Nach Großbrand: Warum Griechenland die „Moria-Taktik“ fürchtet
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Migrantinnen und Migranten rufen bei einem Protest Parolen und halten ein Schild mit der Aufschrift „EU, save us, please“ (EU, rette uns bitte) in der Nähe der Stadt Mytilene auf der nordöstlichen Seite der Insel Lesbos. Der griechische Migrationsminister Mitarakis hat alle obdachlosen Migranten auf Lesbos dazu aufgerufen, umgehend das neue, provisorische Zeltlager zu beziehen. Heute gingen zahlreiche Migranten erneut auf die Straßen von Lesbos und forderten, dass sie nach Westeuropa gebracht werden.
© Quelle: Petros Giannakouris/AP/dpa
Berlin. Eine „einmalige Notsituation“ sei das, was sich seit dem Brand in Moria auf der griechischen Insel Lesbos abspielt, betont Regierungssprecher Steffen Seibert. Deutschland stehe daher bereit, Hilfe zu leisten und neben den bis zu 150 unbegleiteten Minderjährigen demnächst noch weitere Menschen aufzunehmen. Wie viele Asylsuchende es am Ende genau sein sollen, darüber wird in der Bundesregierung noch verhandelt.
Vor allem Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) steht auf der Bremse. Er erinnert daran, dass man sich doch geeinigt habe, dass sich eine Situation wie im September 2015 „nicht wiederholen darf“. Doch was bedeutet das konkret?
RND-Reporterin auf Lesbos: Angst vor dem zweiten Moria
Nach dem Brand von Moria wollen die Geflüchteten auf Lesbos nicht in das derzeit errichtete Behelfslager einziehen.
© Quelle: RND
Migranten und Flüchtlinge eint Sehnsucht nach gutem Bildungssystem und stabiler Wirtschaft
Zwar ist die Lage auf der Insel anders als damals am Bahnhof Keleti in Budapest, wo Tausende von Migranten und Flüchtlinge auf eine Gelegenheit zur Weiterreise von Ungarn nach Westeuropa oder Skandinavien warteten. Doch es gibt auch Parallelen. Heute wie damals geht es um die Frage, wie diese Menschen untergebracht werden können und wo sie ihren Asylantrag stellen dürfen. Auch als 2015 bei Nacht und Nieselregen die Busse von Budapest losfuhren, um die Menschen nach Österreich zu bringen, von wo die meisten weiterreisten in Richtung Deutschland, war von einer einmaligen Notmaßnahme die Rede. Am Ende kamen Hunderttausende.
Dass die Mehrheit der Migranten und Flüchtlinge, die auf den griechischen Inseln auf eine Möglichkeit zur Weiterreise hoffen, Deutschland als Ziel nennen, liegt teilweise daran, dass Verwandte oder Freunde bereits hier leben. Studien zeigen jedoch, dass dies nur einer von vielen Gründen ist. Ein anderer ist der durch Äußerungen von Politikern und Demonstrationen von Pro-Flüchtlings-Aktivisten entstandene Eindruck, Deutschland sei ein Land, das die Menschenrechte hoch achte und Zuwanderer generell willkommen heiße. Weitere Faktoren sind das deutsche Asylverfahren, die staatliche Wohlfahrt, das Bildungssystem und die wirtschaftliche Lage.
Griechenlands Regierung fürchtet die „Moria-Taktik“
Für viele hilfsbereite Deutsche klingt es paradox, aber Griechenland will die Migranten trotz der schwierigen Situation auf Lesbos nicht zum Festland bringen oder gar gruppenweise nach Deutschland schicken – jedenfalls nicht ohne positiven Asylbescheid. Zuvorderst steht die Befürchtung, es könne sich eine Art „Moria-Taktik“ entwickeln. Auf Samos haben die Behörden bereits Zelte geräumt, die nah an der Ortschaft Vathy liegen – aus Angst, es könnte dort ebenfalls Feuer gelegt werden, das dann auf den Ort übergreift.
Entsprechend hart sind die Ansagen aus Athen, etwa des stellvertretenden Migrationsministers Giorgos Koumoutsakos: „Wer denkt, er könne zum Festland und dann nach Deutschland reisen, der soll es vergessen“, sagte er nach dem Brand in Moria. „Mach es wie in Moria“ dürfe nicht zum Slogan werden, warnt auch der Asylbeauftragte Manos Logothetis.
Athen besteht auf EU-weiter Quote
Griechenland wäre mit der Abnahme mehrerer tausend Migranten auch deshalb nicht geholfen, weil das eigentliche Problem nicht nachhaltig gelöst würde. Athen pocht auf eine EU-Lösung mit einer Quote, nach der andere EU-Staaten Asylberechtigte abnehmen. Und schließlich ist das Land auch an den Flüchtlingspakt zwischen der EU und der Türkei gebunden. Der besagt, dass die Migranten auf den Inseln bleiben müssen, bis über ihr Asylgesuch entschieden ist – erst dann sollen sie bei positivem Bescheid aufs Festland reisen dürfen oder aber in die Türkei zurückgeschickt werden, wenn sie kein Asyl erhalten.
Während die Debatte darüber, in welchem Umfang Deutschland jetzt Menschen aus Lesbos aufnehmen sollte, hierzulande seit Tagen die Schlagzeilen bestimmt, ist das in vielen anderen europäischen Staaten gar kein großes Thema. Das liegt an der Corona-Pandemie, die viele Europäer sehr beschäftigt, aber auch daran, dass man sich schlicht nicht zuständig fühlt.
64 Kommunen und Landkreise bieten Aufnahme von Migranten an
In Deutschland erklären besonders laut die Grünen und die Linkspartei, Deutschland solle sich für zuständig erklären. SPD-Chefin Saskia Esken fordert eine Zusage der Union, mehrere tausend Menschen aufzunehmen. Das geht vielen Politikern von CDU und CSU zu weit.
SPD will mehr Geflüchtete aus Moria aufnehmen
Vizekanzler Olaf Scholz und die SPD-Parteispitze teilten am Montagmorgen mit, dass sie binnen 48 Stunden eine Entscheidung der Regierung erwarten.
© Quelle: Reuters
Mehrere Bundesländer haben zudem angeboten, Migranten aus Griechenland bei sich aufzunehmen. Und insgesamt 64 Kommunen und Landkreise wären nach Auskunft der Stadt Potsdam derzeit ausdrücklich bereit, aus Seenot gerettete Migranten aufzunehmen. Die Bundesregierung hat dies bislang verweigert und strebt stattdessen eine europäische Lösung an. Auch weil ein Teil der Kosten für die Unterbringung, Versorgung und Integration von Asylbewerbern am Ende doch nicht von den Kommunen und Ländern, sondern vom Bund und von den Beitragszahlern der Sozialversicherungen aufgebracht werden muss.
Nach vorläufigen Berechnungen lagen die flüchtlingsbezogenen Belastungen des Bundeshaushalts im vergangenen Jahr erneut bei rund 23 Milliarden Euro. Allerdings kam dieses Geld nicht komplett den Asylsuchenden zugute. Denn die Bundesregierung bezieht in ihre Berechnung auch Verwaltungskosten ein – etwa für die Registrierung der Schutzsuchenden und die Asylverfahren – und Geld, das im Ausland für „Fluchtursachenbekämpfung“ ausgegeben wird.
RND/dpa