Presse zum Sterbehilfe-Urteil: “So vorbildlich wie historisch”
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In der Presse wird das Urteil zur Sterbehilfe unterschiedlich kommentiert.
© Quelle: Martin Gerten/dpa
Berlin/Karlsruhe. 2015 hat der Gesetzgeber die geschäftsmäßige Sterbehilfe verboten. Eine Entscheidung, die gerade schwer kranke Menschen so nicht hinnehmen wollten. Sie klagten dagegen – und das mit Erfolg. Am Mittwoch erklärte das Bundesverfassungsgericht das im Paragraf 217 des Strafgesetzbuches festgehaltene Verbot für nichtig. Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben bestehe in jeder Lebensphase, ohne dass eine unheilbare Krankheit vorliegen muss, urteilte das höchste deutsche Gericht. Die Presse kommentiert das Thema vielfältig, doch die positiven Reaktionen überwiegen.
“Die Freiheit zum Tod ist eine Freiheit, die der Staat niemandem nehmen darf”
Die Süddeutsche Zeitung meint, das Urteil sei radikal und dennoch richtig: “Das Grundsatzurteil ist ein Votum für die Freiheit zum Tod, in einer Radikalität, die einem zunächst einmal den Atem nimmt. Das Bundesverfassungsgericht hat ein unbedingtes Recht auf selbstbestimmtes Sterben formuliert, das jedem Individuum einen echten Anspruch einräumt, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen. Es ist ein Recht, das keineswegs auf todkranke oder vom Schmerz gequälte Patienten beschränkt ist. Das unerhörte Diktum aus Karlsruhe reicht sehr viel weiter. Das Selbstbestimmungsrecht, sein Leben zu beenden, besteht in jeder Phase menschlicher Existenz. Damit das Recht nicht nur auf dem Papier steht, darf, wer sterben will, die Hilfe anderer in Anspruch nehmen. Die Freiheit zum Tod ist eine Freiheit, die der Staat niemandem nehmen darf, indem er “Sterbehelfer” kriminalisiert.
Das Urteil dürfte das Parlament, das Sterbehilfevereinen eigentlich mit guten Gründen das Handwerk legen wollte, vor eine heikle Aufgabe stellen. Denn wenn sich die Situation für die Patienten nicht grundlegend ändert, wird der Gesetzgeber bei einer nun anstehenden Reform kaum anders können, als irgendeine Form organisierter Sterbehilfe zuzulassen.
Trotzdem hat Karlsruhe richtig entschieden. Denn erstens wird der Richterspruch zu einem Umdenken führen, gerade auch in der Ärzteschaft, die wie niemand sonst berufen ist, den Menschen bei diesem letzten Gang zu helfen. Der umstrittene Paragraf, der gerade auch die Ärzte verunsichert hat, ist erst einmal aus der Welt. Und das uneinheitliche Berufsrecht, das den Medizinern – je nach Region – die Suizidhilfe mal erlaubt, mal verbietet, muss dringend vereinheitlicht und liberalisiert werden. Unterlässt man dies, schafft man den Bedarf für andere Sterbehilfe-Angebote. Zweitens öffnet das Urteil keineswegs das Tor für das unkontrollierte Aufkommen privater Sterbehilfevereine – ganz im Gegenteil.”
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“Das Tabu ist gefallen”
Betroffene haben wieder einen Ausweg, auch wenn dieser nur der allerletzte sein dürfe, kommentiert Zeit Online: “Das Urteil aus Karlsruhe entlastet alle Beteiligten. Ärzte, die nun nicht mehr Haft oder den Verlust ihrer Approbation fürchten müssen, wenn sie ihre Patienten in den Tod begleiten oder bloß über das Thema aufklären. Die Patienten, denen eine Tür geöffnet wird, um das eigene Leiden fachlich begleitet zu beenden. Die Entscheidung aus Karlsruhe wird zu neuen Debatten und einer neuen Regelung führen. Zunächst aber stärkt sie das Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben. Das ist vor allem eine Entlastung für die Angehörigen. (...) Jetzt können Palliativmediziner und Patienten wieder offen sprechen, das Tabu ist gefallen. Aber ein offenes Gespräch bedeutet auch, dass Ärzte Alternativen aufzeigen können, so lange es welche gibt. Sterbehilfe kann immer nur der allerletzte Ausweg sein. Für Betroffene ist sie aber nun wieder genau das: ein Ausweg. Einer, auf dem Angehörige wieder ganz das sein können, was Patienten in der Phase zwischen Leben und Tod so dringend brauchen: Begleiter.”
