Nach Christchurch-Anschlag: Wie Neuseeland den Hass besiegt

„Lasst uns zusammenkommen, mit Liebe und in Frieden“: Premierministerin Jacinda Ardern bei einer Gedenkveranstaltung für die Opfer des antiislamischen Anschlags von Christchurch.

„Lasst uns zusammenkommen, mit Liebe und in Frieden“: Premierministerin Jacinda Ardern bei einer Gedenkveranstaltung für die Opfer des antiislamischen Anschlags von Christchurch.

Hannover. So jemanden hätten wir in den USA auch gern als Regierungschef, schrieb dieser Tage die „New York Times“. Beobachter rund um den Globus sind noch nicht fertig mit ihren immer neuen, immer detailreicheren Würdigungen von Jacinda Ardern, der Ministerpräsidentin Neuseelands. „Mit einer Kraft, wie ich das noch bei keinem Regierungschef weltweit gesehen habe“, sagt Christiane Amanpour, Reporterin des Senders CNN, setze Ardern Liebe gegen den Hass.

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Die Amerikaner beeindruckt besonders, dass die 38-jährige Regierungschefin nur 72 Stunden brauchte, um nach dem Anschlag von Christchurch eine Verschärfung der Waffengesetze durchzusetzen. Vor allem aber, das war noch wichtiger, durchkreuzte Ardern den Plan des Attentäters, Hass zu säen und eine Spirale der Gewalt in Gang zu setzen.

Lodernde Konflikte entlang religiöser Trennlinien: Das wäre der Anfang vom Ende Neuseelands, einer Nation, deren Kombination aus innerem Frieden und einem reichen Mix an Kulturen ihr größter Schatz ist. In Neuseeland ist der Anteil derer, die erst in jüngster Zeit zugewandert sind, höher als in den USA. Zugleich aber gibt es in Neuseeland weniger Feindseligkeit entlang ethnischer oder religiöser Trennlinien – und auch keinen rechtspopulistischen Regierungschef.

Kein Tränengas, nur Tränen

Dies alles ist kein Zufall. Es hat zu tun mit einer umsichtigen Politik, die seit Jahrzehnten deutlich mehr als in anderen Staaten dieser Erde auf Integration ausgerichtet ist.

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Dem Massenmörder vom 15. März missfiel Neuseeland, ihm passte die gesamte dortige Szenerie nicht: das gut geregelte Nebeneinander sehr unterschiedlicher Menschen, der gegenseitige Respekt, die Freundlichkeit im Umgang. Und so zog der 28-jährige Australier, Anhänger rechtsextremer Verschwörungstheorien, am 15. März seine Waffe und fing an, massenhaft Menschen muslimischen Glaubens kaltblütig beim Beten zu erschießen, einen nach dem anderen, Männer, Frauen und Kinder. Am Ende wurden 50 Tote gezählt.

In jedem Land der Erde hätten nach einem solchen Vorfall Erschütterungen gedroht. Demonstrationen, die vielleicht in Gewalt abgleiten. Innere Unruhen, die vielleicht Ausgangssperren nach sich ziehen. In Neuseeland aber gab es kein Tränengas. Nur Tränen.

Ein neuer Maßstab im Umgang mit Terror

Am Ende wurde gar, die Weltgemeinschaft verfolgte es mit Bewunderung, das Gefühl eines neuen Zusammenrückens spürbar. Land und Leute haben die „entsetzliche Prüfung“, von der Premierministerin Ardern sprach, mehr als nur bestanden. Neuseeland hat einen neuen Maßstab gesetzt im Umgang mit Terror.

Von der ersten Sekunde vermied es die Premierministerin, über Neuseeländer muslimischen Glaubens als eine irgendwie besondere Gruppe zu reden. Eigenhändig schrieb sie in ihre Rede einen aus nur drei Wörtern bestehenden Satz, der ebenso klar ist wie zutiefst bewegend: „They are us.“ Sie sind wir. Jeden Spalter, jeden Anhänger identitärer Bewegungen aller Art, muss ein solcher Satz zur Verzweiflung bringen.

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Ein Verbundensein mit den Moslems behauptete Ardern nicht nur, sie demonstrierte es. Ein schwarzes Tuch ums Haar, berührte sie Hinterbliebene nicht nur durch ihre Worte, sondern auch durch physische Nähe, Stirn an Stirn. Dies wärmte die Herzen von Moslems nicht nur in Neuseeland. „Wir danken Jacinda Ardern für ihr aufrichtiges Mitgefühl“, erklärte etwa Dubais Herrscher Mohammed bin Raschid al-Maktum – und ließ das ikonisch gewordene Kopftuchfoto auf den Burj Khalifa projizieren, den mit 828 Metern höchsten Wolkenkratzer der Erde.

