Proteste im Iran: Kritik an Regierung wächst auch in schiitischer Hochburg Ghom
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Proteste im Iran (Archivbild).
© Quelle: IMAGO/NurPhoto
Dubai. Ghom zählt zu den wichtigsten religiösen Zentren im Iran. In keiner anderen Stadt leben so viele Kleriker. Es gibt unzählige schiitische Schulen und Schreine. Die meisten Geistlichen in Ghom unterstützen weiterhin das politische System der islamischen Republik. Doch auch unter ihnen wächst allmählich die Kritik an der Regierung – oder zumindest an deren Umgang mit den Protesten, die seit Monaten das Land erschüttern.
Auslöser der aktuellen Protestbewegung war die Ablehnung bestimmter Vorschriften wie der Kopftuch-Pflicht für Frauen in der Öffentlichkeit. Hier geben sich die Kleriker weiterhin wenig kompromissbereit. Sie folgen auch weitgehend der Darstellung der Führung in Teheran, laut der die Unruhen von Feinden des Irans im Ausland angefacht wurden. Einige sagen aber ungewohnt offen, dass die Regierung die Demonstranten anders behandeln sollte.
„Das harte Durchgreifen war von Anfang an ein Fehler“, sagt der Geistliche Abusar Sahebnasaran, der sich selbst als einen leidenschaftlichen Unterstützer der Theokratie bezeichnet, bei einem Besuch einer früheren Residenz des verstorbenen Revolutionsführers Ajatollah Ruhollah Chomeini. Es wäre besser gewesen, den jungen Leuten gegenüber „sanft und höflich“ aufzutreten. „Sie hätten aufgeklärt und geleitet werden sollen.“
Ghom als religiöses Machtzentrum
Das etwa 125 Kilometer südwestlich der Hauptstadt gelegene Ghom lockt jedes Jahr Millionen Pilger. Viele führende Vertreter der autoritären Regierung sind an den religiösen Universitäten in Ghom ausgebildet worden. Die Hälfte der schiitischen Kleriker des Landes ist hier auf engstem Raum versammelt. Auf besondere Weise ist die Stadt somit auch ein Machtzentrum.
Die Proteste begannen im vergangenen September nach dem gewaltsamen Tod von Mahsa Amini, einer iranisch-kurdischen jungen Frau. Sie war wegen angeblich unangemessener Kleidung von der Sittenpolizei festgenommen worden und starb in Polizeigewahrsam. Zunächst ging es den meisten Demonstranten vor allem um die Abschaffung der umstrittenen Bekleidungsvorschriften. Schon bald aber mehrten sich die Forderungen nach einer „neuen Revolution“.
Nach Angaben von Aktivisten, die sich außerhalb des Landes aufhalten, sind im Rahmen des brutalen Vorgehens der Sicherheitskräfte gegen die Protestbewegung mindestens 528 Menschen getötet worden. Etwa 19.600 weitere Menschen sollen festgenommen worden sein. Die iranische Regierung hat bisher keine eigenen Zahlen veröffentlicht.
Regierung gerät wegen Atomprogramm unter Druck
Unterdessen treibt die Regierung ihr Atomprogramm voran und gerät deswegen auch international noch weiter unter Druck – inzwischen soll der Iran bei der Anreicherung von Uran fast das Niveau erreicht haben, das den Bau von nuklearen Waffen ermöglichen würde. Die deswegen verhängten und verlängerten Sanktionen verschärfen die Wirtschaftskrise des Landes. Die iranische Währung, der Rial, ist gegenüber dem Dollar auf einen historischen Tiefstand gesackt.
„Viele Demonstranten hatten entweder finanzielle Probleme oder sie wurden über das Internet beeinflusst“, sagt Sahebnasaran. In einigen Fällen richtete sich die Wut derweil auch direkt gegen Kleriker, die als wichtige Stützen des Systems gelten. In online verbreiteten Videos ist zu sehen, wie junge Demonstranten auf den Straßen von hinten auf Geistliche zurennen, um ihnen den Turban wegzuschlagen. Die Kopfbedeckungen sind im Iran ein Statussymbol – einen schwarzen Turban tragen Geistliche, die sich als direkte Nachfahren des Propheten Mohammed betrachten.
Die Videos lassen auf eine Entfremdung zumindest von Teilen der Bevölkerung gegenüber den Religionsführern schließen. „Dies war Teil der Pläne der Feinde. Sie wollten den Leuten einreden, dass die Kleriker an all ihren Problemen und den hohen Preisen schuld seien“, sagt Sahebnasaran. „Aber der Klerus ist von der Inflation betroffen so wie alle anderen Menschen.“ Viele Geistliche lebten allein von Unterrichtsgebühren und stünden damit auf der wirtschaftlich untersten Stufe der Gesellschaft.
Sakineh Heidarifard arbeitet in Ghom als Ehrenamtliche für die Sittenpolizei und setzt sich aktiv für die Beibehaltung der Kopftuch-Pflicht ein. Auch sie hält es aber für einen falschen Weg, Frauen bei Verstößen gewaltsam festzunehmen. „Einsatz von Zwang und Gewalt ist absolut nicht in Ordnung. Wir sollten sanft und behutsam mit ihnen reden, mit Freundlichkeit und Fürsorge“, sagt sie.
Menschen gehen seit Monaten auf die Straße
Doch selbst wenn sich die Regierung in Bereichen wie der Kopftuch-Debatte am Ende doch auf Lockerungen einlassen sollte – diejenigen, die bei den Protesten eine grundsätzliche Ablehnung der geistlichen Führung zum Ausdruck bringen, würden sich damit wohl kaum noch zufrieden geben. Reformorientierte Politiker bemühen sich seit Jahren vergeblich um Veränderungen innerhalb des theokratischen Systems. Und viele der Menschen, die nun seit Monaten auf die Straßen gehen, haben die Geduld verloren.
Zugleich sei es möglich, dass die Lage wegen des immer weiter zunehmenden wirtschaftlichen Drucks auf die Menschen im Iran eines Tages explodieren werde, sagt der Teppichhändler Aliresa Fateh vor seinem leeren Geschäft im historischen Basar von Ghom. Und einem wirtschaftlichen Zusammenbruch folge meist ein politischer Zusammenbruch. Noch hätten die meisten Iraner einige Ersparnisse auf ihren Bankkonten. Aber bald würden ganz sicher auch „die Armen, die nicht mehr über die Runden kommen, auf die Straßen gehen“.
RND/AP