Missbrauchsgutachten: Keine Pflichtverletzung bei Kardinal Woelki festgestellt
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Kardinal Rainer Maria Woelki, Kölner Erzbischof
© Quelle: Federico Gambarini/do/dpa
Berlin. Ein Gutachten zur Aufarbeitung von Missbrauchsvorwürfen im Erzbistum Köln belastet mehrere Erzbischöfe. Dem heutigen Hamburger Erzbischof Stefan Heße werden elf Pflichtverletzungen vorgeworfen. Der verstorbene Kardinal Joachim Meisner soll in seiner Zeit als Erzbischof von Köln 24-mal gegen Kirchenrecht verstoßen haben. Keine Pflichtverletzung sei dagegen bei Kardinal Rainer Maria Woelki feststellbar gewesen. „Medial wäre es für uns am einfachsten gewesen, Herrn Woelki hier zum Schafott zu führen“, sagte Gercke mit Blick auf die Berichterstattung der vergangenen Wochen. Doch auf Grundlage der Akten habe nichts Belastendes festgestellt werden können.
Die Pflichtverletzungen von Kardinal Meisner beziehen sich nach den Erkenntnissen von Gercke auf 14 in den Akten des Erzbistums dokumentierte Missbrauchsfälle. Meisner soll gegen die Aufklärungs-, Meldungs-, Sanktions-, Verhinderungspflicht und die Pflicht zur Opferfürsorge verstoßen haben.
Auch der amtierende Hamburger Erzbischof Stefan Heße soll in seiner Zeit als Leiter der Abteilung Seelsorge und Personal im Erzbistum Köln siebenmal seine Pflichten verletzt haben, darunter zählten die Gutachter fünf Verstöße gegen die Aufklärungspflicht. Insgesamt stellten die Gutachter 78 Pflichtverletzungen fest, die von acht Personen begangen wurden.
Missbrauch: Woelki entbindet Mitarbeiter von ihren Pflichten
Ein Jahr lang hat der Kölner Kardinal Woelki ein Gutachten zum Umgang mit Missbrauchsvorwürfen zurückgehalten.
© Quelle: dpa
„Erhebliche Mängel“ bei Dokumentation der Fälle
Im Hinblick auf die Dokumentation der Fälle seien insgesamt „erhebliche Mängel“ festgestellt worden, sagte Gercke weiter. Die Kanzlei sollte klären, ob es bei der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen zwischen 1975 und 2018 zu Fehlern gekommen ist. Dabei wurden sich unter anderem folgende Fragen gestellt: Welche Fälle gab es in diesem Zeitraum? Wurden sie unter dem jeweils geltenden Recht adäquat behandelt? Lag bei der Fehlerbehandlung die Absicht zugrunde, die Fälle zu vertuschen?
„Nicht eigenständig bewertet werden konnte, ob die Missbrauchsvorwürfe in den Einzelfällen zutreffend waren“, sagte Gercke. Es sei ein rein juristisches Gutachten, keine kriminologische oder soziologische Untersuchung. Dabei hätten externe Experten geholfen, die das Gutachten aus kirchenrechtlicher Sicht bewertet hätten.
202 Beschuldigte und mindestens 314 Betroffene sexualisierter Gewalt
Gercke wies darauf hin, dass die Kanzlei mit dem Aktenbestand arbeiten musste, den das Erzbistum ihr zur Verfügung gestellt hat. Eine Vollständigkeit aller Unterlagen konnte demnach nicht sichergestellt werden. „236 Aktenvorgänge wurden uns übergeben“, sagte Gercke. Dabei habe es Hinweise auf insgesamt 243 Beschuldigte und 286 Betroffene von Missbrauch gegeben. Nach einer empirischen Untersuchung seien 202 Beschuldigte und mindestens 314 Betroffene sexualisierter Gewalt verblieben.
Davon seien 57 Prozent männlich und 38 Prozent weiblich gewesen. In 5 Prozent der Fälle habe es keine Angaben gegeben. „Mehr als die Hälfte der Betroffenen waren Kinder unter 14 Jahren“, so Gercke weiter. Zu rund der Hälfte handele es sich bei den Fällen klar um sexuellen Missbrauch oder schweren sexuellen Missbrauch. „Zu rund einem Viertel fanden die Fälle im privaten Raum statt“, sagte Gercke. Die meisten Fälle habe es jedoch im Betreuungsrahmen gegeben.
Zudem ergab das Gutachten der Kölner Kanzlei, dass ein Großteil der Taten vor 1975 stattgefunden hat, aber erst nach 2010 angezeigt wurde. Jahrzehntelang habe sich offenbar niemand getraut, einen Verdachtsfall zu melden, mutmaßte Gercke. Das habe sich erst ab 2010 geändert, als die Missbrauchsskandale öffentlich wurden.
Woelki entbindet Mitarbeiter von Dienstpflichten
Wie ist das Erzbistum damit umgegangen? Die Betroffenen und Beschuldigten seien in etwa der Hälfte der Fälle angehört worden, sagte Gercke. „Viele der Beschuldigten waren zum Zeitpunkt der Beschuldigung bereits verstorben.“
Kardinal Woelki entband nach der Veröffentlichung des Gutachtens zwei Mitarbeiter vorläufig von ihren Dienstpflichten. „Daher möchte ich auch aus der Situation der Stunde heraus und auch auf der Grundlage dessen, was ich hier gerade gehört habe, die gerade Genannten, Weihbischof Schwaderlapp und Herrn Offizial Assenmacher, mit sofortiger Wirkung vorläufig von ihren Aufgaben entbinden“, sagte Woelki am Donnerstag in Köln.
„Mit einer gehörigen Portion Skepsis“ blickte die Opferinitiative Eckiger Tisch zuvor auf die Veröffentlichung des Gutachtens. „Wir beklagen, dass wieder die Kirche als Auftraggeber – der Erzbischof, der potenziell selbst kritisch zu prüfen sein wird in seinem Verhalten – diejenigen sind, die dieses Gutachten auf den Weg gebracht haben“, sagte Sprecher Matthias Katsch am Donnerstagmorgen im Deutschlandfunk.
„Außerdem habe ich größte Zweifel, dass man so einen Komplex aufklären kann, nur durch Aktenstudium“, sagte Katsch. Das Verhältnis zwischen katholischer Kirche und den Betroffenen sexuellen Missbrauchs sei ohnehin gestört. „Betroffene vertrauen der jetzigen Bistumsleitung nicht mehr“.
Der Fokus des Gutachtens lag nicht auf den Tathergängen, sondern auf dem Agieren der Bistumsleitung. Kardinal Rainer Maria Woelki hatte den Juristen Gehrke beauftragt. Ein erstes Gutachten veröffentlichte Woelki nicht; er begründete das mit rechtlichen Bedenken.
„Wir werden jetzt in Köln erleben, dass hoffentlich nicht nur Opfer und unmittelbare Täter, sondern auch Strukturen und Verantwortliche benannt werden“, sagte Katsch, der eigenen Angaben zufolge selbst Betroffener sexuellen Missbrauchs an einer Jesuitenschule ist.
Woelki hatte angekündigt, Führungskräfte des Erzbistums von ihren Aufgaben zu entbinden, falls sie in dem neuen Gutachten belastet werden sollten. Erste Konsequenzen sollen bereits am Dienstag (23. März) vorgestellt werden.
RND/cz/dpa/epd