Proteste gegen Interimspräsidentin Boluarte

„Wir haben unseren langen Marsch begonnen“: Wie Indigene den Aufstand in Peru anführen

Eine Demonstrantin, die gegen die Regierung protestiert, stellt sich in Lima der Polizei.

Eine Demonstrantin, die gegen die Regierung protestiert, stellt sich in Lima der Polizei.

Lima. In einem Industriegebiet der peruanischen Hauptstadt Lima führt ein heruntergekommenes Treppenhaus zu der sicheren Unterkunft im zweiten Stock. Dutzende von Quechua- und Aymara-Aktivisten liegen auf Matratzen, ruhen sich aus für weitere Demonstrationen gegen die Regierung, während Freiwillige ein Frühstück aus gespendetem Reis, Nudeln und Gemüse zubereiten.

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Unter ihnen ist auch Marcelo Fonseca, der mit ansah, wie ein Freund im Dezember bei Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften in der südlichen Stadt Juliaca erschossen wurde. Innerhalb von Stunden schloss sich der 46-Jährige dem Strom von Demonstranten an, der nach Lima zog, um die Abdankung der Interimspräsidentin Dina Boluarte zu fordern.

Demonstranten errichten in Chao eine brennende Barrikade, um einen Teil der Panamerikanischen Nordautobahn zu blockieren. Die Demonstranten fordern sofortige Neuwahlen, den Rücktritt von Präsidentin Boluarte und die Auflösung des Kongresses, nachdem der frühere Präsident Castillo im Dezember wegen des Versuchs, den Kongress aufzulösen, abgesetzt und verhaftet wurde.

Demonstranten errichten in Chao eine brennende Barrikade, um einen Teil der Panamerikanischen Nordautobahn zu blockieren. Die Demonstranten fordern sofortige Neuwahlen, den Rücktritt von Präsidentin Boluarte und die Auflösung des Kongresses, nachdem der frühere Präsident Castillo im Dezember wegen des Versuchs, den Kongress aufzulösen, abgesetzt und verhaftet wurde.

„Unser Andenblut brennt, wenn wir zornig werden“, sagt Fonseca in brüchigem Spanisch. Seine Muttersprache ist Quechua. „Es fließt schneller. Das ist, was uns hier hinbringt.“

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Proteste in Peru laufen bereits seit zwei Monaten – und kosteten 60 Menschen das Leben

Etwa zwei Monate nach Beginn des peruanischen Aufstands haben sich die Emotionen verhärtet. Zwar haben die Unruhen bislang kaum einen Einfluss auf die Feierstimmung an den Strandenklaven Limas, doch sind in ländlichen Regionen etliche Straßen blockiert. Die Situation schreckt Touristen ab, es kommt zu Gasknappheit und anderen Engpässen.

Mindestens 60 Menschen haben im Zuge des Aufruhrs ihr Leben verloren. Ausgelöst wurde dieser durch die Absetzung und Festnahme des damaligen Präsidenten Pedro Castillo im Dezember, nachdem dieser das Parlament auflösen wollte, um einem Misstrauensvotum zuvorzukommen. Für Peruaner wie Fonseca war die Absetzung des linken Ex-Lehrers aus dem ländlichen Peru ein Symbol für das eigene Ausgeschlossensein. Dass seine Vizepräsidentin ihn im Bunde mit Castillos konservativen Gegnern im Kongress beerbte, sehen sie als unverzeihlichen Klassenverrat.

Die politische Hängepartie seither hat der indigenen Bewegung des Landes neuen Schwung verliehen. Anders als im benachbarten Bolivien, wo indigene Gruppen durch die Wahl des Aymara-Kokaanbauers Evo Morales zum Präsidenten im Jahr 2006 ermutigt wurden, oder in Ecuador, wo ethnische Gruppen auf eine lange Tradition zurückblicken, ungeliebte Regierungen zu stürzen, taten sich indigene Gruppen in Peru lange schwer, politisch Einfluss zu nehmen.

Indigene werden in Peru oftmals übersehen oder sogar angefeindet

Wenngleich Peruaner mit verschiedensten Hintergründen stolz auf die Geschichte des Inka-Reichs sind, wird die indigene Bevölkerung oft mit Vernachlässigung oder gar Feindseligkeit behandelt. Nur wenig wird für die Förderung von Quechua getan, obwohl die Sprache von Millionen genutzt wird und seit 1975 eine Verwaltungssprache ist. Erst in der Volkszählung 2017 wurden die Peruaner gefragt, ob sie sich mit einer der mehr als 50 indigenen Gemeinschaften identifizieren.

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Die Polizei feuert Tränengas ab, um Regierungsgegner auf der von Demonstranten blockierten Panamerikanischen Nordautobahn in Chao zu vertreiben.

Die Polizei feuert Tränengas ab, um Regierungsgegner auf der von Demonstranten blockierten Panamerikanischen Nordautobahn in Chao zu vertreiben.

Tarcila Rivera, eine bekannte Quechua-Aktivistin und frühere UN-Beraterin für indigene Angelegenheiten, führt die Verachtung für die Indigenen auf systematischen Rassismus seit der Zeit der spanischen Eroberer zurück. Trotz der zweihundert Jahre, die seit der Gründung der Republik vergangen seien, sei die Realität, dass die Rechte der Nachkommen von Ureinwohnern nicht berücksichtigt würden, sagt sie.

