilt als "Europas letzter Diktator".
© Quelle: Uncredited/AP/dpa
Moskau. Seit einem halben Jahr kämpft die Demokratiebewegung in Belarus (Weißrussland) gegen Machthaber Alexander Lukaschenko, den die EU nach der Präsidentenwahl vom 9. August 2020 nicht mehr als Präsidenten anerkennt. Die Opposition sieht die 38-jährige Swetlana Tichanowskaja als Siegerin.
Doch der 66-jährige Lukaschenko, der nach mehr als 26 Jahren an der Macht als „Europas letzter Diktator“ gilt, sieht sich wieder fest im Sattel. Tichanowskaja hofft in ihrem Exil in der EU dennoch in diesem Jahr auf einen Sieg der Revolution. Zu den Aussichten im Machtkampf in Minsk einige Fragen und Antworten:
Wie ist die Lage in Belarus? Gibt es überhaupt noch Proteste?
Im Vergleich zu den historischen Massenprotesten mit teils Hunderttausenden Teilnehmern ist es in Belarus ruhig geworden. „Lukaschenko hat es geschafft, die Proteste einzudampfen und zu unterdrücken“, sagt der Politologe Waleri Karbelewitsch in Minsk der Deutschen Presse-Agentur. Mit Ausnahme kleiner „partisanenhafter“ Proteste an Stadträndern, in Wäldern oder auf Höfen in Wohnvierteln gibt es kaum noch Demonstrationen. „Viele junge und aktive Leute haben inzwischen das Land verlassen, um im Westen zu leben.“
Belarus: Zahlreiche Festnahmen bei Protesten
Erneut gab es zahlreiche Kundgebungen, in denen der Rücktritt von Präsident Lukaschenko gefordert wurde.
© Quelle: Reuters
Zu Tausenden kehren Menschen, darunter auch viele Ärzte, IT-Experten und andere Hochqualifizierte, ihrer Heimat den Rücken. „Es ist klar, dass die Mehrheit der Bevölkerung Lukaschenko nicht unterstützt“, meint Karbelewitsch. Dennoch sehen viele Menschen nach den mehr als 30.000 Festnahmen, Hunderten Verletzten und mehreren Toten kaum Erfolge, die die Proteste weiter tragen würden.
Was kann die Opposition, die im Exil im Ausland oder in Haft ist, überhaupt noch ausrichten?
Prominente Oppositionelle, darunter Viktor Babariko und Tichanowskajas Mann Sergej Tichanowski, die bei der Präsidentenwahl kandidieren wollten, sitzen seit Monaten ohne Prozess im Gefängnis. In Haft ist zudem die aus Deutschland in ihre Heimat zurückgekehrte Kulturmanagerin Maria Kolesnikowa, zuletzt Anführerin der Opposition. Lukaschenko hat seine Gegner gezielt kaltgestellt. Aber auch er musste Rückschläge hinnehmen wie etwa den Verlust der Eishockey-WM.
Im Ausland wirbt Tichanowskaja vor allem um Druck auf internationaler Ebene auf das „Regime“. Die EU hat bereits Sanktionen erlassen gegen Lukaschenkos Machtapparat. „Wir brauchen aber eine Ausweitung der Maßnahmen, die das System wirklich treffen“, sagt der ebenfalls ins Ausland geflüchtete Ex-Kulturminister Pawel Latuschko. Früher seien die EU-Sanktionen deutlich schärfer gewesen, betont er.
Warum kann sich Lukaschenko weiter an der Macht halten?
Er hält sich mit Polizeigewalt und mithilfe der Staatsmedien. „Es gibt immer noch keine echte Spaltung in der Elite. Und auch Russland hält fest zu Lukaschenko, obwohl er keines seiner Versprechen an Präsident Wladimir Putin, einen Machttransfer einzuleiten, umsetzt“, sagt der Experte Karbelewitsch. „Die jüngsten Proteste in Russland haben Putin zudem entwaffnet, er kann keinen Druck mehr ausüben auf Lukaschenko, keinen Dialog einfordern, wenn er selbst keinen führt.“
Für Russland gilt Lukaschenko weiter als einziger Garant dafür, dass Belarus im Einflussbereich Moskaus bleibt – und damit ein Bollwerk gegen eine Osterweiterung der Nato. „Lukaschenko sieht sich als Sieger, als jemand, der die Revolution niedergeschlagen hat“, sagt Karbelewitsch. Alle Versprechen für Veränderungen seien vergessen.
