Letztes Aufbäumen: Das waren die Alternativvorschläge zum Erhalt der DDR
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Die intellektuelle Opposition versuchte auch nach dem Mauerfall noch, die DDR zu retten.
© Quelle: imago images/Panthermedia/Christian Ohde/photothek/Montage RND
Irgendwann in den letzten Novembertagen des Jahres 1989 lag dieses Blatt Papier mit der Bitte um Unterschrift auf seinem Schreibtisch. „Für unser Land“ stand da als Überschrift. Im Text waren die Worte „Entweder“ und „Oder“ hervorgehoben.
Es ging um nichts weniger als die Entscheidung für eine weiterhin eigenständige DDR oder die Wiedervereinigung. Entweder eine „solidarische Gesellschaft“ oder der „Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte“. Das Papier endet mit den Worten: „Noch haben wir die Chance, in gleichberechtigter Nachbarschaft zu allen Staaten Europas eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln. Noch können wir uns besinnen auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst ausgegangen sind.“
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Der frühere Oberbürgermeister von Dresden, Wolfgang Berghofer.
© Quelle: dpa
Wolfgang Berghofer, damals SED-Mitglied und Oberbürgermeister von Dresden, weiß bis heute nicht, wie dieser Aufruf zu ihm gelangt ist. Und warum ausgerechnet er, ein Funktionär des untergehenden Staats, als einer der Ersten unterschreiben sollte. „Ich unterschrieb, weil ich den Text gut fand“, sagt der inzwischen 76-Jährige.
Eine Unterschrift für die DDR
Die Mauer war schon länger als zwei Wochen gefallen, als die Schriftstellerin Christa Wolf am 26. November 1989 den letzten Punkt hinter die endgültige Fassung des Aufrufs „Für unser Land“ setzte. Auf den Leipziger Montagsdemos hatten die Rufe nach einem vereinigten Deutschland eingesetzt.
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Die Schriftstellerin Christa Wolf starb 2011 im Alter von 82 Jahren in Berlin.
© Quelle: dapd
Die DDR-Bürger begannen, diejenigen zu überholen, die als Oppositionelle seit Jahren auf innere Reformen im Staat drangen. Der Aufruf war deren letzter Versuch. Ihm stimmten am Ende rund 1,17 Millionen DDR-Bürger mit ihrer Unterschrift zu, unter ihnen der spätere Ministerpräsident Lothar de Maizière (CDU).
Als der lange verfemte Schriftsteller Stefan Heym „Für unser Land“ am 28. November 1989 vor der Presse verlas, standen 31 Erstunterzeichner unter dem Aufruf. Neben SED-Mann Berghofer zum Beispiel die Regisseure Frank Beyer und Konrad Weiß, die Rockmusikerin Tamara Danz, die Theologen Christoph Demke und Friedrich Schorlemmer, der SED-Ökonom Dieter Klein, die Bürgerrechtler Sebastian Pflugbeil und Ulrike Poppe oder die Schauspielerin Jutta Wachowiak. Am selben Tag legte Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) im Bundestag sein Zehn-Punkte-Programm zur Vereinigung Deutschlands und Europas vor.
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Schriftsteller Stefan Heym ist heute Ehrenbürger von Chemnitz.
© Quelle: dapd
Ulrike Poppe war ein paar Tage zuvor schwer genervt gewesen, als ihr Konrad Weiß am Telefon einen Text vorlas, den sie unterschreiben sollte. Sie hatte gerade mit ihren beiden Kindern zu tun. Poppe und Weiß waren damals im Sprecherrat der Bürgerbewegung „Demokratie Jetzt“. Sie erinnert sich: „Ich hatte kaum die Ruhe, um sorgsam darauf zu achten, was ich da unterschreiben soll. Aber ich hatte großes Vertrauen zu Konrad Weiß und dann leichtsinnigerweise meine Zustimmung für die Unterzeichnung gegeben.“
Die meisten Menschen wollten so schnell wie möglich zur Bundesrepublik gehören.
Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe
Ihr war klar, wie sie heute sagt, dass es keine Zeit für Abwägungen gab. „Die meisten Menschen wollten so schnell wie möglich zur Bundesrepublik gehören.“ Eile war geboten. „Junge Leute begannen abzuwandern: weil es praktisch keine staatliche Autorität mehr gab, wegen der katastrophalen wirtschaftlichen Situation und der Befürchtung, Gorbatschow könne abgesetzt werden und Moskau eine andere Haltung zur Einheitsfrage einnehmen.“
Honecker-Kronprinz zerstört den Widerstand
Sebastian Pflugbeil war in jenen Novembertagen in der Berliner Wohnung der von ihm verehrten Christa Wolf. Viele Köpfe beugten sich über einen zweieinhalbseitigen Entwurf von Konrad Weiß, erzählt der 71-Jährige, der zu den Gründern der Bürgerbewegung „Neues Forum“ gehörte. Pflugbeil besitzt noch eine Kopie.
„Der war zu lang und zu kompliziert. Außerdem waren die Ziele der Erstunterzeichner sehr unterschiedlich. Ich fand, dass wir in der DDR in Ruhe klären sollten, was die Mehrheit will“, so Pflugbeil. „Dabei war die Luft aus der emanzipatorischen Bewegung mit dem Mauerfall raus. Wir haben weitergemacht, als wäre nichts geschehen.“ Die Runde einigte sich auf eine von Wolf auf 1800 Zeichen verknappte Version des Aufrufs.
