Militärexperte: „Hätte sich die Ukraine auf Deutschland verlassen müssen, gäbe es sie jetzt nicht mehr“
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„Was die Munitionsherstellung angeht, hat man den Eindruck, die Regierung habe den Schuss noch nicht gehört“: Militärexperte Sönke Neitzel übte bei „Markus Lanz“ harte Kritik an der Bundesregierung.
© Quelle: ZDF
Berlin. Große Worte entsprechen nicht gleich großen Taten. Was also ließ Olaf Scholz seinem mitreißenden „Zeitenwende“-Appell folgen, den er drei Tage nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine gehalten hatte? Der Militärhistoriker Sönke Neitzel habe sich auf jeden Fall mehr vom Bundeskanzler versprochen, wie er am Dienstagabend bei „Markus Lanz“ verdeutlichte. Besonders hinsichtlich der nur langsam voranschreitenden Waffenlieferungen in die Ukraine ließ Neitzel kaum ein gutes Haar an der Regierung: „Was die Munitionsherstellung angeht, hat man den Eindruck, die Regierung habe den Schuss noch nicht gehört.“
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Auch wenn die Tendenz in die richtige Richtung gehe, befand der 54-Jährige, Deutschland könne mehr tun. Schon im Verwaltungsapparat ginge viel Zeit verloren, denn: „Wir sind auf Frieden eingestellt, und unsere Regierung ist ein Verwaltungssystem.“ Mehr Generäle als im Kalten Krieg stünden einer weniger durchschlagskräftigen Armee gegenüber, so Neitzel. Demnach forderte er: „Da brauchen wir Minister, die sagen: Ich zerschlage das jetzt, ich reformiere und alle mir nach.“ Man müsse „mehr Druck auf den Kessel geben“.
„Ohne westliche Waffen passiert da überhaupt nichts“
Obwohl der Krieg in der Ukraine nun seit acht Monaten mit harten Bandagen gekämpft wird, sieht Neitzel die Gefechte erst am Ende der ersten Phase. Dass die Ukraine von Russland eingenommen werde, bezifferte er bei „Markus Lanz“ mit einer niedrigen Wahrscheinlichkeit. Außerdem attestierte er der ukrainischen Armee eine gute Moral. Trotzdem warf er die Frage auf, ob die ukrainische Armee die nötigen Mittel habe, die Invasoren von ihrem Territorium zu verdrängen. „Jetzt ist die große Frage: Wozu sind die Ukrainer in der Lage?“, formulierte Neitzel die für ihn entscheidende Frage. „Ohne westliche Waffen passiert da überhaupt nichts“, ist er sich sicher.
Der von der Front zugeschaltete CNN-Reporter Frederik Pleitgen urteilte ähnlich: „Die Russen komplett aus diesem Territorium rauszujagen wird sehr schwierig – zumindest mittelfristig.“ Russlands derzeitiges Vorgehen entspräche einer „Vernichtungsschlacht“: „Sie haben versucht, wie eine Dampfwalze reinzukommen.“ Doch die Ukraine wirke dem mit einer Kombination aus westlichen Waffen, großer Kampfmoral und schlauer Kriegsstrategie effektiv entgegen.
Besuch in der Ukraine: Steinmeier flüchtet in Luftschutzbunker
Bei seinem Besuch in der Ukraine hat sich Bundespräsident Steinmeier auch ein Bild von der Lage in der Stadt Korjukiwa, nordöstlich von Kiew gemacht.
© Quelle: Reuters
Im aktuell brutalen Vorgehen von Russlands Militär – „einem klaren Kriegsverbrechen“ – sah Sönke Neitzel derweil keinen Wendepunkt im Krieg, ganz im Gegenteil: „Die gute Nachricht ist: Mit den Methoden hat noch niemand einen Krieg gewonnen.“ Zwar bedeute der Terror schlimme Verluste für die Ukrainer, würde aber den Widerstandswillen der Bevölkerung nur erhöhen, konstatierte Neitzel. Gleiches beobachtete Frederik Pleitgen: „Die Leute sind bereit, das durchzustehen.“ Daran würden auch die gezielten Angriffe auf Infrastrukturen und Ausfälle im Strom- und Heizungsnetz nichts ändern.
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Kriegsreporter wertet Russlands Kauf von iranischen Drohnen als „Zeichen der Verzweiflung“
Abgesehen davon stehe Russland vor einer großen militärischen Herausforderung, skizzierte Sönke Neitzel. Weil bisher der Krieg nicht nach ihren Vorstellungen verlaufen sei, müsste sich das russische Militär nun auf iranische Kamikaze-Drohnen verlassen. „Das ist genauso, als wenn die USA ihre Waffen bei Amazon bestellen“, griff der Experte zu einem drastischen Bild. Aber es gehe für Russland schlichtweg darum, wertvolles Hightechmaterial aufzusparen.
Pleitgen wertete den Kauf der iranischen Drohnen als „Zeichen der Verzweiflung“. Die Russen hätten damit „Angst und Schecken“ verbreiten wollen. Doch nach dem ersten „Schockeffekt“ würde den Ukrainern die frühzeitige Abwehr der Drohnen immer besser gelingen, berichtete der Kriegsreporter.
Eine weitere Eskalation des Krieges mittels Diplomatie zu verhindern, sieht Militärexperte Neitzel dagegen skeptisch. Die Rolle von Deutschland in derlei Bestrebungen sei ohnehin marginal, wie Neitzel ausführte: „Eines muss auch klar sein: Bei Verhandlungen spielt Deutschland sowieso nicht mit.“ Sein hartes Urteil lautete: „Die Deutschen und die Europäer sind sicherheitspolitisch ein Zwerg.“ Und der Professor der Uni Potsdam setzte noch einen drauf: „Hätte sich die Ukraine auf Deutschland verlassen müssen, dann gäbe es sie jetzt nicht mehr.“ Stattdessen hätten sich die USA als großer Unterstützer der Ukraine herausgestellt und seien deshalb auch entscheidend in der Wiederherstellung des Friedens.
RND/Teleschau
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