Wie Erdogan im Alleingang die türkische Wirtschaft ruiniert

Eine Frau tauscht in einer Wechselstube türkische Lira gegen US-Dollar. Die türkische Notenbank hat den Leitzins trotz hoher Inflation und anhaltendem Druck auf die Landeswährung Lira erneut gesenkt.

Eine Frau tauscht in einer Wechselstube türkische Lira gegen US-Dollar. Die türkische Notenbank hat den Leitzins trotz hoher Inflation und anhaltendem Druck auf die Landeswährung Lira erneut gesenkt.

Athen. So steil wie jetzt ist die türkische Währung selten abgestürzt: Mehr als 8 Prozent gewann der Dollar am Freitag zeitweilig zur Lira. Bereits am Donnerstag hatte die Lira 5,7 Prozent eingebüßt, nachdem die Zentralbank in Ankara eine neue Zinssenkung bekannt gab.

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Die Währungshüter nahmen den Leitzins von 15 auf 14 Prozent zurück. Er liegt damit nun weit unter der Inflationsrate, die offiziell auf 21,3 Prozent beziffert wird. In den vergangenen vier Wochen hat die Lira fast 40 Prozent ihres Außenwerts eingebüßt. Auch die Aktienkurse am Bosporus stürzten ab: Der Istanbuler Börsenindex brach am Freitag zeitweilig um 9 Prozent ein.

Erdogan verdoppelt den Mindestlohn

Vor den Wechselstuben, die zum türkischen Straßenbild gehören wie anderswo Kioske, bildeten sich lange Schlangen. Die Menschen versuchten, schwindsüchtige Lira möglichst schnell in Devisen zu tauschen.

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Ein Verkäufer von gerösteten Maronen spricht mit Kunden in Istanbul. Die türkische Notenbank hat den Leitzins trotz hoher Inflation und anhaltendem Druck auf die Landeswährung Lira erneut gesenkt.

Ein Verkäufer von gerösteten Maronen spricht mit Kunden in Istanbul. Die türkische Notenbank hat den Leitzins trotz hoher Inflation und anhaltendem Druck auf die Landeswährung Lira erneut gesenkt.

Während der Dollar- und Eurokurs auf den elektronischen Anzeigetafeln fast im Minutentakt stieg, verkündete Präsident Recep Tayyip Erdogan im Fernsehen eine Verdoppelung des Mindestlohns, mit dem 40 Prozent aller Arbeiter in der Türkei auskommen müssen. Er steigt ab Januar von 2826 auf 4250 Lira. „Damit zeigen wir die Entschlossenheit, unsere Arbeiter davor zu bewahren, von Preissteigerungen erdrückt zu werden“, sagte Erdogan.

Es handele sich um die „größte Lohnerhöhung seit 50 Jahren“, stellte der Staatschef stolz fest, als sei das eine Errungenschaft. Der alte Mindestlohn entsprach Anfang dieses Jahres 380 Dollar. Für den neuen Mindestlohn bekommt man aktuell nur noch 250 Dollar. Das zeigt: Die Erhöhung wird schnell verpuffen. Sie gleicht nicht einmal die Inflation dieses Jahres aus. Diese beträgt offiziell 21,3 Prozent, lag aber nach Berechnungen unabhängiger Ökonomen im November bei 58,7 Prozent.

Hamsterkäufe sollen verhindert werden

Manche Lebensmittelpreise haben sich sogar mehr als verdoppelt. Speiseöl wurde 137 Prozent teurer. Lebensmittelhändler geben es in kleinen Bechern ab, weil sich viele Kunden keine Literflasche mehr leisten können. Die Teuerung treibt immer mehr Menschen in die Armut.

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In Istanbul werden die Warteschlangen vor den Kiosken, an denen die Stadtverwaltung das subventionierte „Halk Ekmek“, das Volksbrot verkauft, länger und länger. Ein Laib Weißbrot kostet hier 1,25 Lira. Die städtische Großbäckerei IHE hat die Tagesproduktion von 890.000 auf 1,5 Millionen Brote heraufgefahren. In den privaten Bäckereien zahlt man 2,50 Lira.

Aber auch dieser staatlich festgesetzte Preis deckt die ständig steigenden Herstellungskosten nicht mehr. Viele Supermärkte geben Grundnahrungsmittel wie Zucker, Milch und Mehl nur noch in kleinen Mengen ab, um Hamsterkäufe zu verhindern.