Heute würde ich nicht noch mal unterzeichnen.
Bürgerrechtler Sebastian Pflugbeil
„Heute“, sagt der Physiker, der später als Minister in die letzte SED-geführte Regierung eintrat, „würde ich das nicht noch einmal unterzeichnen. Darin stand ja nicht ein Satz, den Krenz nicht auch unterschreiben konnte.“ Stimmt: Der damalige SED-Chef und Honecker-Kronprinz unterschrieb den Aufruf wenige Tage nach der Veröffentlichung – was vermutlich viele von einer Unterstützung abhielt.
Die Schauspielerin Jutta Wachowiak kocht heute noch, wenn sie daran zurückdenkt. „Der hat alles kaputt gemacht“, sagt die Mimin, die zu den Organisatoren der großen Demonstration am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz gehörte.
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Schauspielerin Jutta Wachowiak hat sich für Veränderung in der DDR eingesetzt.
© Quelle: MDR/filmpool fiction/Stefan Erha
„An dem Text“, findet die 78-Jährige, die abwechselnd in Potsdam und auf Usedom wohnt, „ist auch aus meiner heutigen Sicht nichts auszusetzen. Damals hatte ich allerdings noch nicht kapiert, dass es für Eigenständigkeit zu spät war. Die Menschen hatten einfach die Schnauze voll.“
Und was ist aus denen geworden, die damals so bewegt waren?
Berghofer, der ehemalige Sozialist, ist schon in der Wendezeit vom Glauben abgefallen. Die SED verließ er Ende 1990, bekannte sich zum Betrug bei den Kommunalwahlen 1989 in der DDR und wurde auch vor Gericht dafür verantwortlich gemacht.
Ehemalige Funktionäre verziehen ihm das nie. Einflussreiche westdeutsche Förderer wie der CDU-Politiker und spätere Jenoptik-Chef Lothar Späth hingegen unterstützten Berghofer bei seiner zweiten Karriere als Wirtschaftsberater. Das macht er bis heute. Berghofer ist zufrieden. „Große Teile unseres Vaterlands sind wieder aufgeblüht. Der DDR wäre das nicht gelungen.“
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Ulrike Poppe ist heute Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur.
© Quelle: dpa
Ulrike Poppe indes blieb bürgerbewegt und arbeitete lange als Studienleiterin für Politik und Zeitgeschichte an der Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg. Von 2009 bis zu ihrem Ruhestand 2017 arbeitete sie als Beauftragte des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur. Der Aufruf? „Er war überbewertet und die Unterzeichnung war ein Fehler“, sagt die 66-Jährige. „Darin wurde weder die Position einer zahlenmäßig relevanten Bevölkerungsgruppe vertreten, noch die der DDR-Opposition.“
Ich wünsche mir in Deutschland mehr Offenheit und Respekt für andere Positionen.
Bürgerrechtler Sebastian Pflugbeil
Sebastian Pflugbeil hat die Politik desillusioniert, sagt er. Bis 1994 saß er noch als Parlamentarier für das Neue Forum im Berliner Abgeordnetenhaus. „Die Politik empfand ich zunehmend als widerlich. Ein paar Leute ziehen die Strippen, der Rest marschiert mit.“ Er engagierte sich parallel für Strahlungsopfer und entwickelte maßgeblich die deutsche Tschernobyl-Hilfe für Kinder mit, seit 1999 ist Pflugbeil Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz.
Der frühere Bürgerrechtler vermisst die Debattenkultur, die es vor 30 Jahren gegeben habe. „Heute plappern alle mehr oder weniger originell eine Mainstream-Meinung nach, aus allem wird eine Haltungsfrage gemacht“, findet Pflugbeil und nennt als Beispiele die Klimadebatte oder die Russlandpolitik. „Wer eine abweichende Meinung vertritt, wird in irgendeine Ecke gestellt. Ich wünsche mir in Deutschland mehr Offenheit und Respekt für andere Positionen.“
Ich galt plötzlich als zwangsweise übernommene Altlast.
Schauspielerin Jutta Wachowiak
Jutta Wachowiak, die in der DDR ein Theater- und Filmstar war, ließ schnell die Finger von der Politik. Künstlerisch fiel sie jedoch in ein tiefes Loch, wie sie bekennt. Das fehlende Schuldbewusstsein der einen, die Siegermentalität der anderen lähmten ihre Arbeit am Deutschen Theater, an dem sie seit 1970 gearbeitet hatte. „Ich galt plötzlich als zwangsweise übernommene Altlast.“
30 Jahre Mauerfall: „Das ist unser Traum von Deutschland“
In diesem Jahr jähren sich die friedliche Revolution in der DDR und der Mauerfall zum 30. Mal. Am 9. November 1989 wurde Berlin wieder eins.
© Quelle: RND
Wachowiak ging – in den Westen. In Essen und Bochum feierte die Berlinerin ab 2005 ein Comeback. „Ich habe mich neu erfunden.“ Ausgerechnet im Deutschen Theater, in dem sie seit 2012 wieder auf der Bühne steht, führt sie derzeit „Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park“ auf. Ein in Teilen autobiografisches Solostück über die Wärterin eines Sauriergeheges, dessen Fenster geöffnet wurden – und dessen Insassen die Freiheit nicht genießen konnten. Wachowiak ist beides: Wärterin und vom Aussterben bedrohter Dino.