Journalistin flieht vor Putin

Protest im Livefernsehen: Wie sich Marina Owsjannikowa der Kremlpropaganda entgegenstellte

Marina Owsjannikowa, frühere Mitarbeiterin des staatlichen Fernsehsenders Perwy Kanal.

Marina Owsjannikowa, frühere Mitarbeiterin des staatlichen Fernsehsenders Perwy Kanal.

Berlin. Ihr Auftritt dauerte nur sechs Sekunden, aber er machte sie weltweit bekannt: Am Abend des 14. März 2022, drei Wochen nach Russlands Überfall auf die Ukraine, stürzt sich die 44-jährige TV-Journalistin Marina Owsjannikowa in die Livesendung „Zeit“ des Moskauer Staatssenders Erster Kanal, baut sich um 21.01 Uhr hinter Moderatorin Jekaterina Andrejewa auf und hält ein selbst gemaltes Plakat in die Kamera: „No War, Glauben Sie der Propaganda nicht. Sie werden hier belogen. Russen gegen den Krieg“.

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Nach dieser Aktion, die von Millionen Zuschauern in Russland und im Ausland gesehen wird, weil sie später immer wieder neu durch die Nachrichten flimmert, beginnt für Owsjannikowa eine Odyssee zwischen Anerkennung und Verdächtigung, zwischen Zuspruch und Demütigung, Hilfsbereitschaft und Denunziation. Ein Auf und Ab der Gefühle, das sie jetzt in ihrem Buch „Zwischen Gut und Böse“ (Langen-Müller-Verlag München) beschreibt – inklusive ihrer endgültigen abenteuerlichen Flucht aus Russland nach Paris, wo sie sich derzeit aufhält.

„Wie ich mich endlich der Kremlpropaganda entgegenstellte“

„Wie ich mich endlich der Kremlpropaganda entgegenstellte“, so der Untertitel, beschreibt zunächst den Weg einer jungen TV-Journalistin in den freien 1990er-Jahren in der Provinzregion Krasnodar: „Am Montag bin ich auf einem Filmfestival, am Dienstag in einem Kuhstall, am Mittwoch treffe ich mich mit Beamten, am Donnerstag bin ich im Gefängnis und schreibe ein Interview mit einem Mörder ...“ In dieser Zeit bekommt sie sogar einmal den damaligen Chef des Geheimdienstes FSB, Wladimir Putin, vors Mikrofon, der sie jedoch abkanzelt und stehen lässt.

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Russische TV-Journalistin Owsjannikowa zu weiterer Geldstrafe verurteilt

Nach einer neuen Protestaktion gegen den russischen Angriffskrieg hat ein Gericht die Journalistin Marina Owsjannikowa zu einer weiteren Geldstrafe verurteilt.

Owsjannikowa berichtet, wie sie Zug um Zug aufsteigt, es schließlich nach Moskau und dort in die Herzkammer von Putins Propaganda-TV, in den Ersten Kanal, schafft. Auch familiär läuft es zunächst gut, sie heiratet einen Journalistenkollegen, das Paar bekommt zwei Kinder.

Das Cover des Buches zeigt die Szene, wie Marina Owsjannikowa ihr Plakat in der Nachrichtensendung „Zeit“ hochhält.

Das Cover des Buches zeigt die Szene, wie Marina Owsjannikowa ihr Plakat in der Nachrichtensendung „Zeit“ hochhält.

Doch je weiter Putin die Pressefreiheit einschränkt, je mehr Vorgaben kommen, wie über was zu berichten ist, umso mehr setzt bei der Journalistin, die einen ukrainischen Vater und eine russische Mutter hat, eine innere Entfremdung von ihrem Job ein, baut sich eine Art berufliche Schizophrenie auf, die bis in die Familie reicht. Sie lässt sich von ihrem Mann scheiden, der heute eine leitende Position beim Propagandasender RT bekleidet, voll hinter Putin steht und auch den inzwischen 18-jährigen Sohn Kirill auf seine Seite gezogen hat.

Als Russland dann die Ukraine überfällt, reift in ihr die Erkenntnis: „Unsere Hauptaufgabe besteht darin, eine parallele Realität zu schaffen und den Krieg wie eine Operation zur Befreiung der Zivilbevölkerung im Donbass aussehen zu lassen.“

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Emmanuel Macron bietet ihr politisches Asyl an

Nach der Plakataktion und Vernehmungen durch verschiedene Ermittler kommt sie mit einer vergleichsweise niedrigen Geldstrafe von 30.000 Rubel davon, was sie in den Augen von Kritikern verdächtig macht. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bietet ihr politisches Asyl und diplomatischen Schutz an, sie setzt sich zunächst nach Deutschland ab, wo sie vom Axel-Springer-Verlag eine Anstellung für „Die Welt“ bekommt.

Sie will aus der Ukraine berichten, scheitert zunächst aber an der Grenze wegen einer fehlenden Akkreditierung. Später schafft sie es dann in einem zweiten Anlauf doch nach Odessa und Kiew, wo sie zunächst auch von Nichtregierungsorganisationen freundlich empfangen wird. Doch dann dreht sich der Wind, sie bekommt in Kiew keine Interviewpartner, die NGO-Vertreter tauchen ab und während man sie in Russland inzwischen als britische Spionin beschimpft, wird sie in ukrainischen Netzwerken als FSB-Agentin denunziert.

Mithilfe eines von der „Welt“ organisierten Sicherheitsmannes gelingt ihr die Ausreise nach Rumänien und von dort die Rückkehr nach Deutschland. Aber in Berlin hat man inzwischen offenbar kalte Füße bekommen, nachdem unter anderem ukrainische Aktivisten hier gegen ihre Anstellung bei Springer protestiert haben. Die Geschäftsführung lässt sie wissen, dass man den Vertrag auflösen wolle, weil man nicht mehr für ihre Sicherheit garantieren könne.

In Moskau arbeitet ihr Ex-Mann daran, ihr das Sorgerecht für die elfjährige Tochter Arisha zu entziehen. Owsjannikowa schreibt: „Ich habe kein Zuhause und keine feste Arbeit mehr. Mein Ex-Mann hat mich verklagt und will mir meine Kinder wegnehmen.“

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Mit dem Todesmut der tief verletzten Mutter reist sie im Juli in die Höhle des Löwen zurück, um ihre Tochter zu sich zu holen. Sie wird Tag und Nacht überwacht, unter Hausarrest gestellt und bekommt eine elektronische Fußfessel angelegt. Der Vater hält die Tochter zurück und verhindert, dass die Behörden für sie einen Pass ausstellen. Im August erhebt ein Gericht wegen der „Verbreitung von Falschinformationen“ Anklage. Owsjannikowa drohen bis zu zehn Jahre Haft.

Mitte Oktober gelingt ihr schließlich durch Unterstützung der Organisation Reporter ohne Grenzen mit ihrer Tochter eine filmreife Flucht über matschige Felder und durch dunkle Wälder. Angekommen im Westen, schreibt sie über ihre Helfer: „Sie sind meine Zuversicht, dass das Böse nicht gewinnen kann, dass die Macht auf der Seite des Lichts steht.“

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