Die Johnson-Nachfolgerin, die „liefern“ muss
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Liz Truss spricht nach ihrem Sieg bei der Wahl zur Vorsitzenden der Konservativen Partei im Queen Elizabeth Centre.
© Quelle: Frank Augstein/AP/dpa
London. „Wir sind gerade den schlimmsten Premierminister losgeworden. Und jetzt geht es genauso weiter“, sagt Peter, ein Demonstrant vor dem Queen Elizabeth Centre, unweit vom britischen Parlament. Er muss laut reden, um die dröhnende Rockmusik zu übertönen. In den Händen hält er ein Schild: „Johnson hat Party gemacht, während Menschen starben.“ Eine Frau verkündet: „Ich vertraue Liz nicht“, als Anspielung auf Liz Truss’ Wahlslogan „In Liz we Truss“, „Wir vertrauen Liz“.
„Vertrauen wir Liz Truss?“ Diese Frage schienen sich am Montag auch Hunderte konservative Parteimitglieder und Abgeordnete zu stellen, als sie um die Mittagszeit der Verkündung des Ergebnisses der Wahl lauschten. Dann wurde Truss im Queen Elizabeth Centre im Herzen Londons tatsächlich zur neuen Parteichefin ernannt. Sie erhielt 81.326 Stimmen der Parteimitglieder, ihr Konkurrent Rishi Sunak nur 60.399.
Andrew Stephenson, jener Abgeordnete, der den Wahlkampf beaufsichtigt und die Veranstaltung im Queen Elizabeth Centre eröffnet hatte, begründete die nüchterne Stimmung gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) damit, dass dem Land schwere Zeiten bevorstünden. Truss jedenfalls versprach, „liefern, liefern, liefern“ zu wollen – sei es im Hinblick auf die explodierenden Energiepreise oder das darniederliegende Gesundheitssystem. Konkrete Ankündigungen machte sie aber nicht. Wieder einmal.
Mit ihrem Sieg, den Truss lächelnd aufnahm, hat sie sich in den letzten Wochen gegen acht offizielle Kandidaten und zuletzt gegen Sunak, den einstigen Finanzminister, durchgesetzt. Am heutigen Dienstag wird sie zur neuen Premierministerin Großbritanniens. Damit ist die 47-Jährige, deren einstige Schulkameraden sich laut Medienberichten angesichts des Aufstieges überrascht die Augen reiben, die dritte Frau in diesem Amt nach Margaret Thatcher und Theresa May, die bis 2019 in der Downing Street Nummer 10 wohnte, bevor Boris Johnson dort einzog.
Nach zwei Monaten Wahlkampf, in denen das Land wie in einer Blase gefangen wirkte, sind die Erwartungen an Truss riesig, endlich konkrete Aussagen darüber zu machen, wie sie Britinnen und Briten angesichts der Krisen, die das Land erwartet, helfen will.
Bei ihrem letzten „Hustings“, wie die Wahlkampfauftritte für Parteimitglieder genannt werden, im Londoner Wembley-Stadion hatte sie vor allem betont, was sie nicht machen will. Auf Nachfrage des konservativen Moderators Nick Ferrari, der ihr freundlich, aber bestimmt auf den Zahn fühlte, schloss die 47-Jährige nicht nur aus, weitere Steuern einzuführen, sie versicherte auch, dass Strom und Gas, anders als womöglich in Frankreich, nicht rationiert und die Übergewinnsteuer für Energieunternehmen nicht ausgeweitet würden.
Bei den geschätzt 180.000 Parteimitgliedern, die im Schnitt deutlich weißer und älter sind als der Durchschnitt der Bevölkerung und in den letzten Wochen über die Nachfolge Boris Johnsons entschieden, kamen überdies Truss’ Versprechungen, Steuern und Sozialabgaben senken zu wollen, gut an. Überzeugt hat sie damit auch die 49-jährige Joe beim „Hustings“ letzte Woche. „Ich denke, wir benötigen Frauen mit Macht. Jemanden, der ist wie Thatcher, der stark ist und für dieses Land geradesteht. Und sie hat schon gezeigt, dass sie das kann.“
Tatsächlich greift Truss durch ihr Versprechen, staatliche Regelungen zurückzunehmen und Steuern zu senken, auf das Image von Thatcher zurück. Die 1990 verstorbene Politikerin hatte den Ruf, „trotz Widerständen und Kritik harte Entscheidungen für das Land“ getroffen zu haben, erklärt William King, Historiker zur politischen Geschichte Großbritanniens am Deutschen Historischen Institut in London (DHI), gegenüber dem RND. Das spreche viele Mitglieder der Konservativen Partei an: „Man erinnert sich an Thatcher als eine Führungspersönlichkeit mit starken Überzeugungen und als ‚eiserne Lady‘. In Zeiten der Unsicherheit würden solche Eigenschaften geschätzt. Er bezeichnet Truss’ Strategie deshalb „als wichtigen Schritt, um sich die Unterstützung durch die Parteimitglieder zu sichern, die in Wirtschaftsfragen oft rechtsgerichteter sind als die Abgeordneten der Konservativen Partei“.
Dass Thatcher eine Ikone für viele Tories ist, wurde auch bei der Wahlveranstaltung im Wembley-Stadion deutlich. Denn hier konnte man für umgerechnet 12 Euro neben blauen Tassen mit dem Aufdruck „Liz for leader“ (Liz soll die Führung übernehmen) und „Rishi“ auch eine mit dem Antlitz der einstigen Premierministerin kaufen. Auf der Tasse, sie sich laut den Wahlhelfern gut verkauft, hebt sie mahnend den Finger nach oben, fast so, als würde sie die politische Richtung vorgeben.
