Göring-Eckardt: “Frauen werden gerade gezwungen, ihre Arbeitszeit zu reduzieren”
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"Möglicherweise bekommen wir eine Arbeitslosigkeit wie in Ostdeutschland Anfang der neunziger Jahre": Katrin Göring-Eckardt, Fraktionsvorsitzende von Bündnis90/Die Grünen im Bundestag.
© Quelle: Martin Schutt/zb/dpa
Berlin. Frau Göring-Eckardt, rund 10 Millionen Bundesbürger sind in Kurzarbeit: Steht zu befürchten, dass aus Kurzarbeitern bald Arbeitslose werden?
Wir müssen damit rechnen, dass aus einigen Kurzarbeitern Arbeitslose werden. Möglicherweise bekommen wir eine Arbeitslosigkeit wie in Ostdeutschland Anfang der neunziger Jahre. Als Politiker müssen wir dafür sorgen, dass die Zahl der Kurzarbeiter, die in die Arbeitslosigkeit rutschen, so gering wie möglich ausfällt. Die größten Sorgen mache ich mir um die Frauen in Kurzarbeit.
Warum das?
Viele Frauen, die jetzt zu Hause arbeiten, müssen gleichzeitig Kinder betreuen und das Homeschooling begleiten. Sie werden gerade faktisch gezwungen, ihre Arbeitszeit zu reduzieren. Ihnen bleibt oft gar nichts anderes übrig. Da droht ein Rückschritt, den wir als Gesellschaft nicht verkraften können. Bundesfrauenministerin Franziska Giffey sollte jeder Frau im Land einen Brief schreiben und sie über ihre Rechte informieren: Wie funktioniert das mit dem Lohnersatz, wie sieht es mit dem Kündigungsschutz aus, wer kann Notbetreuung in Anspruch nehmen, wo kann ich mich beraten lassen? Damit die Frauen wissen, was sie machen können und nicht meinen, Kündigung sei die einzige Lösung.
Die Ministerin soll in private Entscheidungen von Eltern und Paaren reinregieren?
Beratung bedeutet Hilfe, nicht Reinregieren. Frauen, die jetzt zurückstecken, treffen keine freiwillige Entscheidung. Der massiv reduzierte Schulunterricht, der schon vor den Sommerferien aufgebrauchte Jahresurlaub, die Ungewissheit für die Zeit nach den Sommerferien – das sind keine Bedingungen, die Familien freie Wahl lassen. Und am Ende liegt die größte Last bei den Frauen. Sie müssen unbürokratischer Hilfe bekommen – mit einem Corona-Elterngeld, bei dem Home-Office nicht als Betreuungsoption gewertet wird.
Die Bundesregierung hat das Kurzarbeitergeld aufgestockt. Damit ist die Gefahr, in Armut abzurutschen, nicht gebannt?
Für den Moment ist die Aufstockung des Kurzarbeitergelds richtig. Eine Aufstockung erst nach drei Monaten kommt aber für viele zu spät und für Geringverdienende reichen 80 Prozent nicht aus. Als Soforthilfe müsste auch die Grundsicherung um bis zu 100 Euro aufgestockt werden. Wir dürfen die Ärmsten nicht vergessen: Die Tafeln sind nach wie vor geschlossen. Bedürftige Schüler haben nicht jeden Tag die Chance auf ein kostenloses Mittagessen. Aber mehr Geld allein reicht nicht. Wir brauchen ein Update des Sozialstaats.
Was beinhaltet eine solche Erneuerung des Sozialstaats?
Wir müssen unsere Gesellschaft widerstandsfähig machen. Wir brauchen einen vorsorgenden Sozialstaat, der nicht erst aktiv wird, wenn Menschen bereits in Not sind. Er muss den Menschen helfen, unausweichliche Veränderungen in ihrem Berufsleben selbstbestimmt zu bewältigen. Ganz gleich, ob jemand im Job ist oder diesen gerade verloren hat: Es braucht ein Recht auf Weiterbildung für jeden – und zwar jederzeit. Der verstärkte Einsatz von digitalen Mitteln in der Coronakrise lehrt uns, dass wir lebenslang lernen müssen und können. Ein Wunsch nach Weiterbildung darf nicht mehr am Geld scheitern. Ein Weiterbildungsgeld und ein Weiterbildungs-BAföG könnten hier helfen. Bildungsagenturen sollten bei der Umschulung rasch und unkompliziert beraten und unterstützen.
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Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt spricht mit RND-Hauptstadtkorrespondentin Marina Kormbaki über den Kulturbetrieb in der Corona-Krise.
© Quelle: RND
Die Unternehmen ächzen bereits unter der Last der Corona-Kosten. Nun wollen Sie ihnen zudem die Kosten für eine Weiterbildungsgarantie aufbürden?
Arbeitgeber profitieren von gut ausgebildetem Personal. Sie sollten dazu einen Beitrag leisten – aber nicht nur sie. Lebenslanges Lernen sollte zum selbstverständlichen Recht werden, gerade auch für die, die bislang kaum eine Weiterbildung machen. Das muss greifen, bevor Menschen unter Druck kommen oder arbeitslos werden – so sähe Vorsorge aus.
Sie formulieren ein Schutz- und Sicherheitsversprechen, bei dem der Nationalstaat gefordert ist. Wo bleibt da Europa? Verliert die EU jetzt an Bedeutung?
Im Gegenteil: Die Coronakrise hat uns vor Augen geführt, dass gemeinsames Handeln nötig ist. Auf sich allein gestellt, würde doch kein EU-Land im Wettbewerb mit den USA und China bestehen. Menschen müssen dort, wo sie leben, auf Schutz und Hilfe zählen können. Um dies aber auch gewähren zu können, müssen die EU-Staaten miteinander solidarisch sein. Nur ein großes, EU-weites Investitionsprogramm kann uns aus der Krise führen. Deshalb begrüße ich die von Kanzlerin Merkel und Präsident Macron angekündigte 500-Milliarden-Euro-Initiative. Und ich hoffe, dass Frau Merkel die Union da hinter sich hat.
Warum soll der deutsche Steuerzahler für die Schulden Italiens aufkommen?
Das tut er nicht. Der geplante Wiederaufbaufonds baut weder Altschulden ab noch wird damit der Staatshaushalt Italiens saniert. Es geht darum, dass wir gemeinsam nötige Investitionen finanzieren. Das ist auch völlig richtig, weil auch wir deutschen Steuerzahler auf die EU angewiesen sind. Die Not unserer europäischen Partner führt zu Störungen in den Lieferketten der deutschen Industrie. Mehr noch: Die Länder fallen als Absatzmärkte aus. Das Wiederhochfahren der italienischen Wirtschaft ist im vitalen Interesse unserer Autoindustrie. Wir sind in Europa voneinander abhängig. Zum Glück.
Haben Sie vor, im Sommer innerhalb der EU zu verreisen?
Ja, mit einem Segelschiff in der Ostsee. Da hoffe ich natürlich auf offene europäische Häfen. Wir müssen in Europa zurück zu offenen Grenzen – zuallererst im Interesse getrennter Familien. Für die Wiederaufnahme des Tourismus bleibt das Infektionsgeschehen ausschlaggebend.