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Die Neue Osnabrücker Zeitung sieht den Staat “vor eine schier unlösbare Aufgabe gestellt”: “Darf der Staat Hilfe verwehren, wenn Menschen ihr Leben beenden wollen? Karlsruhe hat die Frage mit einem klaren Nein beantwortet. Das Gericht hat das Recht auf Selbstbestimmung massiv gestärkt und dabei einer Liberalisierung der Sterbehilfe den Weg bereitet, die gefährlich werden kann. Das Verfassungsgericht hat den Gesetzgeber vor eine schier unlösbare Aufgabe gestellt. Er soll auch denjenigen Suizid-Hilfe ermöglichen, die ihres Lebens überdrüssig, aber nicht todkrank sind. Zugleich muss er verhindern, dass Menschen nach der Spritze verlangen, weil sie sich als Ballast anderer sehen.”
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Die Schwäbische Zeitung kritisiert das Urteil: “Den Wert des eigenen oder fremden Lebens unter jenen der Autonomie zu stellen, kommt einer Missachtung der Würde der menschlichen Person gleich. Der Wert des Lebens eines Menschen darf nicht auf die Qualität einiger ausgewählter Eigenschaften reduziert werden. Das Gericht legt hingegen die Verfügbarkeit des Lebens in die Hände des Patienten. Das ist ein Paradigmenwechsel. Nach christlichem Verständnis legt der Mensch sein Leben in die Hände Gottes. Nicht in die Hände eines Sterbehelfers. Mit der Karlsruher Entscheidung wächst aber der soziale Druck auf Alte und Kranke, Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen. Deshalb ist es nun an der Politik, der Suizidhilfe einen engen Rahmen zu setzen. Und nicht zuletzt sind auch die Kirchen gefragt: erstens im massiven Ausbau der Hospiz- und Palliativversorgung. Zweitens: Wenn die Verfassungsrichter anregen, dass vor der Beihilfe zum assistierten Suizid Beratung zwingend ist, sollten sich die Kirchen engagieren, um Betroffene davon abzubringen.”
“Mehr Freiheit für alle”
Mehr Freiheit nicht nur für Ärzte, sondern für uns alle – so bewertet die Mittelbayerische Zeitung die Entscheidung: “In den mehr als vier Jahren seit seiner Einführung hat sich jedoch gezeigt, dass der Paragraf 217 negative Folgen für verantwortungsvolle Ärzte mit sich bringt. Bis zu drei Jahren Haft sah das Gesetz vor – das war vielen Medizinern zu heikel. In der Konsequenz zogen sich viele Mediziner lieber zurück, anstatt todkranke Patienten in dieser schwierigen Zeit zu begleiten. Was für ein trauriger Gedanke, dass Menschen beim Sterben alleine gelassen werden, weil ein Paragraf ihren Ärzten die Hände band. Es ist ein gutes Signal, dass das Bundesverfassungsgericht nun diesen befreienden Beschluss traf. Er schafft mehr Freiheit – nicht nur für die Ärzte, sondern für uns alle.”
Das Gericht, so die Hessische Niedersächsische Allgemeine, hat Schwerkranken eine Freiheit ermöglicht. Dennoch bleibe es eine individuelle Gewissensfrage: “Ist damit das Tor zur Hölle sperrangelweit offen? Nein. Das Gericht hat eine Freiheit ermöglicht, die manche Betroffene einfordern – mehr nicht. Geklagt hatten nicht nur Sterbehilfevereine, sondern auch Ärzte und Schwerkranke. Mediziner sehen Leidenswege, von denen viele keine Vorstellung haben. Hilfsvereine sind mit flehenden Anliegen konfrontiert, die sonst nirgendwo geäußert werden. Wer will sich zum moralischen Richter aufschwingen über Schwerkranke, die ihr Leiden nicht mehr ertragen wollen? Wer kann für einen anderen Menschen beurteilen: Jetzt ist es genug? Das ist eine Gewissensfrage, die jeder nur für sich beantworten kann.”
