Newsletter „Krisen-Radar“

Schulstunde in der Strohhütte: Unterricht in einem der ärmsten Länder der Welt

Ein Junge in einer Strohhütte, die im Niger als Klassenzimmer dient.

Ein Junge in einer Strohhütte, die im Niger als Klassenzimmer dient.

Liebe Leserin, lieber Leser,

nirgendwo sonst ist das Bevölkerungswachstum so hoch wie im Niger, nach unterschiedlichen Schätzungen der Regierung und Weltbank bringt jede Frau im Schnitt zwischen gut sechs und fast sieben Kinder zur Welt. Schon jetzt kann das Land – eines der ärmsten der Welt – die vielen Menschen nicht mehr ernähren, die Wüste breitet sich immer weiter aus. Experten sind sich einig: Bildung ist ein Schlüsselfaktor, um die Bevölkerungsexplosion besonders im Niger, aber auch in anderen Ländern der Sahelzone unter Kontrolle zu bekommen. Im ostafrikanischen Äthiopien beispielsweise haben gezielte Investitionen in Gesundheit, Bildung und Arbeitsplätze „die Lebensbedingungen verbessert und einen raschen Rückgang der Geburtenziffer angestoßen“, wie das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung bereits 2018 analysiert hat.

Fotograf Andy Spyra und ich haben nach unserem Besuch bei der Bundeswehr in Mali noch im Niger recherchiert und dabei eine Schule besucht, in der viele Probleme des Landes offensichtlich werden. Das staatliche Gymnasium in Liboré südlich der Hauptstadt Niamey platzt wegen der zunehmenden Zahl der Kinder aus allen Nähten, wie Direktor Oumarou Boubacar sagt. Schon jetzt werden zahlreiche Klassen in Strohhütten unterrichtet, die keinen Schutz gegen die Elemente bieten. Auch die Dächer in den Gebäuden sind leck. „Wenn es regnet, gibt es keinen Unterricht“, sagt der Direktor.

Eine Schule in Liboré südlich der Hauptstadt Niamey im Niger: Viele der Kinder werden in Strohhütten unterrichtet, Schutz vor den Elementen gibt es kaum.

Eine Schule in Liboré südlich der Hauptstadt Niamey im Niger: Viele der Kinder werden in Strohhütten unterrichtet, Schutz vor den Elementen gibt es kaum.

Mehr als die Hälfte der gut 1600 Kinder seien Mädchen, sagt Boubacar. Je höher die Klasse, desto mehr nehme ihr Anteil aber ab. Der Grund: 65 Prozent der Mädchen werden offiziellen Angaben zufolge verheiratet, bevor sie 18 Jahre alt sind. Im Gymnasium in Liboré sind unter den 30 Schülerinnen der Klasse 6A noch exakt so viele Mädchen wie Jungen, sie haben gerade Englischunterricht in einer Strohhütte. „Ahmed can study for his test“, hat die Lehrerin an die Tafel geschrieben. „Fatima can cook a good food.“

Bei 40 Grad im Schatten: Für die gesamte Schule gibt es einen Brunnen

Die Schule hat Strom, mit der Wasserversorgung aber hapert es: Es gibt nur einen Brunnen, um den sich die Kinder im Schulhof bei 40 Grad im Schatten drängen. Die am anderen Ende des Areals liegenden Toiletten bestehen nur aus Löchern im Boden. Immerhin gibt es dank der Hilfe einer kanadischen Nichtregierungs­organisation eine Bibliothek. Sogar mit einem Informatikraum kann die Schule aufwarten – allerdings nicht mit Computern oder IT-Lehrern. Die verstaubten Rechner in dem Zimmer gehören Privatleuten, die dort gegen Gebühr unterrichten. Die Kosten von gut 11 Euro im Monat könnten gerade einmal zehn Familien aufbringen, sagt Boubacar.

Die Kinder, die das Gymnasium besuchen, sind bereits privilegiert. Nur 30 Prozent der Nigrerinnen und Nigrer im Alter ab 15 Jahren können überhaupt lesen und schreiben. Doch selbst wenn die Kinder das Gymnasium abschließen, bleibt ein Problem, wie Boubacar sagt: Es gibt nicht genug Jobs.

Farouk gehört zu den Kindern, die nie eine reguläre Schule von innen gesehen haben. Der 12-Jährige bettelt in Liboré um Essen

Farouk gehört zu den Kindern, die nie eine reguläre Schule von innen gesehen haben. Der 12-Jährige bettelt in Liboré um Essen

Farouk gehört zu den Kindern, die nie eine reguläre Schule von innen gesehen haben. In Liboré bettelt der Junge um Essen, er hat einen roten Kochtopf, den er – an einer Schnur befestigt – wie eine Art Handtasche trägt. An diesem Morgen ist der Topf noch leer. Farouk sagt, er sei zwölf Jahre alt, eher sieht er aus wie fünf. Die verbreitete Mangelernährung kann sich wachstumshemmend auswirken, nach Angaben des UN‑Kinderhilfswerks Unicef ist das fast bei der Hälfte der Kinder im Niger der Fall. Farouk ist einer der sogenannten Almadschiri-Jungen, die von ihren Eltern zu einem Korangelehrten geschickt werden – meist, weil die Eltern die Kinder nicht mehr ernähren können.

