Paraden und Raketen: Wie Nordkorea zur ernsthaften Bedrohung für die USA wird
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Eine Militärparade anlässlich des 75. Jahrestages der Gründung der Koreanischen Volksarmee auf dem Kim-Il-Sung-Platz.
© Quelle: Uncredited/KCNA/dpa
In der Nacht auf Donnerstag ließ Kim Jong Un die Innenstadt Pjöngjangs mit grellen Scheinwerfern bestrahlen, das jubelnde Volk zur Choreografie bitten und die führenden Parteikader auf riesigen Tribünen Platz nehmen: Der 75-jährige Gründungstag der nordkoreanischen Streitkräfte fiel standesgemäß aus. Machthaber Kim, in schwarzem Mantel und Humphrey-Bogart-Hut gekleidet, lächelte sichtlich ausgelassen, als die phallischen Machtobjekte seines Militärs zur Parade auffuhren.
Und dank moderner Satellitentechnologie ist die Weltöffentlichkeit nicht mehr ausschließlich auf die Fotoaufnahmen der staatlichen Nachrichtenagentur KCNA angewiesen, sondern kann zusätzlich auf dokumentarisches Material aus der Luft zugreifen. Was auf den Bildern zu sehen ist, lässt einen deprimierenden Rückschluss zu: Noch nie hat Nordkorea mehr atomwaffenfähige Interkontinentalraketen aufgefahren. Zusätzlich hat die Armee offenbar ein neues Raketensystem mit Feststoffantrieb vorgestellt, welches die Sprengköpfe wesentlich schneller zum Abschuss bereit macht.
Das bitterarme Nordkorea ist für die USA eine ernsthafte Bedrohung
Doch vor allem sind es die mindestens elf Interkontinentalraketen des Typs Hwasong-17, die den Regierungsbeamten in Washington einen ziemlichen Schrecken eingejagt haben dürften. Denn auch wenn es auf den ersten Blick überraschen mag: Das wirtschaftlich bitterarme Nordkorea stellt nun für die Vereinigten Staaten eine zunehmend ernsthafte Bedrohung dar.
Die Kalkulation ist simpel: Die USA verfügen zwischen Alaska und Kalifornien über 44 bodengestützte Abfangjäger, die eine Interkontinentalrakete noch während des Flugs zerstören können. Wenn man davon ausgeht, dass Nordkorea pro Rakete jeweils vier Sprengköpfe montieren kann, übersteigt dies also – bei einem gleichzeitigen Abschuss des gesamten Arsenals – die Kapazitäten der US-Abwehr.
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Kim Jong Un, Machthaber in Nordkorea, während einer Militärparade anlässlich des 75. Jahrestages der Gründung der Koreanischen Volksarmee auf dem Kim-Il-Sung-Platz.
© Quelle: Uncredited/KCNA/KNS/dpa
Fakt ist: Die Hwasong-17 kann die notwendige Distanz fliegen, um die US-Westküste zu erreichen. Bislang jedoch noch nicht bewiesen ist, ob Nordkoreas Militär bereits die sogenannte Wiedereintrittstechnologie gemeistert hat: Sprengköpfe fliegen bei solchen Reichweiten nämlich derart hoch, dass sie vorübergehend aus der Erdatmosphäre aus- und schlussendlich wieder eintreten. Zu verhindern, dass der Flugkörper dabei verbrennt, zählt zur Königsdisziplin der Ingenieurskunst.
Kim Jong Un nimmt das eigene Volk in Geiselhaft
Doch zweifelsohne ist Nordkoreas Militärparade für die internationale Staatengemeinschaft ein regelrechter Schlag ins Gesicht. Kim Jong Un hat so offen wie selten demonstriert, dass er – allen Sanktionen zum Trotz – unbeirrt an der nuklearen Abschreckungsstrategie gegen die USA festhält. Dafür nimmt das Regime de facto das eigene Volk in Geiselhaft: Das sündhaft teure Raketenprogramm frisst nicht nur die knappen Ressourcen des bitterarmen Landes, sondern verhindert auch, dass Nordkorea jemals aus der wirtschaftlichen Isolation herausfindet.
Doch vielleicht, so glauben immer mehr Experten, ist dies auch gar nicht gewollt: Die vollkommene Abschottung, wahr geworden durch die Pandemie, spielt dem zutiefst paranoiden Regime in gewisser Weise in die Hände. Man möchte sich unabhängig vom Außenhandel machen, absolut autark sein. Dass aufgrund jener Strategie Millionen Menschen unter Mangelernährung leiden, ist den Machthabern zweitrangig.
Was das langfristige „end game“ von Kims Nuklearkurs ist, darüber wird unter Beobachterinnen und Forschern heftig debattiert. Unklar ist, ob es Pjöngjang bei der bloßen Selbstverteidigung belassen wird. Thae Yong Ho hält dies für naiv. Der ehemalige nordkoreanische Botschafter, der nach einer spektakulären Flucht 2016 die Seiten wechselte hat und mittlerweile im südkoreanischen Parlament sitzt, glaubt, dass Nordkorea sein Atomprogramm ausnutzen wird, um eine Wiedervereinigung mit dem Süden zu erzwingen. Wenn nämlich die Raketen Pjöngjangs auch Los Angeles oder San Francisco ins Visier nehmen können, dürfte es sich Washington doppelt und dreifach überlegen, ob sie bei einer nordkoreanischen Invasion seinem Verbündeten in Seoul militärisch helfen würde.
Hat Nordkorea überhaupt genügend Benzin für seine Panzer?
Noch sind solche Szenarien bloße Gedankenspielereien. Dieser Tage dürfte das nordkoreanische Militär – trotz seiner beeindruckenden Errungenschaften – unter ganz banalen Problemen leiden: etwa, ob es überhaupt genügend Benzin für seine Panzer zur Verfügung hat oder seine Hunderttausenden Soldaten ausreichend ernähren kann. Auch deshalb fährt das Regime seine pompösen Militärparaden auf: um durch inszenierte Bilder der Stärke die eigenen Schwächen zu übertünchen.
Ebenso setzte die Propaganda bei den Feierlichkeiten in Pjöngjang erstmals Kim Jong Uns jüngste Tochter Ju Ae prominent in Szene: Die mutmaßlich Neunjährige thront bei einem Bankett zwischen Dutzenden Generälen. Es dauerte nicht lange, bis die Gerüchteküche heiß lief: Versucht die Kim-Dynastie, die Öffentlichkeit auf eine mögliche Erbin vorbereiten?
Die Spekulationen dürften allerdings allzu voreilig sein. Denn Kim hat insgesamt drei Kinder, der älteste ist ein Sohn. Warum das Regime den Jungen – und offensichtlichen Thronfolger – bislang noch unter Verschluss hält, hat einen naheliegenden Grund: um seine Identität zu schützen. Die Zeit für seinen großen Auftritt wird mit Sicherheit noch kommen.