Endstation Autobus: Bosniens Flüchtlingskatastrophe im eisigen Winter
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In diesen Bussen harren die Flüchtlinge und Migranten nahe der kroatischen Grenze in Bosnien aus. Während es draußen nass und kalt ist, bleibt unklar, wo es für sie hingeht.
© Quelle: Kemal Softic/AP/dpa
Bihac. Von Weitem glitzert es verheißungsvoll, fast noch weihnachtlich in der Landschaft. Doch wer sich der Lichterkette auf dem Feld nähert, blickt ins Elend der wohl größten Flüchtlingskatastrophe, die sich derzeit in Europa abspielt.
Die Männer sitzen dicht gedrängt in den Reisebussen, Reihe für Reihe ist besetzt. Hinter den angelaufenen Glasscheiben im schweren Regen sind schwarze Haarschöpfe und fragende Augen zu sehen. Die 900 jungen Männer sind bereits seit vielen Stunden in den 20 Bussen eingesperrt. Sie wissen nicht, wohin die Reise gehen wird, nicht, ob sie irgendwann in eine Herberge kommen oder wieder in die Winterkälte hinausgeschickt werden. Aber auch die Polizisten, die hier die Busse bewachen, haben keine Ahnung, was passieren wird. Niemand hier in Bosnien-Herzegowina hat einen Plan für die Zukunft der Migranten, die im Niemandsland in der Nähe des aufgelassenen und abgebrannten Lagers Lipa in Westbosnien feststecken.
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Flüchtlinge, in Bosnien gestrandet.
© Quelle: Stephan von der Decken
Die Regierung ist mit den Flüchtlingen in eine Krise geschlittert. Der Begriff aussichtslos wird hier zum Bild: Menschen sitzen Stunde um Stunde abfahrbereit im Bus, dürfen aber nicht losfahren, weil sie keiner haben will. Denn bislang hat sich keine Stadt, kein Dorf bereit erklärt, die Afghanen und Pakistaner aufzunehmen, die im schweren bosnischen Winter im Freien nicht überleben können. „Wir wissen von nichts“, sagen die Männer im Bus. „Wir brauchen Brot“, fügen manche hinzu.
Anwohner protestieren gegen Unterbringung in Kaserne
Nach wochenlangen Verhandlungen schien am Dienstag zunächst der politische Durchbruch geschafft. Endlich fand man eine Kaserne in der Nähe der Stadt Konjic, wo man die Migranten hinbringen wollte. Und diese waren froh, dass sie nun nicht im Schlamm und im Regen das neue Jahr beginnen würden.
Die Evakuierung begann plangemäß, doch dann stellten sich die bosnisch-kroatischen Minister des Landes quer, weil das Dorf Bradina, wo die Kaserne für Migranten steht, in einem Bezirk liegt, in dem die bosnisch-kroatische HDZ regiert. Ein paar Bürger versammelten sich zudem vor der Kaserne, als sie Wind davon bekamen, dass die Migranten kommen sollten, und protestierten. Der bosnische Sicherheitsminister Selmo Cikotic konnte sich nicht gegen die Lokalfürsten durchsetzen. Und so blieben die Migranten vorerst weiter in den Bussen eingesperrt.
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Geht es für sie weiter? Zumindest in eine vorübergehende Unterkunft? Für die Flüchtlinge in diesen Bussen bleibt die Frage unbeantwortet – weil sich die bosnische Politik nicht auf eine Antwort verständigen kann.
© Quelle: Stephan von der Decken
Machtspiele gefährden Menschenleben
Sie sind einem Machtspiel ausgeliefert, das Tag für Tag an Absurdität und Ausweglosigkeit gewinnt. Für die Menschen hier, die zu den Leidtragenden dieser Politik werden, ist dies alles undurchschaubar. Schon seit Wochen verweigern bosnische Politiker, zu einer Lösung beizutragen, und gefährden damit Menschenleben.
Die Polizei bewacht die Busse auf dem Feldweg, ab und zu werden die Männer hinausgelassen, etwa, wenn sie in dem nahe gelegenen Feld ihre Notdurft verrichten oder wenn Vertreter der Internationalen Organisation für Migration (IOM) jene Leute versorgt, die schwer krank sind. Viele Migranten haben die letzten Tage im Schnee und im Freien verbracht und sind sichtlich erschöpft. Unklar ist, ob einige auch an Covid-19 erkrankt sind.
Der IOM-Leiter in Bosnien-Herzegowina, Peter Van der Auweraert, ist sichtlich verzweifelt. Er versucht gemeinsam mit der EU-Kommission seit Wochen, eine Lösung zu finden, um die Migranten vor dem Kältetod und Ansteckungen zu schützen.
„Jetzt wird alles noch schwieriger. Denn nun haben alle im Land gesehen, dass man nur dreißig, vierzig Demonstranten braucht, um zu verhindern, dass die Migranten untergebracht werden“, sagt er dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Jedes Dorf kann das nun nachahmen und die Umsiedlung der Migranten verhindern.“ Dabei gäbe es ausreichend leer stehende Kasernen, um den Leuten Schutz zu bieten, moniert er. Doch der umkämpfte Zentralstaat in Bosnien-Herzegowina zeigt sich gerade in der Migrationskrise als viel zu schwach, um sich durchzusetzen.
