Neuer Roman über Belarus: Ein Land im Tiefschlaf
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Kämpft im Exil um Belarus: Der Schriftsteller Sasha Filipenko.
© Quelle: Ekatarina Anokhina
Fast 20 Jahre ist es her, da feierte die Komödie „Good bye, Lenin“ einen Riesenerfolg in den deutschen Kinos. Der Plot war auch zu komisch: Kurz vor dem Fall der Mauer fällt die überzeugte Sozialistin Christiane (Katrin Sass) ins Koma. Das Ende der DDR bekommt sie nicht mit. Als sie wieder aufwacht, hat sich der Kapitalismus schon in Ost-Berlin eingenistet. Doch Christianes Sohn Alex (Daniel Brühl) will die Wende von ihr fernhalten. Schließlich sagen die Ärzte, sie darf sich nicht aufregen. So schafft er die Illusion einer nicht untergegangenen DDR.
Auch in Sasha Filipenkos Roman „Der ehemalige Sohn“ steht ein Koma im Mittelpunkt der Geschichte. Franzisk, ein Junge, der sich auf der Musikschule quält und sich ansonsten für Fußball, Musik und Mädchen interessiert, kommt bei einem Massenandrang fast ums Leben. Menschen werden in eine U-Bahn-Station gedrängt und zu Tode gequetscht. Wer diese eindringliche Passage liest, bekommt eine leise und düstere Ahnung von der Love-Parade-Katastrophe in Duisburg.
Die Hauptperson Franzisk liegt zehn Jahre lang im Koma
Franzisk, den seine Freunde Zisk nennen, fällt bei diesem Gedränge ins Koma und wird für gehirntot erklärt. Ärzte, Pflegerinnen, Freunde – alle schreiben ihn ab und warten nur auf den letzten Schritt des Jungen ins Jenseits. Die Einzige, die noch an Heilung glaubt, ist Zisks Babuschka. Die Großmutter verbringt ihr Leben von nun an im Krankenzimmer, sie liest ihm vor und erzählt ihm Geschichten. Zehn Jahre lang.
An Franzisks Rettung glaubt nur seine Oma
Dann stirbt sie – und Zisk wacht auf. Doch anders als in „Good bye, Lenin“ hat sich die Welt nicht verändert. Im Gegenteil: Minsk atmet immer noch trauriges Grau, das Land ist dasselbe geblieben. Für Zisk und sein lädiertes Gehirn ist das nach Meinung der Ärzte die Rettung: „Wir wissen, dass sein Gehirn an etwas andocken muss, um zu genesen, an Häkchen aus der Vergangenheit, wenn man so will. Und ebendiese Häkchen gibt es hier auf Schritt und Tritt. In dieser Stadt wird fast nichts gebaut. Sie verändert sich nicht.“
Filipenko zeichnet in seinem mal humorvollen, mal bitteren Roman ein bewegungsunfähiges Land, das unter der Decke der Angst lebt. Und das bereits vor Jahren in ein Koma gefallen ist – und nun irgendwo zwischen Leben und Tod vor sich hinvegetiert.
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Sasha Filipenkos Roman „Der ehemalige Sohn“ ist bei Diogenes erschienen, umfasst 320 Seiten und kostet 19,99 Euro.
© Quelle: Diogenes
In Russland ist das Buch bereits 2014 erschienen. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe (Diogenes, 320 Seiten, 19,99 Euro) schreibt Filipenko vom Tiefschlaf seines Landes und Aufwachen der Nation im Sommer 2020 mit ihren Nachwahlprotesten. Er schreibt: „Meine inständige Hoffnung ist, dass dieses Buch in meinem Land eines Tages nicht mehr aktuell sein wird.“