Im Poker um Schwedens Nato-Beitritt schraubt Erdogan am Preis
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Auch ohne Nato-Mitgliedschaft wird bereits zusammen geübt: Schwedische Soldaten in Kristianstad, wo sie an der Militärübung Aurora 23 zusammen mit polnischen, amerikanischen, finnischen und dänischen Kameraden teilnahmen.
© Quelle: Johan Milsson/TT News Agency/AP/
Vor dem nächsten Nato-Gipfel am 11. und 12. Juli im litauischen Vilnius erhöht das Militärbündnis den Druck auf die Türkei, nach monatelangem Zögern einem Beitritt Schwedens zuzustimmen. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg kündigte am Donnerstag in Oslo an, in Kürze nach Ankara reisen zu wollen, um über einen schnellstmöglichen Beitritt Schwedens zu sprechen. Er sei zuversichtlich, dass auch Ungarn die Aufnahme des Landes ratifizieren werde.
Schwedens Mitte-Rechts-Regierung unter dem konservativen Ministerpräsidenten Ulf Kristersson, die von den rechtspopulistischen Schwedendemokraten toleriert wird, hatte sich zuvor dem türkischen Druck gebeugt und neue Terrorgesetze verabschiedet, die am Donnerstag in Kraft traten. Von nun an ist es in dem skandinavischen EU-Land strafbar, sich an einer Terrororganisation zu beteiligen, eine solche Beteiligung zu finanzieren oder anderweitig zu unterstützen.
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Im Klartext bedeutet das: Wer Transportdienste für solche Vereinigungen übernimmt oder die Verpflegung bei ihren Veranstaltungen, könnte gegen das Gesetz verstoßen, so der schwedische Justizminister Gunnar Strömmer. Bei Verstößen drohen mehrjährige Haftstrafen.
„Die nun in Kraft tretende Gesetzgebung wird Schweden neue und wirksame Instrumente geben, um diejenigen strafrechtlich zu verfolgen, die den Terrorismus unterstützen“, schrieb Regierungschef Kristersson in einem Meinungsbeitrag in der „Financial Times“ („FT“). Es werde ein Schlupfloch bei den schwedischen Antiterrorgesetzen geschlossen.
Überraschungsbesuch in Kiew: Nato-Chef Stoltenberg sichert dauerhafte Unterstützung zu
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg ist am Donnerstag zu einem nicht angekündigten Besuch nach Kiew gereist. Er gilt als starker Unterstützer der Ukraine.
© Quelle: Reuters
Kristersson setzt darauf, dass die schärfere Gesetzgebung die türkische Blockade des schwedischen Nato-Beitritts lösen kann. Ankara warf dem Land mangelnden Einsatz gegen Terrorismus vor. Konkret ging es der Türkei vor allem um die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK. „Schweden unterstützt die Türkei voll und ganz gegen alle Bedrohungen ihrer nationalen Sicherheit und verurteilt alle Terrororganisationen, einschließlich der PKK, die Angriffe gegen sie verüben“, schrieb Kristersson in der „FT“.
Finnland als 31. Nato-Mitglied aufgenommen
Schweden und Finnland hatten im Mai 2022 vor dem Eindruck des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine die Mitgliedschaft in der westlichen Verteidigungsallianz beantragt. Finnland wurde Anfang April als 31. Nato-Mitglied aufgenommen. Schweden fehlt dagegen weiterhin die Ratifizierung durch die Türkei und auch durch Ungarn.
Sichtlich ungehalten reagierte die türkische Regierung, nachdem schwedische Abgeordnete aus Protest gegen die Wiederwahl Erdogans am Sonntag ausgerechnet die Flagge der PKK auf das Parlamentsgebäude in Stockholm projiziert hatten. Ähnlich verschnupft hatte Ankara reagiert, als rechtsextreme Schweden im Januar eine Kopie des Korans vor der türkischen Botschaft in Stockholm verbrannt hatten. Damals und auch im aktuellen Fall der PKK-Flagge drängt die Türkei unter Missachtung der unabhängigen schwedischen Justiz auf eine Strafverfolgung.
Erdogan ist kein demütiger und konzessionsfreudiger Politiker. Ich habe auch nie daran geglaubt, dass er nach der Wahl von seinen Maximalforderungen abrückt.
Markus Kaim,
Stiftung Wissenschaft und Politik
Zu befürchten ist, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die fast sechs Wochen bis zum Nato-Gipfel dazu nutzen wird, Schwedens Entschlossenheit, die neuen Gesetze auch anzuwenden, auf die Probe zu stellen. Dazu wurden der schwedischen Justiz Listen übermittelt, auf denen sich erst 33, dann 42, am Ende bis zu 130 Namen von Personen befanden, die Erdogans auf Linie gebrachte Justiz des Terrorismus bezichtigt. Beobachter fühlten an einen Basar erinnert, weil der Autokrat im Wahlkampf den „Preis“ ständig erhöhte.
„Erdogan ist kein demütiger und konzessionsfreudiger Politiker. Ich habe auch nie daran geglaubt, dass er nach der Wahl von seinen Maximalforderungen abrückt - warum sollte er auch? Der Nato-Beitritt Finnlands und die Blockade Schwedens haben im türkischen Wahlkampf überhaupt keine Rolle gespielt“, sagt der Politikwissenschaftler Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) zum Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND).
Der Eindruck könnte entstehen, Erdogan habe Macht über das Bündnis.
