Mehr als 10.000 neue Gräber

Vernichtungskrieg: Wie Russland in Mariupol den letzten Funken ukrainischer Identität auslöscht

Gräber mit nicht identifizierten Leichen von Menschen, die während schwerer Kämpfe getötet wurden, sind auf dem Friedhof vor Mariupol in der von Russland kontrollierten Region Donezk im Osten der Ukraine zu sehen.

Gräber mit nicht identifizierten Leichen von Menschen, die während schwerer Kämpfe getötet wurden, sind auf dem Friedhof vor Mariupol in der von Russland kontrollierten Region Donezk im Osten der Ukraine zu sehen.

Dnipro. Russische Arbeiter reißen die von Bomben und Granaten in Mariupol zerstörten Gebäude nieder – im Schnitt mindestens eines pro Tag. Trümmer und Leichen werden weggebracht. Militärkonvois fahren lärmend durch die Straßen. Von Moskau entsandte Soldaten, Handwerker, Ärzte und Verwaltungsbeamte nehmen allmählich die Plätze der Ukrainer ein, die getötet wurden oder dem Grauen rechtzeitig entkamen.

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Seit acht Monaten ist die ukrainische Hafenstadt Mariupol in der Hand russischer Truppen. Und die Besatzer arbeiten intensiv daran, alle Spuren der ukrainischen Geschichte Mariupols zu entfernen. Zugleich werden Belege für Kriegsverbrechen vernichtet – etwa für den russischen Luftangriff auf das Theater der Stadt, bei dem Hunderte Menschen ums Leben kamen, die in dem Gebäude Schutz gesucht hatten.

Mariupol soll nach Moskauer Zeit ticken

In den wenigen Schulen, die noch geöffnet sind, gilt ein russischer Lehrplan. Die Mobilfunk- und Fernsehnetzwerke sind unter russischer Kontrolle. Die ukrainische Währung verliert an Bedeutung. Inzwischen wurde Mariupol sogar der Moskauer Zeitzone zugeordnet. Auf den Ruinen der Stadt will Russland ein neues Mariupol errichten.

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Noch dominiert der Abbruch. Aber an manchen Orten wird schon fleißig gebaut. Und nach Informationen der Nachrichtenagentur AP kommt dabei auch Material von mindestens einem westeuropäischen Unternehmen zum Einsatz.

Recherchen der AP zum Leben im besetzten Mariupol bestätigen aber vor allem, was die Bewohner längst wissen: Egal, was Russland mit der Stadt vorhat – es wird wohl für immer eine Stadt des Todes bleiben. Während die ins Exil gegangene ukrainische Stadtverwaltung die Zahl der Opfer der russischen Angriffe zunächst auf mindestens 25.000 geschätzt hatte, könnte die tatsächliche Zahl der Toten sogar dreimal so hoch sein. Mehr als 50.000 Wohnungen dürften zerstört worden sein.

Selenskyj warnt vor russischen Angriffen an Weihnachten
21.12.2022, USA, Washington: Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine,  blickt in Richtung von Nancy Pelosi, der Sprecherin des Repräsentantenhauses, während eines Besuchs im Kapitols in Washington. Foto: Jacquelyn Martin/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Der ukrainische Präsident hat die Menschen aufgefordert, wegen möglicher russischer Attacken über die Feiertage besonders wachsam zu sein.

Kinder bei russischen Angriffen getötet

Alle aktuellen und ehemaligen Bewohner Mariupols, mit denen die AP sprechen konnte, haben in den Wochen der russischen Belagerung, die am 24. Februar begann, Freunde oder Verwandte verloren. Lydya Eraschowa musste mit ansehen, wie ihr fünfjähriger Sohn und ihre siebenjährige Nichte nach russischem Beschuss starben. Die Familie begrub die beiden Kinder hastig in einem Hinterhof und ergriff dann die Flucht.

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Als Eraschowa im Juli nach Mariupol zurückkehrte, um für ein ordentliches Begräbnis der Kinder zu sorgen, erfuhr sie, dass die Leichen bereits wieder ausgegraben und in ein Lagerhaus gebracht worden waren. Als sie sich dem Zentrum näherte, erschien ihr die Stadt von einem Straßenzug zum nächsten immer düsterer. Kein russischer Wiederaufbauplan könne je zurückbringen, was die Stadt verloren habe, sagt die Ukrainerin, die inzwischen in Kanada lebt. „Es ist so lächerlich und dumm. Wie will man eine tote Stadt erneuern, in der an jeder Ecke Menschen getötet wurden?“

Mariupol lag gleich zu Beginn des russischen Angriffskriegs im Fadenkreuz der Invasoren. Die Stadt liegt nur etwa 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Vor allem wegen ihres Hafens am Asowschen Meer ist sie für die Nachschublinien von großer strategischer Bedeutung.

