Pflegeexperte mahnt vor Verarmung: „So darf es nicht weitergehen“
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/CL4REZCSR7L6YG7JJWHFQZIHM4.jpg)
Altenpfleger werden in Deutschland schlecht bezahlt.
© Quelle: epd
Bremen. Heinz Rothgang ist einer der profiliertesten Pflegeexperten in Deutschland. Er lehrt am Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen. Auf seinen Vorschlägen beruhen Bundesrats-Initiativen der Länder Hamburg und Schleswig-Holstein für eine Reform der Pflegeversicherung. Er erläutert, warum dringender Handlungsbedarf besteht.
Herr Professor Rothgang, in der Altenpflege soll es nach dem Willen der großen Koalition künftig flächendeckende Tarifverträge geben. Ist das überhaupt bezahlbar?
Die Frage stellt sich so gar nicht, denn wir sind einfach gezwungen, das zu finanzieren. Schon heute gibt es einen akuten Personalmangel in der Altenpflege. Derzeit sind dort mehr als 30.000 Stellen unbesetzt. Weil die Zahl der Pflegebedürftigen steigt, die Zahl der Erwerbstätigen aber nicht, wird die Lücke immer größer. Um die Pflege langfristig zu sichern, müssen wir den Beruf attraktiver machen. Das heißt: mehr Personal in den Pflegeeinrichtungen und höhere Löhne. Beides treibt die Kosten. Aber nur so können wir den Pflegenotstand auflösen.
Können Sie die Mehrkosten beziffern?
Wir sprechen von einem Milliardenbetrag im oberen einstelligen Bereich. So erhalten Altenpfleger im Monat etwa 600 Euro weniger als Krankenpfleger. Diese Lücke muss geschlossen werden, weil beide Berufe künftig durch die gemeinsame Ausbildung in direkter Konkurrenz stehen. Neu ausgebildete Pflegekräfte können sich schließlich aussuchen, ob sie in einem Heim oder im Krankenhaus arbeiten wollen. Allein für diesen Ausgleich wären bis zu drei Milliarden Euro nötig. Wird die im Koalitionsvertrag fixierte Forderung nach mehr und besseren Tariflöhnen umgesetzt, dürften die Löhne in der Pflege insgesamt um bis zu fünf Milliarden Euro steigen. Hinzu kommen Mehrausgaben in Milliardenhöhe für einen besseren Personalschlüssel.
Wer soll diese Kosten tragen?
Tun wir nichts, werden die Eigenanteile der Pflegebedürftigen durch die Decke gehen. Denn sie müssen die Mehrausgaben für das Personal zu 100 Prozent schultern. Schon heute müssen im Schnitt allein für den Pflegeanteil in einem Heim über 600 Euro pro Monat aus der eigenen Tasche gezahlt werden. Zur Erinnerung: Bei der Einführung der Pflegeversicherung haben die Versicherungsleistungen die durchschnittlichen Pflegekosten im Heim gedeckt. Rechnet man die sogenannten Hotelkosten für Unterbringung und Verpflegung sowie die Investitionskosten hinzu, müssen die Pflegebedürftigen bundesweit im Schnitt derzeit bereits mehr als 1800 Euro selbst aufbringen.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/IFVQX7UMI5JC3VPNNWKSL3SA6A.jpg)
Heinz Rothgang von der Universität Bremen
© Quelle: David Ausserhofer
Was schlagen Sie vor?
So darf es nicht weitergehen, sonst können immer mehr Pflegebedürftige die steigenden Eigenanteile nicht mehr aufbringen und sind auf Sozialhilfe angewiesen. Wir brauchen einen Systemwechsel, damit nicht mehr der einzelne Heimbewohner das Kostenrisiko für eine bessere Pflegequalität tragen muss, sondern die gesamte Versichertengemeinschaft.
Wie soll das konkret funktionieren?
Derzeit haben wir folgende Systematik: Die Pflegeversicherung zahlt einen Sockelbetrag, den Rest übernehmen die Heimbewohner. Das müssen wir umdrehen: Die Heimbewohner zahlen einen fixen Sockel als Eigenanteil, alle Ausgaben darüber hinaus werden solidarisch von der Pflegeversicherung getragen.
Wie hoch sollte der Eigenanteil sein?
Die jetzige Höhe ist die absolute Obergrenze. Besser wäre, die Kostenbeteiligung gegenüber heute abzusenken. Dafür gäbe es auch eine Finanzquelle: In der ambulanten Pflege bezahlt die Krankenversicherung die sogenannte medizinische Behandlungspflege wie Wundversorgung oder Verbandwechsel. In den Heimen müssen dafür jedoch die Pflegebedürftigen aufkommen. Das ist eine gravierende Ungerechtigkeit. Wird das geändert, können die Pflegekosten um bis zu drei Milliarden Euro sinken. Damit könnte der Eigenanteil für die Pflege im Schnitt auf rund 300 Euro halbiert werden.
Sollte dieser Eigenanteil dann in der Höhe fixiert werden?
Ich gehe noch weiter. Der Eigenanteil sollte auch zeitlich begrenzt werden, zum Beispiel für einen Zeitraum von vier Jahren. Dann gibt es erstmals einen absoluten Höchstbetrag, der im Falle der Pflegebedürftigkeit aus eigener Tasche aufzubringen ist. Er kann zum Beispiel privat versichert werden. In der heutigen Systematik sind Pflege-Zusatzversicherungen ja vor allem deshalb so unattraktiv, weil niemand die Lücke kennt und daher unklar ist, was überhaupt versichert werden soll. Erst durch eine Deckelung kann das Pflegerisiko vollständig abgesichert werden.
Wird der Eigenanteil gedeckelt, geht aber der Pflegebeitrag hoch, wenn die Löhne steigen und mehr Personal eingestellt wird.
Richtig, aber der Beitrag ist solidarisch finanziert durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Es kann doch nicht sein, dass wir Heimbewohner und Pflegekräfte gegeneinander ausspielen. Nur durch die beschriebene Systemänderung können wir die Verarmung von Hunderttausenden Pflegebedürftigen verhindern.
Von Timot Szent-Ivanyi