Krisen und Kartoffelsuppe: Das Ende der Ära Merkel
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Die stille Lotsin des Supertankers Germany: Die zur Raute geformten Hände von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) beim Bürgerfest im Garten von Schloss Bellevue in Berlin im Juli 2015.
© Quelle: Michael Kappeler/dpa
Im Radio nervte „Schnappi, das kleine Krokodil“, gerade waren „wir“ Papst geworden, Youtube war zehn Monate alt und Twitter noch gar nicht erfunden: Das Deutschland, in dem Angela Merkel am 22. November 2005 ihren Amtseid als erste Bundeskanzlerin ablegte, hatte scheinbar nur wenig Ähnlichkeit mit der gereizten, gespaltenen, auch müden Republik von heute. Gerade war in Berlin das Denkmal für die ermordeten Juden Europas eröffnet und in Dresden die neu errichtete Frauenkirche eingeweiht worden. Es gab 17 aktive Atomkraftwerke (heute: sechs), 200.000 neu zugelassene SUV pro Jahr (2019: 1,1 Millionen), null iPhones und null gleichgeschlechtliche Ehen. Das Wort des Jahres hieß „Bundeskanzlerin“. So groß war das Staunen.
Sie wolle „Deutschland dienen“, versprach Merkel, 51 Jahre alt, an diesem Tag. Und wohl niemand, der den Satz damals hörte, wird geahnt haben, dass diese in Hamburg geborene Pfarrerstochter, die in der Uckermark aufwuchs, diese „Pointe der Geschichte“ („Spiegel“), noch 16 Jahre später die Geschicke des Landes lenken würde – mit der ihr eigenen pragmatisch-ruhigen Beharrlichkeit, die sie zur mächtigsten Frau des Planeten und zur politischen Legende wider Willen gemacht hat. Sie war die Kanzlerin einer ganzen Generation. „Am schlimmsten an der Ära Merkel fand ich meine Pubertät“, scherzte jüngst der TV-Autor und Karikaturist Miguel Robitzky (24).
16 Jahre Bundeskanzlerin Merkel: Rückblick auf eine Ära
16 Jahre lang hat Angela Merkel als Bundeskanzlerin die Geschicke Deutschlands gelenkt. Nun verabschiedet sie sich als Kanzlerin.
© Quelle: AFP
Stabile Moderatorin im Chaos und Fels in der Brandung
16 Jahre. Vier Amtszeiten. 50 Minister. 538 Auslandsreisen. 61 Bundestags-, Landtags- und Europawahlen. Rund 70 Nettoredestunden im Bundestag. Die Frau, die in diesen Tagen ihren politischen Abschied nimmt, hat das Land durch seltsame, aufgeregte, auch wirre Zeiten gesteuert. Sie hat sich als große Krisenmanagerin erwiesen, als stabile Moderatorin im Chaos und Fels in der Brandung. Bankenkrise, Finanzkrise, Euro-Krise, Flüchtlingskrise, Dieselskandal, islamistischer Terrorismus, Rechtsruck, Populismus, Fake News, dann die Corona-Krise und über allem die Klimakrise: Merkel war Regentin und Reagiererin, auch politisches Laudanum für die Deutschen, denen Veränderung traditionell als Zumutung erscheint und die, was Visionen angeht, vor allem zwei Dinge wissen wollen: Was kostet das, und was nützt es mir persönlich? Als große Erneuerin freilich wird sie wohl auch dann nicht gelten, wenn sich der beschönigende Schleier der Nostalgie über ihre Kanzlerjahre gelegt hat.
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„Politik ist das, was möglich ist“: Bundeskanzlerin Angela Merkel im April 2010 während eines Besuches in San Francisco.
© Quelle: Bundesregierung/Bergmann/picture-alliance/dpa
Merkels Deutschland war ein selbstzufriedenes, ein langsames Land, das seinen donnernden Ruf genoss, aber die Erneuerung über Jahrzehnte schleifen ließ. Gewiss lässt sich ihr nüchterner Stil auch als politische Behutsamkeit deuten, als Umsicht aus Kalkül. Die Substanz der Nation aber bröckelt seit Jahrzehnten, die Digitalmilliarden fließen in die USA, und Deutschland droht in seiner Behäbigkeit den Anschluss zu verpassen – (Funk-)Loch an Loch und hält doch.