Gnadenlos bombardierten die Russen die Stadt und schnitten sie von der Versorgung ab. Doch die Verteidiger hielten den Angriffen länger stand, als von Vielen erwartet. Als die letzten ukrainischen Kämpfer, die sich zuletzt in einem Stahlwerk verschanzt hatten, im Mai aufgeben mussten, war Mariupol zu einem Symbol des Widerstands geworden.

+++Alle Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine im Liveblog+++

Mehr als 10.000 neue Gräber

Die AP sprach mit 30 Menschen aus Mariupol, von denen 13 bis heute in der Stadt leben. Darüber hinaus wurden Satellitenbilder, in der Stadt entstandene Videos und Dokumente der russischen Besatzer ausgewertet. Den Satellitenaufnahmen zufolge sind in den zurückliegenden acht Monaten auf den Friedhöfen von Mariupol mindestens 10.300 neue Gräber ausgehoben worden – wobei es durchaus möglich ist, das in einzelnen Gräbern mehrere Tote liegen. Außerdem dürften Tausende Leichen noch immer in den Trümmern der Stadt liegen.

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Russland verzeichnet laut Ukraine mehr als hunderttausend tote Soldaten

Die Zahl der Kriegstoten wächst. Russland hat nach Angaben des ukrainischen Generalstabs in seinem Angriffskrieg nun mehr als 100.000 Soldaten zu beklagen.

Nach Angaben von drei Menschen, die seit Juni in Mariupol waren, übersteigt die Gesamtzahl der Opfer die im Mai von der Exil-Verwaltung veröffentliche Schätzung um mindestens das Dreifache. Gestützt wurden die Angaben auf Gespräche mit den Arbeitern, die im Auftrag der russischen Besatzer die Leichenfunde dokumentieren.

Mehr als 300 Gebäude, überwiegend große Wohnblocks mit jeweils mindestens 180 Wohnungen, sind bereits abgerissen worden oder stehen kurz vor einem Abriss. Das ergab eine Auswertung von Hunderten Fotos und Videos aus der Stadt sowie von russischen Dokumenten. Insgesamt werden allein auf diesem Wege also deutlich mehr als 50.000 Wohnungen verschwinden. „Die Leute leben noch immer in Kellern. Wo sie hingehen könnten, ist unklar“, sagt ein örtlicher Aktivist, der gegen Zusicherung von Anonymität mit der AP sprach.

Im Zentrum haben die russischen Besatzer ein Denkmal entfernt, das an die Millionen Opfer der in den 30er Jahren von der Führung der Sowjetunion herbeigeführten Hungersnot Holodomor erinnert hatte. Zwei Wandgemälde, die an die Opfer des russischen Angriffs auf die Ukraine im Jahr 2014 erinnert hatten, wurden übermalt. Am Donnerstag wurde auch das Theater abgerissen, nachdem die Besatzer das Gelände bereits vor Monaten abgeschirmt hatten.

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Parallel sind in Mariupol seit dem Ende der schweren Kämpfe mindestens 14 neue Wohnblocks gebaut worden. Zwei beschädigte Krankenhäuser werden von den russischen Besatzern repariert. Videomaterial, dass der AP vorliegt, enthält Aufnahmen von Reihen von Paletten mit Dämmstoff des dänischen Herstellers Rockwool, das seine Geschäfte in Russland trotz Kritik fortführt. Rockwool-Sprecher Michael Zarin sagte, die Dämmplatten seien ohne „Wissen oder Zustimmung“ des Unternehmens dorthin gelangt.

Russlands Präsident Wladimir Putin (L) und Finnlands Präsident Sauli Niinisto auf dem Saimaa-Dampfschiff auf dem Pihlajavesi-See 2017.

„Wir hängen nicht von den Russen ab“

Die Landstraße  62 ist eine malerische, von Wäldern gesäumte Strecke in Finnlands Seengebiet Saimaa. Die einst abgelegene Gegend am Rand Europas hatte durch russischen Tourismus einen echten Boom erlebt. Wie sieht es dort heute aus?

Vor dem Krieg hatte Mariupol etwa 425.000 Einwohner. Petro Andrjuschtschenko, ein Berater des im Exil lebenden Bürgermeisters, geht davon aus, dass heute nur etwa ein Viertel so viele Menschen in der Stadt leben. Tausende wurden gezwungen, nach Russland zu ziehen, Tausende weitere flohen in andere Teile der Ukraine. In einem russischen „Masterplan“ wird damit gerechnet, dass bis 2030 wieder die ursprüngliche Bevölkerungszahl erreicht sein wird.

Aktuell kämen zu den verbliebenen Bewohnern der Stadt etwa 15 000 russische Soldaten hinzu, sagt Andrjuschtschenko. Mit Polizeipatrouillen würden die Besatzer versuchen, Proteste gegen die fehlende Versorgung mit Wasser, Strom und Wärme zu verhindern.

RND/AP

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