Die aktuellen Turbulenzen haben wieder eine Flut des Rassismus ausgelöst. Ein Abgeordneter des Kongresses verunglimpfte die siebenfarbige Wiphala-Flagge, die die Ureinwohner der Anden repräsentiert, als „Chifa-Tischdecke“ - und benutzte dabei das Wort für ein unterklassiges chinesisches Restaurant. Ein weiterer forderte die Sicherheitskräfte auf, Protestierende mit einem festen „Tritt“ nach Bolivien zu befördern.

Das harte Eingreifen der Sicherheitskräfte radikalisierte die Proteste

Rivera sagt, das harte Durchgreifen habe jüngere Protestteilnehmer radikalisiert. Die Ausbreitung von Handys und Internet in den vergangenen Jahren hat indigenen Peruanern zudem dabei geholfen, sich ihrer Rechte, der gravierenden Ungleichheiten und der Opfer bislang nicht dafür gerühmter indigener Helden bewusster zu werden, die im Widerspruch stehen zu Narrativen einer ewigen Opferrolle. „Alles, was unsere Kinder je gelehrt wurden, ist, dass wir Verlierer seien, miserable Seelen, die kampflos besiegt wurden“, sagt Rivera.

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Polizisten in Lima stehen vor einer Kiste, die einen Sarg darstellt, den regierungskritische Demonstranten niedergelegt haben.

Polizisten in Lima stehen vor einer Kiste, die einen Sarg darstellt, den regierungskritische Demonstranten niedergelegt haben.

Die gegenwärtige Protestbewegung konzentriert sich in den südlichen Anden, wo das indigene Identitätsbewusstsein am stärksten ausgeprägt ist. Auch ein Großteil der Rohstoffe des Landes liegt in dem Gebiet, außerdem archäologische Juwele, die vor der Corona-Pandemie mehr als vier Millionen Touristen pro Jahr ins Land lockten. Die Bauern dort gehören zugleich zu den am stärksten vernachlässigten Menschen des Landes.

Bei einer Straßenblockade nahe Cusco hielt eine Gruppe armer Landarbeiter im vergangenen Monat eine stundenlange Mahnwache ab. Während der Stau vor der improvisierten Blockade aus Autoreifen und Ästen wuchs, nahmen auch die Spannungen zu - Kraftfahrer brachten familiäre Notfälle vor. Einer der Fahrer wiederholte einen falschen Narrativ, der von Eliten des Landes verbreitet wird, dass Castillos Wahlsieg das Ergebnis von Bestechung, Betrug und Schikane gewesen sei. Schließlich gaben die Demonstranten dem Druck nach.

Protestler sind organisiert

Zurück in Lima entfaltet sich in dem sicheren Unterschlupf der Demonstranten derweil ein gewisser Trubel vor einem weiteren Tag des Protestes. Auf handgeschriebenen Schildern sind die täglichen Aufgaben aufgelistet, die wahrgenommen werden müssen, um die Unterkunft sauber und sicher zu halten. Dutzende Aktivisten aus Cusco werden erwartet. Sie müssen in einer der wenigen Dutzend Häuser, Wohnungen und Geschäfte in der ganzen Hauptstadt untergebracht werden, die ihre Türen geöffnet haben - wie klandestine Rebellenstützpunkte.

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Auch in Cusco demonstrieren Tausende gegen die peruanische Übergangsregierung.

Auch in Cusco demonstrieren Tausende gegen die peruanische Übergangsregierung.

Geheimhaltung ist ein Muss. Wie Fonseca wurden bereits viele der Demonstranten festgenommen, etwa als die Sicherheitskräfte im Januar Tränengas einsetzten, ein Universitätsgelände stürmten und Hunderte wegen unerlaubten Betretens in Gewahrsam nahmen, die dort frühstückten. Als Lehre daraus sind die Bewohner des Unterschlupfs dazu angehalten, diesen nur allein oder zu zweit zu verlassen, das Licht früh auszuschalten und jeden Eingriff der Polizei sofort zwei Menschenrechtsanwälten anzuzeigen, die permanent in Bereitschaft sind. Die Fenster sind unter anderem mit Zeitungen verdeckt.

„Wir haben unseren langen Marsch begonnen“

Doch weitaus größer als die Angst ist die Hoffnung. „Ganz gleich was passiert, werde ich mich hüten zu sagen, dass wir bereits gewonnen haben“, sagt Victor Quinones, während er sich ein Bündel Kokablätter in den Mund steckt. Mit seinen 60 Jahren ist er einer der Veteranen der Gruppe. Die vergangenen Wochen in Lima hätten seine Entschlossenheit noch verstärkt, den Status quo nicht länger zu akzeptieren, sagt er.

„Wir haben die Barriere eingerissen. Wir haben unseren langen Marsch begonnen - und schauen Sie sich all diese Unterstützung an, die wir unterwegs gesammelt haben“, sagt er. „Wir haben gewonnen, weil die Welt jetzt Bescheid weiß.“

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RND/AP

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