Lungenärzte kritisieren EU-Grenzwerte – BUND nennt Positionspapier „absurd“

Autofahrer gehen auf die Straße. An der Meßstelle Neckartor demonstrieren sie gegen das flächendeckende Fahrverbot für ältere Diesel Fahrzeuge in Stuttgart.

Autofahrer gehen auf die Straße. An der Meßstelle Neckartor demonstrieren sie gegen das flächendeckende Fahrverbot für ältere Diesel Fahrzeuge in Stuttgart.

Berlin. Am vergangenen Samstag waren sie wieder am Stuttgarter Neckartor zusammengekommen. Rund 1000 Demonstranten hatten sich an der Messstelle für Luftverschmutzung versammelt, um gegen Fahrverbote in ihrer Stadt zu protestieren. Seit dem 1. Januar 2019 dürfen Diesel der Abgasnorm 4 und schlechter nicht mehr in die City von Stuttgart. Für Anwohner gibt es eine Übergangsfrist bis zum 1. April.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Viele Autofahrer in der Schwabenmetropole halten das nach wie vor für einen schlechten Scherz. Am besonders belasteten Neckartor wurde Sonntag eine Konzentration von 47 Mikrogramm Feinstaub pro Kubikmeter Luft im Tagesmittel gemessen. Damit lag die Luftbelastung knapp unter dem EU-Grenzwert von 50 Mikrogramm. Im Jahresmittel sind nur 20 Mikrogramm Feinstaub zulässig.

Und ein Ende des nunmehr geltenden Feinstaubalarms in Stuttgart ist nicht absehbar. Meteorologen bezeichnen die derzeitige Wetterlage als „austauscharm“. Auf deutsch: sie bleibt, der geltende Feinstaubalarm damit auch.

Mediziner fordern Überprüfung der Werte

Nun erhalten die wütenden Autofahrer unerwartete Unterstützung. Ausgerechnet renommierte Lungenexperten wie der ehemalige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie (DGP), Dieter Köhler, halten die Gesundheitsgefahr durch Stickstoffdioxid (NO2) für Kokolores und fordern in einem Positionspapier eine Überprüfung der Grenzwerte für Stickstoffdioxid und Feinstaub.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Hauptkritikpunkt des von DGP, dem Verband der pneumologischen Kliniken (VPK) und der Deutsche Lungenstiftung am Mittwoch veröffentlichten Papiers: die meisten Studien zu Gesundheitsgefahren durch Dieselabgase seien methodisch fragwürdig und von Interessengruppen ideologisiert.

Keine Toten durch Feinstaub

Letzten Schätzungen zufolge sterben durch NO2-Belastung jährlich 6.000 bis 13.000 Menschen und durch Feinstaub-Belastung 60.000 bis 80.000 Menschen zusätzlich. Die Autoren argumentieren, dass etwa die gleiche Anzahl an Menschen in Deutschland im Jahr an Zigarettenrauch bedingtem Lungenkrebs und chronisch obstruktiven Lungenerkrankungen (COPD) sterben. „Lungenärzte sehen in ihren Praxen und Kliniken diese Todesfälle an COPD und Lungenkrebs täglich; jedoch Tote durch Feinstaub und NO2, auch bei sorgfältiger Anamnese, nie“, heißt es in dem Papier.

Andere Faktoren hundertfach stärker

Die Ärzte weisen darauf hin, dass die Krankheitshäufigkeit und die Lebenserwartung durch Faktoren wie Rauchen, Alkoholkonsum, körperliche Bewegung, medizinische Betreuung oder , Einnahmezuverlässigkeit von Medikamenten entscheidend mitbestimmt würden. "Alle diese Faktoren wirken meist hundertfach stärker als der Risikoerhöhung durch die Luftverschmutzung in den Kohortenstudien zuzuordnen ist." Die Lungenexperten führen auch unterschiedliche regionale Lebensweisen ins Feld sowie fehlende Vergiftungsmuster.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Raucher müssten nach wenigen Monaten sterben

Als ihr stärkstes Argument nutzen die Mediziner jedoch das Überleben der Raucher, die pro Tag eine Packung Zigaretten konsumieren. Sie würden in weniger als zwei Monaten die Feinstaubdosis einatmen wie sonst ein 80-jähriger Nichtraucher im ganzen Leben. Die Lungenexperten kommen in dem Papier zum Schluss: „Rauchen verkürzt die Lebenserwartung etwa um zehn Jahre, wenn über 40-50 Jahre eine Packung pro Tag geraucht wird. Würde die Luftverschmutzung ein solches Risiko darstellen und entsprechend hohe Todeszahlen generieren, so müssten die meisten Raucher nach wenigen Monaten alle versterben, was offensichtlich nicht der Fall ist.“

Viel Kritik an Initiative der Lungenärzte

Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) bezeichnet die Kritik der Lungenfachärzte hingegen als „politische Effekthascherei“. Die Forderung der Experten, den europaweit geltenden Grenzwert für Stickstoffdioxid auszusetzen, sei unverantwortlich gegenüber der betroffenen Bevölkerung, sagte Hamburgs BUND-Landesgeschäftsführer Manfred Braasch.