Ein Bild geht um die Welt: Dubai projizierte die Szenen der gemeinsamen Trauer von Jacinda Ardern mit Moslems nachts auf den höchsten Wolkenkratzer der Erde.

Ein Bild geht um die Welt: Dubai projizierte die Szenen der gemeinsamen Trauer von Jacinda Ardern mit Moslems nachts auf den höchsten Wolkenkratzer der Erde.

Ardern wirkte authentisch und war es auch. Sie folgte lediglich guten Traditionen in ihrem Land. Einem Journalisten der BBC, der sich über Arderns plötzliche demonstrative Nähe zu den Moslems wunderte, verriet ein junger Neuseeländer: „Wir Kiwis sind einfach so. Wenn ein Hindu stirbt, trauern wir mit den Hindus, wenn ein Moslem stirbt, trauern wir mit den Moslems.“

Die Premierministerin erschien nicht nur als eine liebevolle, sondern auch als eine durchsetzungsfähige Politikerin. Entschlossen nutzte die Sozialdemokratin beim Thema Waffenrecht die Gunst der Stunde – denn jetzt wagte ihr Koalitionspartner, die rechtspopulistische Partei New Zealand First, keinen Widerspruch mehr.

Ardern, auch darin liegt ein Zeichen ihrer Stärke, legte den Terroranschlag von Christchurch nicht etwa nach ein paar Wochen zu den Akten. Derzeit betont sie die noch immer offenen Fragen. So will sie von den Behörden des eigenen Landes und des Nachbarn Australien wissen, wie ein so gefährlicher Mann unentdeckt bleiben konnte.

Die zersetzende Wirkung von Hetze im Netz

Zugleich will sie klären, wie es sein konnte, dass der Täter anfangs im Internet Livebilder von seinem Massenmord ebenso verbreiten konnte wie ein 74 Seiten langes Thesenpapier, in dem er ausbreitet, warum es notwendig sei, Morde zu begehen. „Es ist nicht akzeptabel“, sagt Ardern, „dass Netzwerke im Internet allen Profit bei sich versammeln und zugleich jede Verantwortung für Inhalte ablehnen.“

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Jahrzehntelang hat das Internet weltoffenen Staaten wie Neuseeland, Kanada und Australien geholfen, trotz großer Entfernungen in enger Verbindung zu bleiben zum Rest der Welt. Inzwischen aber entdecken die liberalen Einwanderungsgesellschaften mit höherer Sensibilität als andere die zersetzende Wirkung menschenfeindlicher Hetze im Netz.

Mehr zum Thema: Warum wir keine Bilder vom Christchurch-Attentäter zeigen

„Moralisch bankrotte Lügner“

Der Terrorist Brenton Tarrant lud ein Manifest hoch, das den Vernichtungsfeldzug gegen „Eindringlinge“ („invaders“) verlangt. Allen Ernstes wird in dem Text auch die Notwendigkeit betont, Kinder umzubringen: „Die Kinder der Eindringlinge bleiben ja nicht Kinder, sie werden erwachsen und schaffen noch mehr Eindringlinge.“ Die Logik des lebensunwerten Lebens, bekannt aus der Nazi-Zeit, kehrt zurück: in modernen Formaten, per Netzwerk, zum bequemen Runterladen.

Soll man den Verantwortlichen von Facebook glauben, wenn sie sagen, dass sie künftig strenger vorgehen werden gegen Inhalte dieser Art? Neuseelands oberster Datenschützer John Edwards ist da pessimistisch. Bei der Führungsriege von Facebook, sagte er diese Woche, handele es sich um „moralisch bankrotte Lügner“. Man dürfe ihnen nicht vertrauen.

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In Australien schuf das Parlament bereits Fakten und verabschiedete im Eilverfahren ein neues Gesetz, das Verantwortlichen von sozialen Netzwerken nicht mehr nur mit Geldstrafen droht. Wer „abscheuliches Material von Gewalttaten“ wie die vom Christchurch-Mörder gesendeten Videos verbreitet, geht in Australien künftig für drei Jahre ins Gefängnis.

Die Freiheit im wirklichen Leben

Mit ungeahnter neuer Wucht werden jetzt am anderen Ende der Welt die Liberalität und die Rechtstreue offener Gesellschaften verteidigt. Entdeckt man jetzt, dass die Freiheit im wirklichen Leben mehr wert ist als die Freiheit im Netz?

Zur Ironie der Geschichte gehört es, dass die Regierenden im Moment einer gefährlichen Krise der Moderne auf die Kultur der Ureinwohner zurückgreifen. Als Jacinda Ardern jüngst bei einer Gedenkveranstaltung vor 20.000 Trauernde trat, trug sie einen Mantel der Maori. Sie begann ihre Rede in der Sprache der Ureinwohner, mit einer einfachen und klaren uralten Botschaft: „Lasst uns zusammenkommen, mit Liebe und in Frieden.“

Von Matthias Koch

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