Entgegen der vorherrschenden geldpolitischen Lehre

„Die Inflation bricht uns das Genick“, klagt der türkische Gewerkschaftsbund. Staatschef Erdogan hält derweil stur an seiner Überzeugung fest, dass man die Inflation am besten mit niedrigen Zinsen bekämpft – das genaue Gegenteil der weltweit vorherrschenden geldpolitischen Lehre. Erdogan verwechsele Ursache und Wirkung, spottet die rechtsgerichtete Oppositionspolitikerin Meral Aksener – als höre es auf zu regnen, weil man den Regenschirm zumacht.

Lira-Krise in der Türkei: Erdogan tauscht Finanzminister aus
 Turkey s President Recep Tayyip Erdogan, makes statements after chairing cabinet meeting in Ankara, Turkey on December 14, 2020.  Copyright: DepoxPhotos 16958835

Um der türkischen Wirtschaft zu helfen, greift der türkische Präsident Erdogan zu drastischen Mitteln: Sein Finanzminister muss seinen Posten räumen.

Drei Zentralbankchefs hat Erdogan in den vergangenen zwei Jahren bereits gefeuert, weil sie sich ihm und seiner Geldpolitik widersetzten. Der jetzige Notenbankchef ist ihm treu ergeben, wie die Zinssenkung am Donnerstag zeigte.

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Wie die steigenden Preise zustande kommen

Dass die Lira nun immer weiter abstürzt, scheint Erdogan nicht zu kümmern. „Exporte, Exporte, Exporte“ lautet sein Mantra. Tatsächlich profitieren die Exporteure von der Lira-Schwäche. Sie verbilligt Ausfuhren. Erdogan scheint aber zu vergessen, dass die türkische Industrie für ihre Produktion in hohem Maß auf Importe angewiesen ist. Und die verteuern sich durch die Lira-Abwertung ständig. Das Ergebnis sind steigende Preise.

Die Erhöhung des Mindestlohns beschert nun den Unternehmen zusätzliche Kosten, die sie an die Verbraucher weitergeben werden. Analysten erwarten, dass die offizielle Inflationsrate schon bald über die 30-Prozent-Marke springen wird.

Ali Babacan, ein früherer Außen- und Wirtschaftsminister, der sich 2019 von Erdogan lossagte und eine eigene Partei gründete, sieht die Türkei „mitten in der schlimmsten Krise unserer jüngeren Geschichte“. Auf Twitter warnte Babacan: „Wir gehen unter!“ Aber Erdogan scheint den Bezug zur Realität zu verlieren. Er fabuliert, dass die Menschen in Frankreich und Deutschland Not leiden. „Sie finden keine Lebensmittel mehr“, erzählte er kürzlich. „Gott sei Dank gibt es so etwas bei uns nicht.“

Die Bevölkerung vertraut Erdogan nicht mehr

Die Opposition spürt Rückenwind. Erdogans AKP liegt in einer Umfrage von Anfang Dezember erstmals seit 18 Jahren mit nur noch 24 Prozent Stimmenanteil hinter der größten Oppositionspartei CHP, die auf 26,4 Prozent kommt. Auch Erdogans persönliches Ansehen hat schwer gelitten: 84 Prozent geben ihm die Schuld an der Wirtschaftskrise. 72 Prozent glauben nicht, dass die gegenwärtige Regierung die Krise lösen kann.

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Recep Tayyip Erdogan (l.), hier zu Besuch in Algerien.

Recep Tayyip Erdogan (l.), hier zu Besuch in Algerien.

Die Oppositionsparteien fordern Erdogan auf, die regulär 2023 fälligen Parlaments- und Präsidentenwahlen vorzuziehen. Der Staatschef gibt Durchhalteparolen aus: Die Teuerung werde „bald“ zurückgehen. Erdogan verspricht „nachhaltigen Wohlstand und Stabilität“. Dafür lohne es, „einen Preis zu zahlen“, erklärte der Staatschef.

Warnung vor einem Bank Run

Wie hoch dieser Preis ist, vermag noch niemand zu sagen. Setzt sich der Lira-Verfall fort, könnte die Regierung gezwungen sein, Kapitalkontrollen einzuführen. Finanzexperten warnen bereits vor der Gefahr eines Bank Run, eines Ansturms der Sparer auf die Geldinstitute.

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Izzet Özgenc, ein Erdogan nahestehender Rechtsprofessor und Mitglied der türkischen Akademie der Wissenschaften, spekulierte diese Woche bereits öffentlich darüber, Erdogan könnte angesichts der Wirtschaftskrise den Notstand ausrufen und mit Dekreten regieren. Die Oppositionspolitikerin Meral Aksener warnt, dann drohe dem Land der Staatsbankrott.

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