Und die große Volksversammlung und die versprochene neue Verfassung mit begrenzten Machtbefugnissen für den Staatschef?
In dieser Woche kommen die Vertreter aus den Regionen am 11. und 12. Februar zu der seit langem angekündigten Allbelarussischen Volksversammlung zusammen. Allerdings beklagen Kritiker seit langem, dass dort nur handverlesene und Lukaschenko ergebene Volksvertreter tagen. Sie sollen einen neuen Fünfjahresplan auf den Weg bringen. „Die Versammlung soll zeigen, dass alles wieder normal ist, dass keine Änderungen kommen“, meint Karbelewitsch.
Belarus: Tränengas, Blendgranaten und Gummigeschosse in Minsk
Die Polizei geht weiter mit Gewalt gegen oppositionelle Demonstranten vor. Tausende Menschen sind auch am Sonntag auf die Straße gegangen.
© Quelle: Reuters
„Sie hat eine wichtige psychologische Funktion als Therapie. Sie soll Lukaschenko nach dem Trauma der Proteste wieder aufbauen – mit Zuspruch und Ovationen, er glaubt ja wirklich, dass er der Vater der Nation ist.“ Mobilisiert werden solle der Staatsapparat vor allem für den weiteren Kampf gegen die Opposition. Lukaschenko denkt nicht an einen Abschied. Von einer neuen Verfassung redet kaum noch jemand.
Welcher Ausweg aus dem Konflikt ist denkbar?
Die Opposition um Tichanowskaja, die im Ausland eine Art Exilregierung gebildet hat, will 2021 zum Jahr des Sieges machen für ein Belarus in Freiheit. Auch die EU hat Millionenbeträge für die Unterstützung der Demokratiebewegung bereitgestellt. Für einen Erfolg einer Revolution bräuchte es aber einen „idealen Sturm“, meint Karbelewitsch. Die Chance habe es im August und September gegeben. „Jetzt sehe ich das nicht.“
Auch Russland als wichtigster Verbündeter von Belarus erlebte gerade beispiellose Proteste – gibt es da Parallelen?
Beide Ex-Sowjetrepubliken werden autoritär regiert – und stehen im Ruf, keinen Machtwechsel zuzulassen. „Die Unzufriedenheit der Menschen mit dem System ist in beiden Ländern groß. Der Unterschied ist aber, dass Putin im Gegensatz zu Lukaschenko noch die Mehrheit der Bevölkerung auf seiner Seite hat“, sagt Karbelewitsch.
Der Minsker Analyst Artjom Schraibman betont, dass Tichanowskaja vor allem eine Symbolfigur der Proteste und für den Wandel sei. Sie sei aber nie eine echte Politikerin mit Führungsstärke gewesen. Dagegen sei Russlands Oppositionsführer Alexej Nawalny ein Politiker mit dem Willen zur Macht. „Sie spielen in völlig unterschiedlichen Ligen.“
Was können die EU und die USA ausrichten, um einen Machtwechsel herbeizuführen? Wie verhält sich Russland?
Die Gegner Lukaschenkos wünschen sich vom Westen einen noch stärkeren Druck auf den Machtapparat in Minsk – wirksamere Sanktionen wie etwa den Ausschluss aus dem internationalen Zahlungssystem Swift oder ein Boykott etwa des Öltransits durch das Land. Kurz: das Trockenlegen aller Geldquellen, die Lukaschenko dienen. Zwar hilft Moskau bisher immer wieder mit Milliardenkrediten und Freundschaftstarifen für Energielieferungen. Doch auch Russland, das selbst unter EU-Sanktionen leidet und mit den Folgen der Corona-Krise zu kämpfen hat, dürfte immer größere Probleme haben, sich das zu leisten.
RND/dpa