Zeltlager in Flammen
Die Umsiedlung der Migranten war notwendig geworden, weil vor Weihnachten das Lager Lipa, etwa 25 Kilometer außerhalb von Bihac, geschlossen werden musste, um es winterfest zu machen. Die großen Zelte können einer Schneelast nicht standhalten. Doch die Behörden hatten sich geweigert, die Halle Bira in der Stadt, die jahrelang als Migrationszentrum diente, wieder für die Obdachlosen zu öffnen. Aus Verzweiflung darüber zündeten einige Migranten die Zelte in Lipa an, ähnlich wie im Sommer im griechischen Lager Moria. Manche verblieben dicht gedrängt im letzten übrig gebliebenen Zelt.
Hilfsorganisationen warnen davor, dass die Menschen in der Kälte und im Schnee sogar sterben könnten. Doch viele Bürger von Bihac, die seit Jahren unter dem Zustrom von Flüchtlingen leiden, wollen nicht, dass Migranten in die Stadt und in die Halle Bira zurückkehren. Aber es gibt auch andere, die Herz zeigen.
Vor einem der Abbruchhäuser, gefährliche Betonskelette am Rande der Stadt, in denen Dutzende Pakistaner in Schutt, Nässe und Dreck hausen, steckt eine Frau mit zwei kleinen Kindern den Migranten 20 bosnische Mark zu und legt ihre Hand zum Zeichen auf ihr Herz. Umgerechnet 10 Euro sind in Bosnien viel Geld. „Wir sind Muslime und ihr auch“, sagt die Frau zu Nizra, einem 30-jährigen Mann, der vor wenigen Tagen aus dem Lager Lipa hierhergekommen ist.
Krankheit, Verzweiflung und kein Ausweg
„Ich weiß nicht, wo wir nun hingehen sollen. Es gibt kein Lager für uns, keine Unterkunft“, sagt Nizra. Die Männer, die in den Abbruchhäusern leben, schöpfen Wasser aus dem Fluss Una. Hunderte andere lagern außerhalb der Stadt auf den Feldern. „In der Nacht wird es jetzt schrecklich kalt“, erzählt etwa der 21-jährige Mohammed aus Peschawar. Um zu ihrem Lager zu gelangen, muss man durch Regenpfützen und Gestrüpp durch.
Mohammed und seine Freunde leiden unter juckenden Hautinfektionen. Weil die kroatische Grenzpolizei den jungen Männern vor vier Tagen, als sie versuchten, über die Grenze zu kommen, die Schuhe wegnahm, stehen sie nun mit nackten Füßen in Plastikschlappen im Schlamm. Sie bräuchten vor allem eine Powerbank, um ihr Handy aufzuladen, und Mehl, um sich in dem verrußten Topf Brot zu machen, erzählen sie.
Außer den 900 Männern, die nun in Bussen eingepfercht sind, leben über 1000 weitere Migranten hier im Bezirk Una-Sana im Freien oder in Abbruchhäusern. „Hier können wir nicht überwintern“, räumt der 26-jährige Ali ein, der schon seit 2016 versucht, von Bosnien-Herzegowina aus nach Kroatien und damit in die EU zu gelangen. 50-mal ist er bereits hinauf in die Berge gewandert, wurde aber immer von den Grenzern erwischt. Ali spricht mittlerweile ausgezeichnet Bosnisch. „Wir warten auf den Frühling“, antwortet er auf die Frage, wie es nun weitergehen könnte.
Flüchtlingszahlen sind so hoch wie nie zuvor
Mehr als 80 Millionen Menschen sind nach Angaben der UN-Flüchtlingshilfe derzeit weltweit auf der Flucht. Das seien so viele wie noch nie, teilte der deutsche Partner des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) in Bonn mit. Die Corona-Pandemie habe die Situation verschärft. Seit 2019 sei die Zahl der Flüchtlinge um zehn Millionen Menschen gestiegen. „Corona hat weltweit die Lebensrealität verändert, für viele Menschen auf der Flucht kommt jetzt der Überlebenskampf an erster Stelle“, sagte der Geschäftsführer der UN-Flüchtlingshilfe, Peter Ruhenstroth-Bauer. Neben Nothilfe bräuchten sie Perspektiven für eine bessere Zukunft. Von den für 2020 benötigten 7,4 Milliarden Euro für die Flüchtlingshilfe habe das UNHCR bis Anfang Dezember nur gut die Hälfte erhalten.
2020 seien zu Langzeitkonflikten wie im Jemen oder in Syrien neue Brandherde hinzugekommen, etwa in Äthiopien und der afrikanischen Sahelzone mit Ländern wie Tschad, Mali und Niger. In Europa machten Brände im Lager Moria mehr als 12 .000 Schutzsuchende obdachlos. Im Mittelmeer seien auch in diesem Jahr mehr als 1000 Menschen bei der Flucht gestorben oder gälten als vermisst.