Der Korangelehrte, der hier traditionell Marabu genannt wird, trichtert den Jungen das Heilige Buch der Muslime ein, das sie nie verstehen werden: In der Region wird Zarma gesprochen, Arabisch wird Farouk nie lernen. Als Gegenleistung für Koranschulung und Unterkunft müssen die Kinder betteln. Er komme aus einem Ort namens Boiko, der weit entfernt sei, sagt der verschüchterte Junge. Vor zwei Jahren hätten seine Eltern ihn weggeschickt. Wann er zu ihnen zurückkehren dürfe, wisse er nicht. Jungen wie er sind ideales Rekrutierungsmaterial für islamistische Terrorgruppen. Ihr wachsender Einfluss ist ein zunehmendes Problem im Niger – das wie so viele andere in dem Land mit der Bevölkerungsexplosion zusammenhängt.

Bis zur nächsten Ausgabe

Ihr Can Merey

Krisen-Radar

RND-Auslandsreporter Can Merey und sein Team analysieren die Entwicklung globaler Krisen im neuen wöchentlichen Newsletter zur Sicherheitslage – immer mittwochs.

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Was gerade passiert

Die Ukraine und Präsident Wolodymyr Selenskyj würden neben der EU auch gerne in die Nato von Generalsekretär Jens Stoltenberg.

Die Ukraine und Präsident Wolodymyr Selenskyj würden neben der EU auch gerne in die Nato von Generalsekretär Jens Stoltenberg.

  • Die USA lassen der von Russland angegriffenen Ukraine zusätzliche Militärhilfen im Wert von etwa 300 Millionen Dollar zukommen. Wie US‑Vertreter, die anonym bleiben wollten, weil die neuen Hilfen noch nicht offiziell angekündigt waren, am Dienstag mitteilten, fallen darunter etwa große Mengen an Artilleriegeschossen, Haubitzen, Luft-Boden-Raketen und Munition.
  • US‑Geheimdienste schätzen, dass seit Dezember mehr als 20.000 russische Kämpfer in den Gefechten um die Stadt Bachmut im Osten der Ukraine getötet worden sind. Etwa die Hälfte davon sollen Söldner der Wagner-Truppe sein, hieß es weiter. Es habe sich um Strafgefangene ohne ausreichende Kampf- oder Gefechtsausbildung gehandelt.
  • Die Ukraine will angesichts des russischen Angriffskriegs nicht nur möglichst schnell in die EU, sondern auch in die Nato. Wahrscheinlich ist das allerdings nicht. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur haben zuletzt Bündnismitglieder wie die USA und Deutschland hinter verschlossenen Türen deutlich gemacht, dass sie vorerst keine Zusagen machen wollen, die substanziell über eine vage Nato-Erklärung aus dem Jahr 2008 hinausgehen.

Alle Entwicklungen zum Krieg im Liveblog

 

Die Story des Tages

 International Press Freedom Day - Free Deniz Yucel Deutschland, Germany, Berlin, 03.05.2017 Demonstrantin mit Plakat Free all Journalists Free Deniz Yuecel und auf dem Konzert und der Kundgebung zum Tag der Pressefreiheit und in Solidartitaet mit dem Journalisten Deniz Yucel vor dem Brandenburger Tor in Berlin. Die Protestler von Reporter ohne Grenzen und Amnesty International verlangen die Freilassung des deutschen Journalisten , welcher verhaftet wurde und dem eine Anklage droht. Deniz Yuecel ist Korrespondent der Zeitung Die Welt und hat die tuerkische und deutsche Staatsbuergerschaft. Zur Zeit sind ca 150 Journalisten in der Tuerkei im Gefaengnis. Protester with sign Free all Journalists and Free Deniz during a rally on the International Press Freedom Day in front of the Brandenburg Gate in Berlin, Germany. The concert expresses solidarity to all jailed journalists in the world. T

Pressefreiheit weltweit unter Beschuss – Deutschland nur noch auf Platz 21

Weltweit geraten demokratische Grundrechte immer mehr in Bedrängnis. Auch um die Pressefreiheit steht es Jahr für Jahr schlechter. Die neue Rangliste der Pressefreiheit der Reporter ohne Grenzen beleuchtet die Lage in 180 Ländern. In Deutschland wird die Lage schlechter.

 

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Klare Ansage

Jeden Tag haben wir stapelweise tausend Leichen, die wir in den Sarg packen und nach Hause schicken

Jewgeni Prigoschin,

Chef der russischen Söldnereinheit Wagner

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Vorschau

Am kommenden Dienstag nimmt Russlands Präsident Wladimir Putin auf dem Roten Platz in Moskau die traditionelle Parade zum Sieg über Hitler-Deutschland ab. Traditionell marschieren mehr als 10.000 Soldaten auf. Zudem rollen Panzer und Raketen durch das Zentrum der russischen Hauptstadt. Der Gedenktag steht in diesem Jahr allerdings stark im Zeichen der Unterstützung des russischen Krieges in der Ukraine. Nahe der ukrainischen Grenze haben gleich mehrere Regionen die Paraden aus Sicherheitsgründen abgesagt.

Eine strategische russische Atomrakete fährt bei der Militärparade zum Tag des Sieges im vergangenen Jahr über den Roten Platz.

Eine strategische russische Atomrakete fährt bei der Militärparade zum Tag des Sieges im vergangenen Jahr über den Roten Platz.

 

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