Ein osteuropäischer Diplomat
Ein osteuropäischer Diplomat äußerte gegenüber CNN, dass jede Verzögerung der Aufnahme Schwedens nicht nur „die Feinde“ der Nato „ermutigt“, sondern auch das Risiko erhöht, „dass der Eindruck entstehen könnte, Erdogan habe Macht über das Bündnis“. Der Diplomat fügte die Befürchtung hinzu: „Erdogan wird den Moment nutzen, um alles aus dieser Situation herauszuholen und den Ball ins Feld der Schweden zu werfen – um sie so zur Geisel ihrer (eigenen) Antiterrorgesetze zu machen.“
Beobachter gehen davon aus, dass sich Erdogan mit seiner Pokerpartie um Schwedens Nato-Mitgliedschaft eine andere Trophäe bereits gesichert hat: Die über Jahre blockierte Modernisierung seiner Luftwaffe. „Ich halte diese Forderung für die wichtigere der beiden“, so der Nato-Experte Kaim von der SWP, „denn die schwedische Terrorgesetzgebung kann nachträglich wieder geändert werden, anders als einmal gelieferte Rüstungsgüter“.
Keine F-35 an die Türkei
Rückblick: Den bereits zugesagten Verkauf moderner F-35-Flugzeuge im Wert von zwei Milliarden US-Dollar an die Türkei hatte die US-Regierung von Donald Trump 2019 ausgesetzt, nachdem der Nato-Partner ausgerechnet von Russland S-400-Boden-Luft-Raketensysteme gekauft hatte. Als „Ersatz“ wollte die Türkei gern 40 neue F-16 Viper sowie 80 Nachrüst-Kits zur Modernisierung der bereits bestehenden F-16-Flotte.
Ich habe mit Erdogan gesprochen und ihm gratuliert. Und er will immer noch an einer Lösung für die F-16 arbeiten. Ich habe ihm gesagt, dass wir ein Abkommen mit Schweden wollen. Also lasst uns das hinbekommen.
Joe Biden,: US-Präsident
Hier kündigt sich Bewegung an: Bereits im April hatten die Vorsitzenden der US-Kongressausschüsse grünes Licht für eine Erneuerung der bestehenden türkischen F-16-Jets gegeben. Präsident Joe Biden kündigte an, die Modernisierung der türkischen F-16 zu billigen – „ohne Bedingung“, wie die Sprecherin des Weißen Hauses, Karine Jean-Pierre, am Dienstag betonte.
Dazu passt nicht ganz, was Biden am Montagabend nach Erdogans Wiederwahl sagte: „Ich habe mit Erdogan gesprochen und ihm gratuliert. Und er will immer noch an einer Lösung für die F-16 arbeiten. Ich habe ihm gesagt, dass wir ein Abkommen mit Schweden wollen. Also lasst uns das hinbekommen.“
Erdogans Unberechenbarkeit
In Nato-Kreisen wird dennoch für möglich gehalten, dass der 11. Juli verstreicht – und es zu keiner Aufnahme Schwedens ins Bündnis gekommen ist. Als erster Grund wird Erdogans Unberechenbarkeit genannt. Als zweiter Grund die nach wie vor ungeklärte Position Ungarns.
Über die Gründe, warum Ungarn bislang Schwedens Nato-Beitritt blockiert, kann nur spekuliert werden. Während Ministerpräsident Viktor Orbán und die Regierung angeblich „voll und ganz“ für den schwedischen Beitritt seien, soll es Unmut aus den Reihen der Abgeordneten des Koalitionspartners KDNP gegeben haben: „Leider gab es in den letzten Jahren viele negative und beleidigende Äußerungen von schwedischer Seite, ich habe ein ganzes Bündel davon“, hatte der Staatssekretär für auswärtige Angelegenheiten, Péter Sztáray, begründet.
Türkei könnte nur Finnland den Beitritt in die Nato erlauben
Die Türkei fordert von Schweden, dass das Land Personen ausliefern soll, die von Ankara als Terroristen angesehen werden.
© Quelle: Reuters
Beobachter, auch ungarische Oppositionspolitiker, spekulieren, das Ganze sei nur ein Ablenkungsmanöver. In Wirklichkeit hätte sich die Orbán-Regierung mit der ebenfalls autokratischen Türkei abgestimmt, um in dieser Frage ein Maximum an politischen Zugeständnissen herauszuholen.
Wir haben ‚den Süden‘ längst in den eigenen Bündnissen – in der Gestalt von Ländern wie der Türkei oder Ungarn.
Markus Kaim,: Stiftung Wissenschaft und Politik
Für den Politologen Markus Kaim ist das „Ausdruck einer neuen, multipolaren Weltordnung. Wir haben stets in Richtung Süden geschaut, auf Länder wie Brasilien, Indien, Südafrika, Saudi-Arabien. Doch wir haben ‚den Süden‘ längst in den eigenen Bündnissen – in der Gestalt von Ländern wie der Türkei oder Ungarn, die ihre Zweifel an einer Verankerung im westlichen Bündnis nicht verstecken und keine Skrupel haben, mit Staaten wie Russland oder dem Iran zu kooperieren. Das wird in Zukunft noch zunehmen.“
Nato - im 75. Jahr ihres Bestehens attraktiv wie nie zuvor
Scheitern alle Versuche, bis Mitte Juli eine Einigung zu finden, weil die beiden Blockierer mit ihren Forderungen ihr Blatt überreizt haben, drohen ein Riss im Bündnis und die weitere Isolation der beiden autokratisch regierten Staaten, die beide mit großen wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen haben und auf die Hilfe der Staatengemeinschaft angewiesen sind.
Der Nato, noch vor Jahren vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron für „hirntot“ erklärt, mangelt es an Zuspruch nicht. Mit dem Beitritt Finnlands, dem Beitrittsersuchen Schwedens und der Ukraine sowie der Eröffnung des ersten Nato-Verbindungsbüros in Asien (Japan) ist die Allianz im 75. Jahr ihrer Gründung so attraktiv wie selten zuvor.
Mit dpa und AP