Politik ist für sie „das, was möglich ist“
Merkel selbst hat öffentlich beklagt, „wie sehr sich das Leben von der Substanz auch in der Bundesrepublik eingeschlichen hat“. Das war 2006. 15 Jahre später gilt diese Warnung noch immer. Gewiss: Die Arbeitslosigkeit – 2005 bei knapp 11 Prozent – liegt trotz Corona bei 5,6 Prozent. Die Wirtschaft wuchs so stark wie in keinem anderen G-7-Staat. Die Steuereinnahmen strömten. Der CO₂-Ausstoß sank (vor allem wegen der Abschaltung ostdeutscher Braunkohlekraftwerke). Doch eine wirklich große innere Reform, die ihren Namen trüge – Steuern, Rente, Pflege, Familie –, blieb sie schuldig. Zugleich wuchsen die soziale Ungerechtigkeit, die Mietpreise, das Armutsrisiko im Alter. Die Nach-Boomer-Generation ist die erste nach dem Krieg, der es wirtschaftlich nicht mehr besser geht als ihren Eltern.
Die Finanzkrise 2008, deren Folgen Merkel mit der Abwrackprämie und mehr Kurzarbeit erfolgreich abfederte, zementierte ihren Nimbus als Trümmerfrau Europas, bremste aber auch jeden Reformeifer. Sie selbst definierte Politik als „das, was möglich ist“. Das klingt richtig. Und in seiner Ambitionslosigkeit auch ein bisschen traurig. Merkel stand immer für das Machbare, nicht das Denkbare.
„Sie kennen mich, ich komme zurecht“
Aber genau dieser Stil war es, der ihr hohe Beliebtheitswerte sicherte. Was der Philosoph Jürgen Habermas einst als „tranquilistisches Herumwursteln“ beschimpfte, dieses postideologische Polit-Klein-Klein ohne große Leitgedanken, deckte sich mit den Interessen einer ruhesüchtigen Wählermehrheit. Dem Land stand der Sinn nach dem 11. September 2001, nach Schröders Hartz-IV-Reformen und dem turbulenten Millenniumsbeginn nicht nach Umbruch, sondern nach einem möglichst erschütterungsarmen Konsolidierungsalltag.
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Machtverlust der CDU nach 16 Jahren: Angela Merkel kommt nach der verlorenen Bundestagswahl im September 2021 vor dem Konrad-Adenauer-Haus zur Wahlparty ihrer Partei an.
© Quelle: Michael Kappeler/dpa
Merkels Kartoffelsuppenpragmatismus vermittelte den Deutschen über viele Jahre das Gefühl, das Land sei in guten Händen. Ihr unausgesprochenes Motto „Sie kennen mich, ich komme zurecht“ machte das „Mädchen“ von einst zur „Mutti“ – aber nicht zu einer treibenden, fordernden „Muttivatorin“, sondern eher zu einer zwar gerechten, aber emotional kühlen Schlafsaalaufseherin. Wird schon werden, Kinder. Symbolisch dafür stand der komatöse CDU-Wahlslogan von 2017: „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“.
Merkel war die Kanzlerin der Reaktion, nicht der Aktion
Es ist ein Merkmal von Klugheit, nur in Kämpfe zu ziehen, die man gewinnen kann. Wagnisse ging sie ungern ein. Das unterschied sie immer von politischen Karachokerlen wie Gerhard Schröder, Silvio Berlusconi, Boris Johnson oder dem Politclown Donald Trump. Diese Frau „mit melancholischem Blick in einem zuweilen von Traurigkeit umflorten Gesicht“ (Heiner Geißler) zog international die Feingeister vor, die Obamas, die Macrons. Aber es fehlte das Zupackende, auch das Zuversichtliche. Merkel war die Kanzlerin der Reaktion, nicht der Aktion. Sie tat, was zu tun war, als es passiert war.