Truss wurde erst spät zur Favoritin
Als Truss’ Umfragewerte im Verlauf des Wahlkampfes stiegen, fühlte sie sich im Rampenlicht dem Anschein nach wohler. Schien sie am Anfang noch unsicher, wirkte sie in London selbstbewusst, vor allem, wenn es darum ging, Fragen von Journalisten und Journalistinnen und aus dem Publikum zu beantworten. „Ich finde, sie hat sich brillant präsentiert“, resümierte die 20-jährige Amy gegenüber dieser Zeitung und lobte Truss’ Führungsqualitäten. „Sicher, sie hat sich nicht ganz so gut präsentiert wie Rishi“, räumte Amy ein, aber darauf komme es ja nicht an.
Liz Truss wird neue Premierministerin von Großbritannien
Die Nachfolgerin des zurückgetretenen britischen Premierministers Boris Johnson heißt Liz Truss.
© Quelle: Reuters
Tatsächlich galt Truss’ Sieg vor einigen Wochen nicht als ausgemacht. Denn zunächst galt der frühere Finanzminister Rishi Sunak als Favorit im Rennen um das Amt des Premierministers. Dieser überzeugte vor allem die konservativen Abgeordneten damit, dass er die Steuern erst später senken wollte, um die Inflation nicht noch weiter in die Höhe zu treiben. Der Ansatz stand Truss’ Ideen entgegen, doch viele hätten ihn laut Experten eigentlich bevorzugt. „Es wird eine große Herausforderung für die neue Premierministerin sein, hier einen Kompromiss zu finden. Denn anders als beim Brexit ist die Partei in wirtschaftlichen Fragen tief gespalten“, erklärte Anand Menon von der Denkfabrik UK in a Changing Europe gegenüber dem RND.
Viele Tories zweifeln an Truss auch deshalb, weil sie sich lange Zeit eher unbeholfen präsentiert hat. Während des Wahlkampfes kursierte in den sozialen Medien erneut ein Video von einer Rede während des Tory-Parteitages im Jahr 2014, das an andere Zeiten erinnert. Als Umwelt- und Landwirtschaftsministerin prahlte sie damit, im Vereinigten Königreich „Weizen wettbewerbsfähiger anzubauen als in der kanadischen Prärie“ und dass Yorkshire-Tee nach China verkauft werde. Nach jeder Aussage grinste sie künstlich und wartete auf Applaus. Viele Briten lachten damals darüber und tun es noch heute. Auch in anderen Situationen wirkte sie steif und ihre Sprache hölzern. Doch Truss ließ sich von der Kritik nicht unterkriegen. Sie holte sich Hilfe, um ihre Wirkung zu verbessern, und arbeitete an ihrem Image. So gewappnet und weil sie sich dem rechten Spektrum der Partei andiente, bekam ihre Karriere unter Johnson neuen Schwung. Er machte sie erst zur Ministerin für internationalen Handel und dann zur Außenministerin. Neben Unsicherheiten warf sie außerdem auch politische Überzeugungen über Bord. Einst für den Verbleib in der EU, ist sie heute eine überzeugte Brexiteerin.
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Hauptstadt-Radar
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Heute wird Truss durch die Queen auf Schloss Balmoral in Schottland die Erlaubnis erteilt bekommen, eine Regierung zu bilden. Danach nimmt sie noch im Flugzeug ihre Arbeit als Premierministerin auf, um schließlich am Nachmittag eine Rede vor Downing Street Nummer 10 zu halten. Die mediale Aufmerksamkeit wird wieder riesig sein. Ablesen ließ sich dies unter anderem an den vielen Namensstickern, die Journalisten und Journalistinnen aus aller Welt vergangene Woche auf einem Podium für Medienvertreter in der Downing Street klebten, um sich dort einen Platz zu reservieren. Wird Truss endlich sagen, was sie plant? Am Sonntag versuchte ihr die BBC-Moderatorin Laura Kuenssberg zu entlocken, was sie vorhat, um diesmal nicht den Parteimitgliedern, sondern den Menschen im Land zu helfen. Truss wich aus, sagte dann aber zu, innerhalb einer Woche anzukündigen, was sie anstrebt, „um dieses Land vor dem Winter auf den richtigen Weg zu bringen“.
Ab heute prallen Truss’ Versprechungen und ihr zur Schau getragener Optimismus auf die Realität. Und die hat es in sich. Schließlich verzeichnet das Land mit einem Preisanstieg von über 10 Prozent seit dem vergangenen Jahr die höchste Inflation unter den G7-Staaten, der staatlich festgelegte Preisdeckel für Gas und andere Energien liegt ab Oktober für private Haushalte bei umgerechnet rund 4100 Euro, Tendenz steigend. Jeder vierte Brite hat deshalb laut Umfragen angekündigt, im Winter die Heizungen nicht mehr anstellen zu wollen, um Geld zu sparen. Den Tafeln gehen jetzt schon die Lebensmittel aus, und Hilfsorganisationen fürchten, dass die Krise kommenden Winter Menschenleben kosten wird. Heute wird Truss Premierministerin und muss wirklich „liefern, liefern, liefern“. Ansonsten droht ihr neben der Skepsis der Abgeordneten auch die geballte Wut der Bürger.
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