Er verwies darauf, dass die Grenzwerte seit 20 Jahren bekannt und vielfach diskutiert sowie geprüft worden seien. „Die Frage ist doch, warum sich die Ärzte erst zu Wort melden, wenn das seit fast zehn Jahren geltende Recht zum Schutz der menschlichen Gesundheit ganz oben auf der politischen Agenda steht und endlich durchgesetzt werden soll.“ Die Forderung nach Aussetzung der Grenzwerte, ohne den wissenschaftlichen Beleg dafür zu erbringen, dass diese für den Gesundheitsschutz nicht erforderlich seien, nannte er „absurd“.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Umweltmediziner mit anderen Ergebnissen

Die Veröffentlichung spiegelt auch den Streit innerhalb der Ärzteschaft. Die DGP-Pneumologen hatten nämlich erst im vergangenen Dezember vor den Gesundheitsrisiken durch NO2 gewarnt. Dabei stützten sie sich auf Studienergebnisse des Münchner Helmholtz-Instituts für Umweltmedizin. Die Experten dort sehen in Stickstoffdioxid auch schon in niedrigen Konzentrationen wie dem derzeit gültigen Grenzwert von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft im Jahresmittel ein hohes Gefährdungspotenzial für die Gesundheit.

ADAC begrüßt Ärzte-Initiative

Der Automobilclub ADAC fordert nun eine Überprüfung der Grenzwerte. „Wenn Bürger von Fahrverboten betroffen sind, müssen sie sich darauf verlassen können, dass die geltenden Grenzwerte wissenschaftlich begründet sind“, sagte Vizepräsident Ulrich Klaus Becker. „Dies muss Gegenstand des Prüfauftrags für die Luftqualitätsrichtlinie sein, der im Arbeitsprogramm 2019 der EU-Kommission enthalten ist“, so Becker.

Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) hält die Initiative der Lungenärzte für einen überfälligen Schritt. „Der wissenschaftliche Ansatz hat das Gewicht, den Ansatz des Verbietens, Einschränkens und Verärgerns zu überwinden“, sagte er. Dies helfe, Sachlichkeit und Fakten in die Diesel-Debatte zu bringen.

Bundestag unterstützt WHO-Werte

Bislang war jedoch kaum erkennbar, dass der Bundestag an der Sinnhaftigkeit der Grenzwerte zweifelt. Erst Mitte Dezember letzten Jahres verabschiedete der Parlamentarischer Beirat für nachhaltige Entwicklung (PBnE) einvernehmlich eine Stellungsnahme zu den Grenzwerten. Darin heißt es: „Der PBnE fordert in diesem Zusammenhang, die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für Grenzwerte zum Schutz der Gesundheit umzusetzen.“

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Der verkehrspolitische Sprecher der Grünen, Stephan Kühn, sagte dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) dazu: „Wir lösen die Luftprobleme in den Städten nicht, indem wir die zusammen mit der Bundesregierung festgelegten EU-Grenzwerte in Frage stellen, sondern nur, indem wir die Abgaswerte schmutziger Diesel-Pkw verbessern. Wenn Verkehrsminister Scheuer beim Thema saubere Mobilität nur halb so viel Engagement zeigen würde wie bei der Kritik an den EU-Grenzwerten, wäre die Luft in unseren Städten schon deutlich besser.“

Grenzwerte in USA viel höher

Die Kritiker um Professor Köhler erwarten von der Bundesregierung, den derzeitigen Grenzwert für Stickstoffdioxid, der auf einer Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation WHO fußt, einer Überprüfung zu unterziehen. US-amerikanische Experten halten deren wissenschaftliche Basis für unzureichend. Darum gelten in den meisten Bundesstaaten Grenzwerte oberhalb von 100 Mikrogramm NO2 pro Kubikmeter als Jahresmittelwert. Damit gäbe es in Deutschland keine Diesel-Fahrverbote.

Von Thoralf Cleven/RND

Mehr aus Politik

 
 
 
 
 
Anzeige
Anzeige

Verwandte Themen

Letzte Meldungen

 
 
 
 
 
 
 
 
 

Spiele entdecken