Spät, sehr spät kam der „defining moment“ ihrer Kanzlerjahre, der Augenblick, der zeigte, dass es neben Seriosität und einem Gespür für das Mögliche auch tiefe Werte sind, die sie antreiben. Ihr „Wir schaffen das“ im Flüchtlingsjahr 2015 offenbarte ein tiefes, christliches Urverständnis von Humanismus und Solidarität, das ihr in weiten Teilen des demokratischen Westens den Ruf einer Heiligen eintrug. Plötzlich loderte Leben in ihrer Kanzlerschaft. Merkels politisches Tun bekam einen ethischen Überbau, eine zweite Ebene, die auch manchem innenpolitischen Erneuerungsprozess gut getan hätte.
„Bei ihr geriet fast schon das Anticharismatische zum Charisma“
Die Kehrseite der couragierten Willkommenspolitik war das Erstarken der Rechten, die das Schicksal der Geflüchteten politisch nutzten, um Ängste und Misstrauen zu schüren. Als Merkel wieder Abschottungspolitik betrieb, hatte sich die zuvor darniederliegende AfD längst wieder etabliert. Und Europa hatte sie mit seinen antisolidarischen Nationalstaatsreflexen tief enttäuscht.
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„Bei ihr geriet fast schon das Anticharismatische zum Charisma“: Angela Merkel füttert australische Loris im Vogelpark Marlow.
© Quelle: Georg Wendt/dpa
Merkels wichtigstes politisches Erbe ist wohl der Nachweis, dass sich die Physik der Politik auch in zuweilen aufreizender Unaufgeregtheit beherrschen lässt. Oder wie Winfried Kretschmann lobte, der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg: „Bei ihr geriet fast schon das Anticharismatische zum Charisma.“ Doch ein kulturelles Erbe, gar einen gesellschaftlichen Aufbruch repräsentierte sie eben nicht. Anders als Tony Blair, der bis zu seinem Irak-Krieg-Sündenfall für „Cool Britannia“ stand, oder auch Schröder, dessen rot-grüne Regierung die Verkrustungen der Kohljahre absprengte, prägte sie keinen inneren Entwicklungsschub.
Die Sachwalterin der Cappuccino-Jahre der Bundesrepublik
Merkel war nicht das Kraftzentrum, sondern eher die Sachwalterin der Cappuccino-Jahre der Bundesrepublik. Als große Gleichmacherin sozialdemokratisierte sie nicht nur die CDU, sondern stand lange für eine kulturelle Homogenisierung, bei der am Ende selbst siegreiche CDU-Männer tollpatschig Tote-Hosen-Songs sangen, bis keiner mehr wusste, wer eigentlich wofür genau stand.
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Die „ewige Kanzlerin“ und ihr designierter Nachfolger: Bundeskanzlerin Angela Merkel mit einem Blumenstrauß, überreicht von Finanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz am 24. November 2021 bei ihrer letzten Kabinettsitzung im Amt der Bundeskanzlerin.
© Quelle: imago images/Bildgehege
Steht Merkel also eher für verpasste Chancen und politische Verzagtheit? Oder für eine erfolgreiche Verteidigung von Wohlstand und Demokratie in schwieriger Zeit? Die Geschichte fällt ihr Urteil erst in vielen Jahren. Sicher aber ist, dass das Land dringend einen Schub braucht, wie immer nach zu langen Regentschaften. Das alte Deutschland funktioniert nicht mehr. Spätestens Corona hat das schmerzlich offengelegt. Eine Idee aber für die hadernde, zunehmend verzweifelte und um die Zukunft kämpfende Jugend des Landes in der Rentnerrepublik hatte sie nicht.
Die stille Lotsin des Supertankers Germany
Merkel stand nicht für Veränderung, sondern für Bewahrung – und war damit konservativer, als es den Anschein hatte. Aber: „Was man vermisst, merkt man meistens erst, wenn man es nicht hat“, sagte sie auf ihrer letzten Pressekonferenz vor der Sommerpause. Nicht ausgeschlossen, dass das auch für Angela Merkel selbst gelten wird, die stille Lotsin des Supertankers Germany.