Merkel blickt zurück – und wird überraschend privat
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Die Wut einiger Ostdeutscher auf ihre Kanzlerin: Angela Merkel (CDU) beim Wahlkampf in Finsterwalde (Brandenburg).
© Quelle: Ralf Hirschberger/dpa-Zentralbild
Berlin. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat im Interview mit der "Zeit" kritische Worte zum Einigungsprozess Deutschlands und zu ihrer Flüchtlingspolitik seit 2015 gefunden. "Das Land war vielleicht nie so versöhnt, wie man dachte", sagte sie im Gespräch mit der Journalistin Jana Hensel.
„Manche Konflikte sind jetzt erst deutlich geworden, weil die Gesellschaft durch die verschiedenen Veränderungsprozesse unter einem größeren Stress steht.“ Die „große Zahl von Flüchtlingen“ bedeute für das Land und die Menschen „eine große Anstrengung“. Dadurch treten bestehende Konflikte in der Gesellschaft „viel klarer zutage“.
Ungewohnte Offenheit der Kanzlerin
Ungewohnt offen äußert sich Merkel auch zu ihren eigenen Erfahrungen als Ostdeutsche in der vereinigten Bundesrepublik. Ihre Herkunft hat die Kanzlerin in früheren Gesprächen eher zögerlich thematisiert. Auch über ihre Haltung zum Feminismus äußerst sie sich offener als sonst.
In den sozialen Medien wird bereits spekuliert, ob das Gespräch bereits eine Art Vermächtnis der Kanzlerin darstellen soll. Merkel hatte im Dezember 2018 nach 18 Jahren den CDU-Vorsitz abgegeben, will aber bis 2021 Kanzlerin bleiben.
„Es wächst bei vielen Ostdeutschen ein bestimmtes Gefühl, die eigenen Verdienste nicht ausreichend gewürdigt zu sehen“, sagt Merkel. Das sei bei weitem nicht nur auf Anhänger von AfD und Pegida beschränkt, sondern eine Generationenfrage. „Je älter man zum Zeitpunkt des Mauerfalls war, desto ausgeprägter ist das.
Dieses Gefühl haben auch Menschen, die nicht im rechten Spektrum aktiv sind. Sie leben das still." Eine aktuelle Allensbach-Umfrage zeigt, dass Ostdeutsche überproportional mit der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Verfassung hadern.
„Bedürfnis, Bilanz zu ziehen“
Sie selber habe vor 30 Jahren „mit großer Fröhlichkeit“ die neue Umgebung nach dem Ende der SED-Herrschaft und der DDR genutzt. Das sei aber nicht jedem möglich gewesen: „Wer erfahren musste, dass er kaum Chancen erhielt, sich in die neue Gesellschaft hineinzufinden, für den färbt sich die Erinnerung an die Nachwendezeit heute dunkler als bei mir.“
Nun, nach einer Generation, seien die Ostdeutschen „in diesem vereinten Deutschland angekommen und haben dennoch das Bedürfnis, Bilanz zu ziehen“ und Fragen zu stellen. Explizit nennt sie die Privatisierungspolitik der Treuhandanstalt nach 1990.
Viele Westdeutsche aber hätten nach wie vor wenig Interesse an den Erfahrungen der DDR-Bürger, beklagt Merkel, die im uckermärkischen Templin aufwuchs. „Für diejenigen, die sich in die neue Welt nicht so einbringen konnten, ist es nun umso bitterer, zu spüren, dass sich viele für das, was sie in der DDR geleistet haben, oft nicht so interessiert haben.
Merkel ist ein Rollenmodell für die Interviewerin
Die Interviewerin Jana Hensel hat in der „Zeit“ bereits einige Male über Merkel und das gespaltene Verhältnis der Ostdeutschen zu ihr geschrieben. 2017 besuchte sie eine Wahlkampfveranstaltung in Finsterwalde, bei der Merkel beschimpft und ausgepfiffen wurde, und schrieb danach in einem offenen Brief an die Kanzlerin:
"Sie sind für die Menschen im Osten mehr als nur ein Symbol, Sie sind weiter gekommen als jeder andere von uns, der nach dem Mauerfall in die freie Welt aufgebrochen ist. Dafür lieben Sie die Menschen, dafür werden Sie gehasst. Menschen sind so, leider." Vor Merkels Abgang als Parteivorsitzende schrieb Hensel: "Ohne Angela Merkel wäre dieses Land nicht zu meinem geworden, ohne sie hätte ich darin als Frau, als Ostdeutsche keinen Platz gefunden."
Gespalten ist Merkels Sicht auf die Frage, ob die Frauen in der DDR emanzipierter waren als im Westen: „Die Tatsache, dass in der DDR die meisten Frauen arbeiten gingen, gehorchte seitens des Staates keinem wirklich emanzipatorischen Anspruch, produzierte dennoch aber eine gewisse ökonomische Gleichberechtigung und ein ähnliches Selbstbewusstsein beider Geschlechter.“ Dennoch seien die Führungsposten in Politbüro und Staatswirtschaft selbstverständlich Männern vorbehalten gewesen. „Eine wirkliche Gleichberechtigung gab es auch in der DDR nicht“, sagt sie.
„Parität erscheint mir logisch“
Als Feministin möchte sich Merkel immer noch nicht bezeichnen. An Marie Juchacz und Alice Schwarzer reiche sie nicht heran, winkt sie ab. Nüchtern wie immer sagt sie dann einen Satz von gewisser politischer Sprengkraft: "Parität in allen Bereichen erscheint mir einfach logisch." Gerade hat die rot-rote Landesregierung in Brandenburg gegen den Widerstand von CDU und AfD einen Gesetzentwurf eingebracht, der quotierte Kandidatenlisten für künftige Landtagswahlen zur Pflicht macht.
Von Jan Sternberg/RND