Proteste im Iran: Aktivistinnen berichten von Schlägen, Festnahmen und Schüssen
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Demonstranten während eines Protestes in der Innenstadt von Teheran.
© Quelle: Uncredited/AP/dpa
Sulimanija. Die 35-jährige Iranerin Scharo hätte nie gedacht, dass sie eines Tages laute Worte der Rebellion hören würde: Ist sie doch in einem repressiven System groß geworden, in dem man so etwas nicht darf. Jetzt ruft sie selbst Slogans wie „Tod dem Diktator!“, beteiligt sich an Protesten gegen die Herrscher im Land - erfüllt mit einer Wut, die sie bei sich selbst nie für möglich gehalten hätte.
Dieser Zorn ist nach drei Wochen von Demonstrationen - ausgelöst durch den Tod einer jungen Frau im Gewahrsam der gefürchteten Sittenpolizei - nur noch größer geworden, wie Scharo sagt. Und das trotz blutiger Niederschlagung der Proteste mit Dutzenden Toten und Hunderten Festnahmen. „Die Lage hier ist angespannt und explosiv“, schildert die Universitätsabsolventin und meint damit Sanandadsch, die Hauptstadt der Provinz Kurdistan im nordwestlichen Iran - einen der Hotspots der Proteste. „Wir warten darauf, dass etwas passiert, wie eine Zeitbombe“, sagte sie der Nachrichtenagentur AP über den Messaging-Dienst Telegram.
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Einwohner berichteten von massiver Präsenz von Sicherheitskräften
Die Demonstrationen in Sanandadsch, etwa 500 Kilometer von der iranischen Hauptstadt Teheran entfernt, sind eine Art Mikrokosmos der Proteste, die den Iran erschüttern. Weitgehend von Frauen und Jugendlichen angeführt haben sie sich von spontanen Massenversammlungen in zentralen Gegenden zu Aktionen weiterentwickelt, die auf Wohngebiete, Schulen und Universitäten verteilt sind. Das macht es für die Polizei schwerer, Aktivisten aufzugreifen.
Die Spannungen in Sanandadsch haben sich am vergangenen Wochenende ein weiteres Mal verschärft, nachdem Menschenrechtsbeobachtern zufolge zwei Demonstranten bei einer erneuten Demonstration erschossen worden waren. Einwohner berichteten von einer massiven Präsenz von Sicherheitskräften in der Stadt.
Aktivistinnen: Einsatz von scharfer Munition gegen Demonstranten
AP hat mit mehreren Aktivistinnen in Sanandadsch gesprochen, die aus Sicherheitsgründen ihren vollen Namen nicht genannt haben wollen. Sie alle erzählten von Unterdrückungstaktiken wie Schlägen, Festnahmen, dem Einsatz von scharfer Munition gegen Demonstranten und wiederholten Störungen des Internets - was es manchmal schwer mache, die Demonstranten in Schwung zu halten. Aber sie gehen weiter.
Die Nachricht vom Tod der 22-jährigen Mahsa Amini, die in Teheran wegen Verstoßes gegen Kopftuchregeln festgenommen worden war, hatte sich in Kurdistan, der Heimatprovinz der jungen Frau, wie ein Lauffeuer ausgebreitet. Als Amini am 17. September in der Stadt Sagheg bestattet wurde, füllten Demonstranten bereits die Hauptverkehrsstraße in Sanandadsch, wie Aktivistinnen berichten. Leute verschiedener Altersgruppen waren da und skandierten Slogans, die dann in anderen iranischen Städten aufgegriffen wurden, unter anderem „Frauen. Leben. Freiheit.“
Protestwelle in Iran: Chamenei wirft USA und Israel Provokation vor
Der geistliche Führer des Landes beschuldigt ausländische Kräfte, nach dem Tod der Iranerin Mahsa Amini Unruhen im Land angestiftet zu haben.
© Quelle: Reuters
Aktivistin über Amini: „Das Gleiche ist mir widerfahren“
Rosan, eine 32-jährige Hausfrau, kannte Amini nicht persönlich. Aber als sie vom Tod der jungen Frau hörte und dem Grund für die Festnahme, konnte sie einfach nicht anders als auf die Straße zu gehen. „Das Gleiche ist mir widerfahren“, schildert sie. 2013 sei sie wie Amini mit einer Freundin in Teheran unterwegs gewesen, als die Sittenpolizei sie angehalten habe - in ihrem Fall, weil das Überkleid, das sie trug, zu kurz war. Sie wurde in dieselbe Einrichtung gebracht wie Amini und gezwungen, ein Schuldbekenntnis zu unterschreiben.