“Jeder einzelne Mensch muss genau betrachtet werden”
Die Thüringische Landeszeitung schreibt, nun laste die schwerste Entscheidung nicht länger allein auf Angehörigen und einigen Ärzten: “Eigentlich ist für mich ganz klar: Ich möchte nicht, dass Schwerstkranke den Eindruck haben, sie sollten vorzeitig aus dem Leben scheiden, weil das Angehörigen Zeit und Leid sowie Kassen viel Geld erspart. Ich möchte nicht, dass der Mensch in seinem Leiden eine Abwertung erfährt. Ich möchte nicht, dass ein Klima in diesem Land Einzug hält, das Alte und Schwache an den Abgrund stellt – und ihnen daher der Tod als Perspektive erscheint. Dennoch bin ich froh um das jetzt in Karlsruhe gesprochene Urteil. Es lastet nicht länger die schwerste Entscheidung allein auf den Angehörigen und auf einigen Ärzten. Ja, jeder einzelne Mensch, der den Tod wünscht, muss genau betrachtet werden. Es muss Hilfe geben, um Weiterleben zu ermöglichen. Und es muss in genau geprüften Fällen Hilfe geben, um in Würde sterben zu dürfen.”
“Die Würde des Menschen ist unantastbar, seine Freiheit zum Tod ebenso”, meint die Neue Zürcher Zeitung: “Es ist eine Bestätigung für diejenigen, die persönliche Autonomie und die Freiheit des Menschen als grundlegende Fundamente westlich-säkularer Gesellschaften verstehen. Und es ist ein Sieg für jene, die das Recht auf den eigenen Tod als zutiefst human begreifen. Denn das Urteil stellt klar: Die Würde des Menschen ist unantastbar, seine Freiheit zum Tod ebenso – und beides ist untrennbar miteinander verbunden. Denn der Staat mag zwischen Wiege und Bahre vieles regulieren, die selbstbestimmte Entscheidung über sein würdevolles Sterben aber steht ausschließlich dem einzelnen Bürger zu.(...)
Weil das Leben auch an seinem Ende wenig Eindeutigkeiten kennt, behalten die Bedenken der Gegner der Sterbehilfe auch nach dem Grundsatzurteil ein gewisses Gewicht. Kirchen, aber auch Ärztevertreter warnen vor den Geschäftsinteressen einer ‘Industrie des Todes’, vor dem Erwartungsdruck an Sterbende und der drängenden Habgier Verwandter, die auf eine Erbschaft aus sind. Vor allem aber machen sie darauf aufmerksam, dass psychisch Kranke, verwirrte oder verzweifelte Lebensmüde zu Kurzschlusshandlungen neigen könnten.”
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Der Zürcher Tages-Anzeiger findet das Urteil “so vorbildlich wie historisch”: “In Deutschland gibt es jetzt ein Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben, ein Grundrecht auf Suizid. Das gestern verkündete Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist so vorbildlich wie historisch. In einem Land zumal, wo eine mächtige Phalanx vor allem von CSU-Politikern und Kirchenvertretern organisierte Sterbehilfe kategorisch verurteilt und gar an das Euthanasie-Programm der Nazis erinnert. (...)
Bei aller Freude über das Grundsatzurteil bleiben gerade die Sterbehilfeorganisationen skeptisch. Denn das Gericht lässt es zu, dass die Politik die Suizidhilfe reguliert. Das ist mit Unwägbarkeiten verbunden. Vor allem müsste jetzt das restriktive Betäubungsmittelgesetz angepasst werden.“
Einen “Seufzer der Erleichterung” werde die Entscheidung bewirken, kommentiert die belgische Zeitung De Standaard: “Von nun an können Ärzte, wenn sie darum gebeten werden und wenn sie es wollen, ihren Patienten Medikamente zur Verfügung stellen, damit diese ihrem Leben ein Ende setzen können. Das ist in Deutschland eine fundamentale Wende im Denken über die Beendigung des Lebens: Das Verbot der Sterbehilfe wird in das Recht umgeschrieben, selbst zu entscheiden, wie man stirbt. Dieses Urteil wird einen Seufzer der Erleichterung für Hunderte von Patienten bewirken, die seit Jahren darauf warten, ihr Leben auf medizinisch verantwortliche Weise zu beenden. Und auch bei den Ärzten, die mit diesem verfassungsrechtlichen Urteil mehr Klarheit über ihre Befugnisse erhalten.“
RND/dpa/cz