Rosan, eine frühere Krankenpflegerin verlor später ihren Job in einer örtlichen Gesundheitsbehörde, weil sie aus ihren Ansichten zu Frauenrechten keinen Hehl gemacht hatte. Nach Aminis Beisetzung sah sie eine ältere Frau, die sich demonstrativ das eigene Tuch vom Kopf riss. „Da habe ich mich inspiriert gefühlt, das Gleiche zu tun.“
„Glaube, dass sie mich töten“: Afghane fürchtet Abschiebung in sein Heimatland
Der 27-jährige Hamidullah Rahmati weiß keinen Rat mehr. Der gebürtige Afghane war 2015 aus seinem Heimatland vor den Taliban geflüchtet, lebt nun in Deutschland und bemüht sich seither vergebens um Asyl in Deutschland. Nun fürchtet er die Abschiebung und die Rache der neuen Machthaber in seiner Heimat.
In den ersten Tagen wurden Demonstranten in Sanandadsch willkürlich aus der Menge gezogen und festgenommen, danach gezielt als Aktivisten bekannte Leute ins Visier genommen. Dunja, eine Rechtsanwältin, half mit einer Gruppe anderer Frauenrechtlerinnen dabei, Demonstrationen zu organisieren und Geschäftsinhaber an den Hauptstraßen der Stadt zu bewegen, einem Streikaufruf zu folgen. „Fast alle der Frauen in unserer Gruppe sind jetzt im Gefängnis“, sagt sie.
Iranische Behörden weisen Darstellungen zurück
Alle von AP interviewten Aktivistinnen sagen, dass sie den Einsatz scharfer Munition durch Sicherheitskräfte selbst gesehen oder Schüsse gehört hätten. Die Behörden weisen derartige Darstellungen zurück, und in Fällen, in denen ein solcher Einsatz nachgewiesen wurde, machten sie Separatistengruppen für ihn verantwortlich.
Angst ist ein enger Gefährte, wie Protestierende schildern. Verletzte sträuben sich demnach oft, Krankenwagen zu benutzen oder Krankenhäuser aufzusuchen, aus Sorge, dass sie festgenommen werden könnten. Aktivisten argwöhnen auch, dass sich Regierungsspitzel in die Mengen einschleichen. Doch der Aufruhr geht weiter. „Ich versichere Ihnen, die Proteste sind nicht vorbei“, sagt Scharo. „Die Menschen sind wütend, sie lehnen sich auf eine Weise gegen die Polizei auf, wie ich es noch nie erlebt habe.“
Protestkundgebungen an Universitäten und Schulen
Sanandadsch ist ein fruchtbarer Boden für Proteste, drei Faktoren sind hier zusammengekommen: eine Geschichte kurdischen Widerstandes, eine lange Geschichte von Frauenrechtsaktivismus und wachsende Armut. Aber die Proteste definieren sich nicht entlang ethnischen oder regionalen Linien, auch wenn sie in einer überwiegend kurdischen Region entflammten, wie Tara Sepehri Fars, eine Forscherin bei der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, hervorhebt.
Mittlerweile sind Universitäten und Schulen nach der Sommerpause wieder geöffnet und werden zu Schauplätzen kleiner Protestkundgebungen. So zirkulierten in sozialen Medien Videos mit Schülern, die ihre Lehrer verspotten, und Schulmädchen, die auf der Straße ihre Kopftücher abnehmen und in Sprechchören ausrufen. „Eine nach der anderen werden sie uns töten, wenn wir nicht zusammenstehen.“
Aktivistin: „Ich protestiere, weil es niemals meine Wahl war“
Afsanah ist eine Modedesignerin aus Saghes, hat an Aminis Beisetzung teilgenommen und sich danach Demonstranten angeschlossen. Sie sagt, dass sie ihr Kopftuch gern trage, „aber ich protestiere, weil es niemals meine (freie) Wahl war.“ Ihre Eltern fürchten um ihre Sicherheit und haben versucht, sie vom Demonstrieren abzuhalten. Aber die 38-Jährige gibt nicht nach. „Ich bin wütend, und ich habe keine Angst“, sagt Afsanah. Und sie hofft, dass „dieses Gefühl die Straßen überschwemmt“.
RND/AP